Cover-Bild Die Gestalt der Ruinen
26,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Schöffling
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 528
  • Ersterscheinung: 04.09.2018
  • ISBN: 9783895610172
Juan Gabriel Vásquez

Die Gestalt der Ruinen

Roman
Susanne Lange (Übersetzer)

Kolumbien 1948: Der liberale Politiker Jorge Eliécer Gaitán wird in Bogotá auf offener Straße ermordet. Sein Tod stürzt Kolumbien in die tiefste Krise seiner Geschichte. Jahrzehnte später wird ein Mann verhaftet, als er versucht, den Anzug Gaitáns aus einem Museum zu stehlen. Überzeugt von einer Verschwörung und besessen von der Suche nach der Wahrheit hinter der Ermordung Gaitáns bedrängt er auch den Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez. Hängt das Attentat auf Gaitán mit dem auf John F. Kennedy zusammen? Und welche Verbindung gibt es zu den Attentaten auf Erzherzog Ferdinand in Sarajevo und Rafael Uribe Uribe in Kolumbien?
»Die Gestalt der Ruinen« deckt ein komplexes Geflecht von Anhängern und Gegnern der Demokratie auf und fragt nach dem Spielraum der Literatur zwischen Investigation und Skepsis. In seinem schonungslosen Roman verknüpft Juan Gabriel Vásquez die leidenschaftliche Erforschung all dessen, was unsere Freiheit gefährdet, mit klugen autobiografischen Reflexionen: Geschichte und Politik spiegeln sich im eigenen Leben und Schreiben.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 30.09.2018

Die Wurzeln der Gewalt

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In seinem neuen Roman “Die Gestalt der Ruinen“ setzt sich Juan Gabriel Vásquez mit der Geschichte Kolumbiens und der bis heute anhaltenden Instabilität auseinander. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen ...

In seinem neuen Roman “Die Gestalt der Ruinen“ setzt sich Juan Gabriel Vásquez mit der Geschichte Kolumbiens und der bis heute anhaltenden Instabilität auseinander. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen zwei Attentate, die das Land entscheidend geprägt haben: die Ermordung von General Rafael Uribe Uribe im Oktober 1914 durch zwei Handwerker und der Tod des liberalen, oft mit John F. Kennedy verglichenen Politikers Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948, auf den der Bogotazo genannte Volksaufstand und später der blutige Bürgerkrieg “Violencia“ zwischen den Anhängern der liberalen und der konservativen Partei folgten. Die Taten des grausamen Drogenbarons Pablo Escobar und seiner paramilitärischen Einheiten in den 80er Jahren haben den Staat weiter destabilisiert und gespalten und sein Ansehen in der Welt nachhaltig beschädigt (“Narco-Republik“).
Die zentrale Figur des Romans ist der Schriftsteller Vásquez, der zweifach in Erscheinung tritt: als realer Autor und als fiktive Figur, der eine Fülle von autobiografischen Details, z.B. die Jahre im Exil in Barcelona, die zu früh geborenen Zwillingstöchter, seine eigenen Bücher samt literarischen Einflüssen Authentizität verleihen. Die Romanfigur Vásquez wird von dem ihm bekannten Arzt Doktor Benavides mit Carlos Carballo, einem paranoiden Verschwörungstheoretiker, zusammengebracht. Carballo hat sein Leben der Aufklärung des Mordes an Gaitán gewidmet und möchte Vásquez als Autor eines Buches gewinnen, das endlich die offizielle Version des Einzeltäters Joan Rosa Sierra widerlegt und die Wahrheit über eine nie aufgedeckte Verschwörung offenlegt. Für Carlos Carballo hängen die Morde an General Uribe und Gaitán zusammen, folgen sie nach seiner Überzeugung doch demselben Muster von sichtbaren Tätern und verdeckt agierenden Verschwörern. Auch andere Ereignisse und Morde an Prominenten gehören für ihn in dieselbe Kategorie: 9/11, die Ermordung von John F. Kennedy, der Tod von Lady Di usw. sind für ihn ebenfalls anders verlaufen, als die offizielle Version uns glauben machen möchte. Die “wirkliche“ Wahrheit muss erst noch aufgedeckt werden. Nach anfänglicher wütender Ablehnung lässt sich Vásquez immer mehr in die Sache hineinziehen, nicht zuletzt um in Benavides´ Auftrag die aus seinem makabren Privatmuseum gestohlenen Knochenreste von Uribe und Gaitán zurückzuholen, die für alle Beteiligten allmählich den Status von Reliquien annehmen.
Juan Carlos Vásquez liefert zwar eine gründliche Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien und ihren Vertretern, zeigt das undurchdringliche Geflecht von nicht beweisbaren Theorien, Gerüchten und Anekdoten, muss aber letztlich schlüssige Beweise für Verschwörungen schuldig bleiben - genauso wie der Jurist Marco Tulio Anzola, der im Fall Uribe mit seinen Aussagen und Veröffentlichungen u.a. des Buches “Wer sind sie?“ sein Leben in Gefahr brachte und notgedrungen ins Exil ging. Vásquez´ Buch ist eine sogenannte Autofiktion, in der sich autobiografische Bezüge und die fiktionale Handlungsebene vermischen. Es ist außerdem ein historischer Roman, der sich mit einer Fiktion verbindet. So führt der Autor den Leser in ein verwirrendes Labyrinth. Unscharfe Fotos und Dokumente scheinen den Wahrheitsgehalt der Darstellung zu belegen, und dennoch ist es ein Werk der Fiktion.
Mir hat der nicht leicht zu lesende, zu epischer Breite und ungeheurer Detailfülle neigende Roman insgesamt gefallen, thematisiert er doch die Frage nach Realität und Fiktion genauso wie das Leiden der Kolumbianer an der von Generation zu Generation vererbten Geschichte von Gewalt und Tod. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.

Veröffentlicht am 17.09.2018

Die Vergangenheit in der Gegenwart - und warum es wehtut

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Juan Gabriel Vásquez gehört zur jungen Generation erfolgreicher südamerikanischer Schriftsteller. Er stammt aus Kolumbien und legt mit „Die Gestalt der Ruinen“ erneut einen Roman vor, der sich mit der ...

Juan Gabriel Vásquez gehört zur jungen Generation erfolgreicher südamerikanischer Schriftsteller. Er stammt aus Kolumbien und legt mit „Die Gestalt der Ruinen“ erneut einen Roman vor, der sich mit der gewalttätigen Vergangenheit seines Landes und der Beschädigung ganzer Generationen befasst. Im Zentrum stehen politische Morde - an General Rafael Uribe Uribe 1914 und Jorge Eliécer Gaitán 1948 - und die anschließenden revolutionären Revolten, der Bomben- und Drogenkrieg bis hin zum verlorenen Jahrzehnt des Drogenbarons Pablo Escobar und seines Medellin-Kartells. Alle Gewalt Kolumbiens hatte mit der Ungleichheit der Vermögensverhältnisse im Land zu tun - und mit jenen, die sie brechen oder daraus ausbrechen wollten. Aber: „Hier kommt niemand unversehrt davon.“ (S. 294) Die Vergangenheit entlässt keinen ohne ihre Prägung in die Zukunft. Manchmal hinterlässt die Vergangenheit nur Ruinen.

Vásquez schreibt eine Abrechnung mit der gewalttätigen und zum Teil unaufgearbeiteten Vergangenheit seines Heimatlandes, er legt den Finger auf die Wunden der Zeit - oder lässt sie durch seine Figuren legen, ohne selbst endgültige Stellung zu beziehen. „Der Roman wird zu einem mächtigen Instrument der historischen Spekulation“ (S.134), und der Roman darf es, muss es sogar sein. Vásquez nimmt sich fast ein ganzes Jahrhundert kolumbianischer Geschichte vor, ein komplexes Thema, das er auch komplex erzählt: In der Rahmenhandlung ist es sein literarisches Alter Ego, der Schriftsteller ‚Vásquez‘, der auf Vermittlung des gut vernetzten Arztes Benavides von Carlos Carballo aufgefordert wird, die Geschichte der politischen Morde in Kolumbien neu zu schreiben. Ja: als Erster richtig und wahr zu schreiben. Ohne in die diegetische Interpretation einzusteigen, inwiefern der Autor-Vásquez mit ‚Vásquez‘ überlappen, wie viel Autobiographisches in ihm steckt, wie viel Authentisierungsstrategie des scheinbar autofiktionalen Anteils, wird zumindest deutlich, wie personal Vásquez die Erzählhaltung gestaltet, weil ihm die Geschichte offenbar so nahe geht; er nimmt sie buchstäblich persönlich.

Carballo, Benavides und ‚Vásquez‘ haben alle familiäre und persönliche Beziehungen zum Mord an Gaitán. Auf dessen Ermordung folgte in Stadt und Land die blutige Bogoteza und ein Jahrzehnt des Bürgerkrieges - jedoch niemals die Aufklärung der Hintergründe jener angeblichen Tat eines verwirrten Einzelgängers. Nicht zufällig webt Vásquez auch zwei andere Einzeltäter in die Erzählung ein, deren politischer Attentate die Welt verändert haben: Lee Harvey Oswald und Gavrilo Princip, die Mörder Kennedys und Franz Ferdinands. Wenn die Tat eines Einzelnen oder weniger Personen zum Angelpunkt der Geschichte wird, dann öffnet sich stets die Frage: War er allein? Wer stand hinter dem Täter? Wer profitiert von dem Verbrechen? Wer sind sie?

Diese Fragen stehen am Beginn nicht nur der historiografischen Erklärung, sondern auch von Verschwörungstheorien, insbesondere dann, wenn die Antworten scheinbar nicht die ganz Wahrheit enthüllen. Carlos Carballo hat sein ganzes Leben der Wahrheitsfindung verschrieben - oder womöglich an Verschwörungstheorien vergeudet, weil er mi den Antworten der offiziellen Geschichtsschreibung nicht einverstanden war. Weil zu viele Fragen offen blieben. Weil ihm vor allem keiner beantworten konnte, warum diese Einzeltat so viel Einfluss auf seine eigene Herkunft und Person hatte. Er stößt auf einen Bruder im Geiste, den Rechtsanwalt Marco Tulio Anzola, der sich ähnlich manisch an der Ermordung des Generals Uribe Uribe abgearbeitet hat. Anzola, eine reale Person, zweifelte an der Tätertheorie, zwei arme Handwerker hätten spontan zur Axt gegriffen, um Uribe in eigenem Auftrag zu erschlagen - und scheiterte spektakulär. Von ihm blieb nur das politische Pamphlet „Wer sind sie?“, das wie eine Bibel der Verschwörungstheorien die Zeiten überdauert. Die zersetzenden Fragen an die Ungereimtheiten der einfachen Erklärung zersetzen das Vertrauen in die Wirklichkeit und lassen die Verschwörungstheorien blühen. Carvallo ist so voll davon, dass er ‚Vásquez‘ damit (fast) ansteckt, denn „eine Verschwörung ans Licht zu bringen. Das ist eine Aufgabe, der man sich widmen kann, Vásquez, eine Lüge von der Größe einer ganzen Welt zu enttarnen.“ (S. 278) Das Problem mit Verschwörungstheorien ist, dass sei die Form einer Ersatzreligion annehmen können, in der nur noch Wahrheiten gelten, die zur Theorie passen. ‚Vásquez‘ lässt das für sich nicht zu und schreibt den großem Enthüllungsroman nicht, um den Carballo fleht, aber es entsteht „Die Gestalt der Ruinen“, in der weder ‚Vásquez’ noch Vasquez eindeutig Stellung beziehen, wohl aber das Erbe ihrer Heimat annehmen, mit „ihren Irrtümern, ihrer Unschuld und ihren Verbrechen.“ (S. 519)

Bis zu diesem letzten Satz hat Vásquez eine komplexe Geschichte komplex erzählt. In er Rahmenhandlung mit ‚Vásquez‘ und Benavides steckt die Binnenerzählung Carballos und insbesondere die Binnenerzählung von Anzolas Schicksal, die großen Raum einnimmt und zudem noch Anzolas eigenen Text „Wer sind sie?“ enthält. Die zeitlichen Ebenen verschränken sich häufig, oft gekonnt, manchmal verwirrend, wie um zu zeigen, dass die gesamte Vergangenheit zu jeder Zeit gegenwärtig ist. Auch wechselt dadurch ständig die Erzählperspektive und bleibt nicht ausf jeder Ebene in sich konsistent. Das ist anstrengend zu lesen und nicht immer nachzuvollziehen. Vásquez variiert das Erzähltempo mit den Zeiten und zieht etwa die Ermordung General Uribes unnötig in die Länge. Mit dem Eintritt in Anzolas Binnenerzählung längt sich überhaupt der ganze Roman, weil man beim Lesen nicht darauf vorbereitet wurde, dass Uribes Attentat dieses Gewicht und diesen breiten Raum erhalten würde. Das Attentat an Gaitán erscheint zum Ende hin fast nur wie ein Tor, durch das man zu Uribes Mord scheiten musste, fast. Einzelne Figuren, die anfangs wichtig erschienen, bleiben hingegen völlig auf der Strecke. Das bleibt unverständlich und erscheint mir eine Fehlkonstruktion des Romans - oder eine Entscheidung zugunsten der Arbeitsökonomie, um nämlich den Roman nicht über noch mehr Seiten zu dehnen.

Der Roman ist dennoch unbedingt lesenswert, auch wenn er Längen und Schwächen hat, weil er nämlich auf einem erzählerischen Niveau Macken hat, das andere Romane niemals erreichen. Vásquez‘ zentrales Thema - was nämlich die historische Wahrheit ist - beschäftigte ihn schon in „Die Reputation“ und in „Die Informanten“, und es ist immer noch nicht verbraucht. Im Gegenteil! Auch die Geschichtswissenschaft arbeitet sich an der historischen Wahrheit seit Thukydides ab, da alle historische Deutung … Fiktion ist. Dass Verschwörungstheorien, die „das Establishment“, „das System“ oder den „Deep State“ hinter monströser Geschichtsfälschung vermuten, ihren unbestreitbaren Charme haben, zeigt die Faszination, die von Carballos und Anzolas Beispielen ausgeht. Dass die offizielle Wahrheit Fehlstellen hat, die beunruhigen, ist ebenso unbestreitbar. Dazwischen bewegt sich der Mensch, bewegt sich Vásquez mit den Mitteln des Romans und regt zum Nachdenken und Mitdenken an. Wie tief das gehen kann, zeigt sich, wenn man den Titel des Romans betrachtet: „Die Gestalt der Ruinen“.

Die als Ruinen bezeichneten Gegenstände im Roman sind Knochen. Überreste der beiden Attentatsopfer Uribe und Gaitán. Sie stehen für den Rest Lebendigens im Tode, wie auch in allen Ruinen der Rest der Unversehrtheit steckt, „die Vergangenheit ist in der Gegenwart enthalten“ (S. 176) - oder mit William Faulkners Worten: „The past is never dead. It'‘s not even past.“ Ruinen sind aber die Zeugen dafür, dass die Zeit an nichts vorübergeht, ohne ihre Spuren zu hinterlassen, bis nur noch Ruinen bleiben. Im Gegenwärtigen steckt also die Ruine von morgen. An Carballo und Anzola kann man gut ablesen, wie sie von den Ereignissen ihrer Gegenwart aufgesaugt und ruiniert werden. Sie sind ruinöse Gestalten, die aus der Gewalt ihres Lebens entstanden sind.

Vor allem aber fordern uns Ruinen stets auf, uns ihrer ursprünglichen Form zu erinnern: Wie passt Uribes Kalotte in seinen Schädel? Wie der Wirbel Gaitáns in seinen Körper? Jeder Ruine wohnt die Aufforderung inne: Stell dir vor, wie ich früher ausgesehen habe! Das kennt jeder, der einmal eine Burgruine oder Reste römischer Thermen besucht hat: Welche Gestalt mochten sie gehabt haben? Sich mit Ruinen zu beschäftigen, überbrückt die Zeiten und stellt eine Verbindung von ursprünglicher Gestalt zum gegenwärtigen Zustand her, birgt also auch stets den Prozess vergehender Zeit: Wie wurde die Ruine eigentlich durch die Zeit umgestaltet? Warum verlor sie ihre ursprüngliche Form? Und endlich: Was wäre, wenn dieses oder jenes nicht auf die heutige Ruine eingewirkt hätte?

Wie sähe Carballo ohne die Attentate aus? Wie Kolumbien? Vásquez eröffnet mit dem Nachdenken über den Titel womöglich einen Schlüssel für den Roman, in dem es auch um emotionalen Schaden geht, den das historische Erbe der Heimat über einen bringt, und um die Frage nach einer Alternative, zumindest für die Zukunft.

Und darum ist „Die Gestalt der Ruinen“ lesenswert.