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Veröffentlicht am 23.01.2019

Was für ein Mensch willst du sein?

28 Tage lang
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„Es gewinnt der, der am wenigsten Angst hat. Das begriff ich nun. Deswegen hatten die Deutschen gegen uns Juden gewonnen. Bisher. Doch jetzt hatten wir keine Angst mehr. Wir waren ja schon tot.“


Inhalt


Mira ...

„Es gewinnt der, der am wenigsten Angst hat. Das begriff ich nun. Deswegen hatten die Deutschen gegen uns Juden gewonnen. Bisher. Doch jetzt hatten wir keine Angst mehr. Wir waren ja schon tot.“


Inhalt


Mira Weiss lebt mit ihrer Familie im Judenghetto der Stadt Warschau und schlägt sich irgendwie durch, immer auf der Suche nach Essen oder begehrter Schmuggelware. Ihre Lebenssituation spitzt sich jedoch dramatisch zu, nachdem die SS immer wieder den Umschlagplatz anfährt und systematisch die Häuser des Ghettos räumt. Die Gefangenen werden verladen, um angeblich in Arbeitslagern Dienst zu tun. Aber Mira erfährt aus erster Hand, dass die Deutschen ihre Landsleute in Konzentrationslager bringen, um sie dort zu vergasen.

Fortan setzt sie es sich zum Ziel, nur irgendwie aus diesem Hexenkessel rauszukommen und ihre geliebte kleine Schwester zu retten. Durch Glück, Zufall und geschicktes Handeln, schafft sie es, die erste große Säuberungswelle zu überstehen, der jedoch mindestens eine weitere folgen wird – die Chancen auf ein glückliches Ende rücken in weite Ferne. Doch ein paar wenige junge Männer und Frauen, haben es sich auf die Fahne geschrieben, das Ghetto nicht kampflos zu verlassen, sie leisten Widerstand bis zum letzten Atemzug. Auch Amos, ein junger Mann, der ihr schon einmal das Leben gerettet hat, kämpft für Juden in erster Front und Mira sieht darin die allerletzte Möglichkeit, dem Wahnsinn zu entrinnen …


Meinung


Schon lange stand dieses Buch auf meiner Wunschliste, denn besonders die persönlichen Schicksale zur Zeit des Nationalsozialismus können mich literarisch immer wieder fesseln und mich emotional erreichen, so dass ich David Safier ernstes Buch über die Widerstandsbewegung im Warschauer Ghetto unbedingt lesen wollte. Erwartet habe ich eine bewegende Geschichte über ein Menschenschicksal zu einer Zeit, in der Menschsein nicht gefragt geschweige denn gewünscht wurde und bekommen habe ich einen ergreifenden, dramatischen Roman, der die gesamte Palette der Gefühle abdeckt. Zwischen gedanklicher Flucht vor der Realität, mutigen Entscheidungen, traurigen Wahrheiten und einsamen Wegkreuzungen zeichnet der Autor ein bemerkenswertes Porträt einer Frau, die alles hinter sich lassen muss, wenn sie nur irgendwie überleben möchte.


Das Besondere an diesem Text sind nicht nur die tatsächlichen bedrohlichen Geschehnisse, denen die Juden nur bedingt etwas entgegensetzen können und die sie dennoch immer weiter in die Enge treiben, es sind auch die vielen kleinen Dramen zwischen den äußeren Bedrängnissen, auf die der Autor großen Wert legt. Dabei halten sich glückliche Momente und ernüchternde Entscheidungen durchaus die Waage, was die Handlung sehr realistisch und unmittelbar wirken lässt. Eine kleine Entscheidung kann hier ein Menschenleben retten, welches nur kurze Zeit später dennoch verwirkt ist. Allerdings sind es nicht nur die scheinbaren Zufälle, die Leben retten, nein es sind auch die bewussten Entscheidungen, Menschen zurückzulassen, um das Ziel zu erreichen, sich selbst zu opfern um anderen das Leben zu ermöglichen und die damit verbundenen Gefühle von Trauer, Schuld, Versagen oder Unvermögen. David Safier arbeitet all diese Gegebenheiten deutlich aus, zeigt die Zerrissenheit, die Wut, den einzigen Beweggrund zu töten und die große Leere und Sinnlosigkeit all dieser Verfolgungs- und Tötungsmanöver. Letztlich schwingt die klare Botschaft mit: „Wer waren diese Menschen, die andere dazu brachten, selbst zu Tieren zu werden?“


Der Autor schafft vielfältige Charaktere, eine temporeiche, kriegerische Gesamtsituation und kleine stille Oasen des Austauschs und der Freude. Ein Spannungsroman soll es sein, aber auch ein Buch über den Holocaust und die Schrecken der Vernichtung, eine Geschichte, die Generationen verbindet, so beschreibt es der Autor selbst im Vorwort an seine Leser. Und das ist ihm umfassend gelungen, vielleicht auch deshalb, weil die Figuren fiktiv sind, nicht aber die universelle Frage, die sich die Hauptprotagonistin immer wieder stellt: „Was für ein Mensch will ich sein?“ Einer der tötet, weil er sonst selbst getötet wird, einer der verlässt, um sein Leben zu retten, einer der quält, weil es ihm Freude macht oder weil er sich rächen möchte? Und der Fingerzeig liegt immer auf der bewussten Entscheidung für einen Weg, mit all den Konsequenzen den anderen nicht gewählt zu haben. Mira reift in diesen 28 Tagen als Mensch, ohne den Verlust der Würde aber auch ohne die Kraft all ihre Vorhaben verwirklichen zu können. Sie wird reduziert auf ein einziges elementares Wort: Leben, denn das hat sie für sich entschieden, sie will einfach nur ein Mensch sein, der lebt …


Fazit


Ganz klare 5 Lesesterne und eine Leseempfehlung von mir für diesen Roman über die tatsächlichen Schrecken im Holocaust, der sich auf die inneren Empfindungen konzentriert und auf die ethischen Fragen der Individuen, unabhängig von ihrer Rolle im lebensvernichtenden Krieg. Ein umfassender, intensiver Text über Menschen, die sich im täglichen Überlebenskampf befinden, den sie beim besten Willen nicht entfliehen können. Viel Dramatik, viel Stoff zum Nachdenken, viele Denkansätze verpackt in einer schlüssigen, ergreifenden Erzählung – definitiv eine bewundernswerte Geschichte, die man kennen sollte.

Veröffentlicht am 09.01.2019

Zwei Leiber - ein Leben

Einsame Schwestern
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„Das Schreiben ist wie ein Spiel, man spricht von sich, als wäre man jemand anderes. Jedoch wie alle Spiele ist auch dieses Spiel nur Schein. Hört man damit auf, hat man das gleiche Problem vor sich wie ...

„Das Schreiben ist wie ein Spiel, man spricht von sich, als wäre man jemand anderes. Jedoch wie alle Spiele ist auch dieses Spiel nur Schein. Hört man damit auf, hat man das gleiche Problem vor sich wie zu Beginn, ein Problem, dem man nicht entkommen kann und das den Namen Leben trägt, das glücklose Leben von Lina und Diana.“


Inhalt


Lina und Diana haben es geschafft, im Verborgenen aufzuwachsen und vor den Blicken jeglicher Fremder geschützt zu bleiben. Ihre Großmutter, hat sich um die Erziehung der siamesischen Zwillinge gekümmert und sie zu Hause unterrichtet. Doch nun stirbt diese einzige Bezugsperson und die beiden 17-jährigen Mädchen sind auf sich allein gestellt. Ein Hochwasser wird ihnen zum Verhängnis, weil sie ihm nicht entkommen können und so landen sie auf der Krankenstation eines öffentlichen Krankenhauses. Plötzlich stehen sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und müssen sich mit wildfremden Menschen arrangieren. Ihr weiterer Verbleib ohne Verwandte ist ungewiss und sie werden in die Obhut eines Zirkus gegeben, der sich bereiterklärt für Kost und Logis zu sorgen, wenn sich die Mädchen an Auftritten beteiligen. Und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in die neue Situation einzufinden: herausgeputzt, gedrillt und zur Schau gestellt – so gestaltet sich ihre nähere Zukunft. Ihr einziger Lichtblick ist das Tagebuch schreiben und der Zauberer Sascha, der ihnen ein bisschen Zuneigung schenkt. Doch zu spät erkennen sie, das auch diese Aufmunterung ihren Preis hat.


Meinung


Aufmerksam geworden bin ich auf diesen Roman durch die begeisterten Leserstimmen, die ich mit großem Interesse verfolgt habe und so habe ich mir den Debütroman der georgischen Autorin Ekaterine Togonidze zur Hand genommen, um selbst von dem berührendem Schicksal der beiden Mädchen zu lesen, die sich von der Taille abwärts einen Körper teilen.

Auch mich konnte die Geschichte auf ganzer Linie überzeugen, weil es ihr gelingt nicht nur das normale Leid siamesischer Zwillinge aufzugreifen, die sich ihr Lebtag lang einen Körper teilen müssen und trotz verschiedener Charaktere und unterschiedlicher Vorlieben alles gemeinsam machen müssen, sondern auch weil sie den gesellschaftlichen Aspekt dieser „Rarität“ so schonungslos und bitter in den Fokus der Erzählung rückt.

Interessant ist auch der literarische Schachzug, beide Mädchen in Form von Tagebucheinträgen zu Wort kommen zu lassen. Dabei wird sehr realistisch beschrieben, wie verschieden die zwei wirklich sind, wie viele Kompromisse sie ertragen müssen, um durch jeden Tag zu kommen. Lina, die offenere, lebensbejahende, versucht alles mit Emotionen zu erfassen, sie schreibt Gedichte, glaubt an die große Liebe und singt gerne Lieder. Diana ist viel pragmatischer, sie zweifelt mehr, hinterfragt die Dinge und sieht eher das Problem in der Entwicklung als die Chance. Dennoch brauchen beide einander, als wären sie nur ein Mensch, die eine kann ohne die andere nicht existieren.

Besonders traurig und erschütternd wird das Schicksal der beiden durch die Tatsache, dass ihr leiblicher Vater nicht von ihrer Existenz wusste, oder diese nur durch Gerüchte bestätigt hörte, denen er natürlich aus Selbstschutz keinen Glauben schenkte. Wer will schon der Vater eines Monsters sein? Erst nach ihrem Tod, wird er durch die Behörden ausfindig gemacht und mittels DNA-Test wird die Richtigkeit der Behauptung untermauert. Für Rostom Mortschiladze, der bisher ein unscheinbares Leben führte, wird dieses Wissen zur bitteren Wahrheit. Für ihn, der er damals die Mutter der beiden hat sitzenlassen, für ihn der nicht einen Tag an die mögliche Existenz der beiden glaubte, bleibt nun nur noch die Aufgabe für die Beerdigung seiner Töchter zu sorgen. Gerade dieser interfamiliäre Konflikt war es, der mich so berührt hat. Zeigt er doch, welche Sicht die Öffentlichkeit auf Behinderungen jeglicher Art hat. Welcher Makel auch die Angehörigen trifft, welch schiefe Blicke ihnen zugeworfen werden und wie einfach es ist, dem wahren Leben den Rücken zu kehren und sich Nichtwissen als Schutzschild zuzulegen.


Fazit


Hier kann ich nur volle 5 Lesesterne vergeben, denn auf wenigen Seiten vermag es die Autorin nicht nur ein Einzelschicksal glaubwürdig zu schildern, nicht nur zwei junge Menschen in ihrer gänzlichen Verzweiflung zu charakterisieren, sondern zusätzlich noch den Wert der Zuneigung und Liebe bzw. deren komplette Abwesenheit zu offenbaren. Die Erzählung ist emotional aber nicht rührselig, die Botschaft wird klar transferiert und ist doch nur zwischen den Zeilen zu finden. Der Nachklang und die folgende Auseinandersetzung des Lesers mit der angeschnittenen Thematik sind allerdings immens. Immer wieder gibt es Aspekte, die man aufgreifen kann, jede Perspektive hat ein Für und Wieder und am Ende bleibt trotzdem nur die schnöde, willkürliche Existenz eines bitteren Lebens – wunderbar umgesetzt und absolut empfehlenswert, für alle die einmal mehr darüber nachdenken möchten, was das Menschsein eigentlich ausmacht.

Veröffentlicht am 30.09.2018

Eine Langzeitbeziehung in emotionaler Schieflage

Porträt einer Ehe
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„Man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. Man kann das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, nicht mit dem Gefühl bekämpfen, die Kontrolle verloren zu haben.“


Inhalt


Die jahrzehntelange Ehe der Edelmans ...

„Man kann Feuer nicht mit Feuer bekämpfen. Man kann das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, nicht mit dem Gefühl bekämpfen, die Kontrolle verloren zu haben.“


Inhalt


Die jahrzehntelange Ehe der Edelmans ist zwar kinderlos geblieben, doch die ambitionierte Malerin Gus und ihr Mann Owen, der an einem Roman arbeitet, haben sich ganz bewusst für ein gemeinsames Leben jenseits der Großstadt entschieden und genießen ihre Zeit lieber in ländlicher Idylle. Er schreibt in der umgebauten Scheune, sie malt im Atelier und versucht sich erstmals sogar an einer Porträtserie über junge Soldaten, die bereits im Alter von 17 Jahren, im Krieg gefallen sind.

Die neue Nachbarin Alison, etwa im gleichen Alter wie Gus stört die Paarbeziehung zunächst nur unwesentlich, doch schon bald verbringen die beiden Frauen viel Zeit gemeinsam, schütten einander ihr Herz aus und werden beste Freundinnen. Owen missfällt diese innige Nähe, doch möchte er sich auch nicht einmischen. Als Alisons Tochter Nora ihre Mutter besucht, dort sogar für einige Zeit einzieht, entspannt sich das Verhältnis wieder, denn die junge Frau ist eine große Bewunderin von Owen und seinen Texten und kommt ihm immer näher. Doch Owen spürt ebenso wie seine Frau die neuerliche Beziehungsschieflage, denn vor Jahren hatte Gus eine Affäre und nun bietet sich Owen die gleiche Möglichkeit. Beide schwanken zwischen Verdruss, Schuldgefühlen und der traurigen Erkenntnis, dass nur Offenheit und Gemeinsamkeit die Ehe retten kann, doch bevor sie sich dieser Entscheidung bewusst sind, ist Nora verschwunden …


Meinung


Von diesem Roman habe ich mir auf Grund zahlreicher begeisterter Rezensionen eine Menge erwartet, ein emotionales Werk mit Tiefgang und vielschichtigen Betrachtungsweisen. Einen ehrlichen Umgang mit dem Phänomen der partnerschaftlichen Liebe in langjährigen Beziehungen und irgendwie auch eine Ähnlichkeit zu persönlichen Erlebnissen. Und obwohl ich letzteres eher nicht gefunden habe, hat das „Porträt einer Ehe“ doch einen sehr universellen Charakter und fängt das Seelenleben aller Protagonisten absolut glaubwürdig und tiefgründig ein.

Die aus Philadelphia stammende Autorin Robin Black versetzt sich wunderbar in die Menschen der Geschichte hinein, reflektiert deren Gedankengänge und baut ein stilles, nachdenklich stimmendes Drama auf, welches mit relativer Handlungsarmut auskommt und dennoch ein großer Wurf ist.

Interessant ist die Ich-Erzählperspektive aus der heraus Gus ihren Umgang mit der Schuld einer längst vergangenen Affäre greifbar werden lässt. Die Nachbarin und ihr Mann scheinen beinahe Spielfiguren in ihrem ganz persönlichen Schicksal zu sein und doch wird plausibel, warum sie ihren Mann so wertschätzt, aber auch, was sie sich an Veränderungen wünschen würde. Man sieht sie vor sich die Menschen, die hier auf engem Raum aufeinandertreffen und ein regelrechtes Wirrwar an Gefühlsregungen einbringen.

Prinzipiell ist das auch das große Plus dieser Erzählung, der man anmerkt, wie lebendig, schuldbeladen und hoffnungsfroh die Stimmung sein kann, obwohl tatsächlich kaum etwas passiert. Alles was sich abspielt sind die intensiven Auseinandersetzungen der handelnden Personen, mit ihren eigenen Gedanken und Wünschen. Dadurch sieht sich der Leser auch nicht gezwungen für irgendwen Partei zu ergreifen, sondern fällt einfach nur in die Rolle des stillen Beobachters zurück. Sehr treffend ist zudem die Wahl des Buchtitels, nicht nur weil er Bezug zum Schaffenskreis der Protagonisten nimmt, sondern weil das Buch tatsächlich feine Schattierungen, detaillierte Befindlichkeiten und ganz nebenbei tiefe Wahrheiten vermittelt. Je länger man sich damit beschäftigt, desto klarer werden die Eindrücke, desto schillernder das Szenario.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen Abriss über eine Langzeitbeziehung, in der es durchaus Schuldige gibt aber niemanden, der allein verantwortlich ist, für die Entwicklung der Handlung. Herausragend ist der Roman vor allem durch die Dichte und Präsenz ganz differenzierter zwischenmenschlicher Gefühle. Als emotional würde ich ihn nicht bezeichnen, wirken doch die Menschen sehr beherrscht, sachlich und objektiv – darum bemüht, nicht wie der Elefant im Porzellanladen aufzutreten. Aber ihr Innerstes kehrt sich nach Außen und der Leser wird Teil dieser Erfahrung. Ein stilles Buch über Wahrheiten, Versäumnisse und die Kraft der Liebe – toll!

Veröffentlicht am 18.09.2018

Das Opfer des Opfers

Ein Winter in Paris
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„Ich führte ein komplett anderes Leben. Und ein anderes Leben ist immer gut. Es erlaubt einem, abzutauchen und erst dann wieder zum alten zurückzukehren, wenn man gründlich nachgedacht hat.“


Inhalt


Victor ...

„Ich führte ein komplett anderes Leben. Und ein anderes Leben ist immer gut. Es erlaubt einem, abzutauchen und erst dann wieder zum alten zurückzukehren, wenn man gründlich nachgedacht hat.“


Inhalt


Victor ist nicht nur Lehrer geworden, sondern auch Schriftsteller, genau wie er es sich vor 30 Jahren ausgemalt hat, denn Romane waren ihm immer schon wichtig, weil er der analytischen Sicht auf die Dinge längst nicht so viel abgewinnen konnte, wie der persönlichen. Mit 19 war er Student am renommierten Lyceé D. in Paris – ein Einzelgänger, ein junger Mann, dem man nicht allzu viel zugetraut hat, jemand der sich am Rande aufhielt und im Schatten anderer stand. Dort hatte er keine Position, keinen Stellenwert, traf sich in den Pausen zum Rauchen mit seinem einzigen Bekannten, der noch dazu eine Jahrgangsstufe unter ihm war.

Victor nahm sich vor, mehr aus dieser zarten Bande zu machen und beschloss Mathieu zu seinem Geburtstag einzuladen. Doch dazu kam es nicht mehr, denn Mathieu stürzte sich während einer Unterrichtseinheit in den Tod und für Victor war dieses Drama der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Fortan wollte jeder wissen, was die beiden jungen Männer verband, warum Mathieu sich für Selbstmord entschieden hat und welche Rolle Victor einnahm. Victor bekam plötzlich all jene Aufmerksamkeit, die er sich damals nicht mal ansatzweise erträumte, doch sehr genau weiß er zu unterscheiden, welchen Wert er für die diversen Beteiligten hat und wählt sehr bewusst, wem er seine Zeit schenkt.


Meinung


Der französische Autor Jean-Philippe Blondel schreibt echte Herzensbücher, die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern sich sehr intensiv mit den Emotionen der Protagonisten auseinandersetzen. Von seinem Können bin ich bereits durch die Romane „6 Uhr 41“ und „This is not a lovesong“ überzeugt und auch hier beweist er wieder viel Fingerspitzengefühl bei der Reflexion der Gedankengänge als Folge eines dramatischen Ereignisses.

Der Ich-Erzähler des Buches bekommt hier eine markante Position, führt er den Leser doch durch diese persönliche Geschichte, mit allen Verwirrungen, allen Fragen der Schuld und des Unverständnisses für den frühzeitigen Tod eines Menschen. Victor fasst das „Unfassbare“ zusammen, schildert nicht nur die Veränderung, die sein eigenes Leben nach dem Tod des Freundes nahm, sondern auch den Umgang seiner Umwelt mit ein und dergleichen Situation. Im Zentrum seiner Betrachtung rückt das eigentliche Opfer immer weiter in den Hintergrund, insbesondere weil Matthieu eigentlich noch gar nicht den Stellenwert eines echten, innigen Freundes besaß. Stattdessen berührt die Erzählung durch eine Annäherung zwischen Victor und Patrick Lestaing, dem Vater des Selbstmörders. Dieser möchte einfach nur verstehen, was seinen Sohn in den Tod getrieben hat, rätselt ob es vielleicht die Scheidung der Eltern sein könnte oder der Leidensdruck an der Universität und Victor kann zwar keine Antworten geben, doch er lebt, er ist da und hört zu und nimmt bereitwillig die Rolle des verlorenen Sohnes ein, vielleicht weil er spürt, dass der Hinterbliebene genau das braucht.


Doch das Buch bietet noch mehr, setzt es sich doch auf den wenigen Seiten sehr gekonnt mit den Rangordnungen innerhalb des Schulbetriebs auseinander, zeigt wohin Leistungsdruck führen kann, der von Lehrern ausgeübt und von Schülern ganz unterschiedlich aufgenommen wird. Während die einen nicht wissen, wie sie dem standhalten können, ignorieren andere, so wie Victor selbst die Vorgaben, setzen vielmehr eigene Wertmaßstäbe und dann gibt es auch noch die, die sich immer aktiver engagieren, die kämpfen, die mehr wollen und die gerade unter diesen Bedingungen zu ihrer Höchstform auflaufen, so wie Paul, der neue gute Bekannte von Victor, der zum Jahrgangsbesten avanciert. Und der Autor schafft ein wahres Porträt all dieser Menschen, ihrer Motive, ihrer Verfehlungen aber auch ihrer ungeahnten Möglichkeiten.


Was mir auch sehr gut gefällt, ist die erzeugte Stimmung des Buches, die zunächst mit Einsamkeit gleichzusetzen ist, sich dann wandelt und Menschen während den Umbrüchen innerhalb ihres Lebens zeigt. Ein Hauch von Stille, von Melancholie und einem klaren, kalten Winter schwingt hier mit, konzentriert und präzise der Handlungsverlauf, ausgerichtet auf eine greifbare Aussage, die auch die Konsequenz der gewollten Veränderung beinhaltet. Die Frage nach dem, was uns Menschen ausmacht, wie wir sind, was wir sein wollen und dass sich dies durchaus ändern kann, sofern jeder selbst bereit ist, Veränderungen einzugehen. Der Einsame, der plötzlich ein Sozialleben führt. Der tyrannische Lehrer, der Fehler eingesteht. Der verletzte Vater, der Heilung in Gesprächen findet. All das gibt dem Roman eine folgerichtige Dynamik, der man als Leser sehr konkret und nachdenklich folgen kann.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für dieses stillen, einprägsamen Roman, der mit geringem Umfang eine ganze Palette an Gefühlen und Entwicklungen bereithält. Der Reiz des Buches liegt in der Beschreibung einer gewissen Verwirrung, die Menschen befällt, wenn ein grundlegender Bestandteil ihres Lebens in Schieflage gerät. Wenn plötzlich die gegebenen Umstände außer Kraft gesetzt werden und sich damit ein neuer Weg ergibt, eine ungeahnte Chance, die es zu ergreifen gilt, jedoch erst, wenn man bereit ist die Veränderung zu akzeptieren. Sehr empfehlenswert für alle, die philosophische Fragen mögen, über Wertvorstellungen nachdenken möchten und sich mit einer realistischen Situation anfreunden können.

Veröffentlicht am 09.09.2018

Unsere Flügel und unsere Fesseln

Loyalitäten
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„Übrigens seltsam, dieses Gefühl einer Besänftigung, wenn schließlich das hervorkommt, was man nie sehen wollte, obwohl man wusste, dass es ganz in der Nähe vergraben war, dieses Gefühl von Erleichterung, ...

„Übrigens seltsam, dieses Gefühl einer Besänftigung, wenn schließlich das hervorkommt, was man nie sehen wollte, obwohl man wusste, dass es ganz in der Nähe vergraben war, dieses Gefühl von Erleichterung, wenn sich das Schlimmste bestätigt.“


Inhalt


Ausgehend von der Erzählung der Lehrerin Hélène lernen wir den 12-jährigen Theo Lubin kennen, er lebt jeweils eine Woche beim Vater und die andere bei seiner Mutter. In der Schule ist er ein stiller Junge, der nur einen einzigen Freund hat und mit dem all seine Zeit verbringt. Hélène beobachtet ihre Schüler sehr genau und entdeckt an Theo Veränderungen, die niemand sonst sehen will. Der Junge scheint ein echtes Problem zu haben, und sie möchte ihm gerne helfen, doch Theo lässt sich darauf nicht ein, immer wieder beteuert er Erwachsenen gegenüber einfach nur müde zu sein und unter Schlafstörungen zu leiden. Körperliche Verletzungen kann nicht einmal die Schulschwester entdecken und der Lehrerin sind gewissermaßen die Hände gebunden. Es bleibt ihr nicht viel mehr, als den Jungen weiter zu beobachten und das Gespräch mit den Eltern zu suchen.

Mathis, Theos Freund weiß, was ihn wirklich bedrückt, doch er möchte ihn nicht verraten, will nicht erzählen, dass Theos Vater immer mehr abrutscht und der Sohn alles vertuschen muss, damit sein imaginäres Familienmodell nicht einstürzt. Im Alkohol versucht Theo all sein Leid zu vergessen, er möchte nur einmal die Schwelle zum Koma überschreiten, abtauchen und von jeder Last befreit sein. Die einzige die den Alkoholmissbrauch der Jungen bemerkt ist die Mutter von Mathis, doch diese hadert mit dem eigenen Leben und bringt nicht die Kraft auf, auch noch den Freund des Sohnes aus dem Sumpf zu holen. Und so nimmt ein gefährliches Spiel seinen Lauf …


Meinung


Die preisgekrönte französische Autorin Delphine de Vigan greift in ihrem aktuellen Roman ein Tabuthema auf, ohne jedoch weiter auf das Phänomen des Alkoholmissbrauchs unter Jugendlichen einzugehen.


Sie setzt ihr Augenmerk vielmehr auf die zwischenmenschliche Komponente, die zeigt, wie dicht und komplex das Beziehungsgeflecht diverser Personengruppen ist und wie schwierig es für den Einzelnen ist, eine falsche Entwicklung nicht nur zu erkennen, sondern vor allem aufzuhalten. Der Titel des Buches ist sehr treffend gewählt, denn Loyalitäten können zwar einerseits Flügel verleihen, weil sie Kräfte entfalten, die nur mit Treue und Hingabe erreichbar sind, doch sie können ebenso vernichtend wirken, wenn man in schwierigen Situationen derart an seine Versprechungen gebunden ist, dass es schier unmöglich wird, einen Schlussstrich zu ziehen.


Dieser Roman hat mich irgendwie geplättet, nicht nur auf Grund der bemerkenswerten, durchaus ungewöhnlichen Thematik, die hier sehr einprägsam beschrieben wird, sondern vielmehr wegen seiner Perspektivenvielfalt und der Verflechtung einzelner Lebenswege. Manchmal sind es eher die Banalitäten, die so immense Bedrückung auslösen. Ein Trennungskind zu sein, ist keine Schande, doch zum Spielball zwischen den zerstrittenen Elternteilen zu werden eine echte Last. Noch schlimmer, wenn die Eltern nicht mehr in der Lage sind, ihr Kind als das wahrzunehmen, was es ist, wenn sie selbst in einem Sumpf aus Vorwürfen und Abgründen versinken.


Und dann natürlich das Unvermögen, sich als Kind aus dieser Situation zu befreien, ohne andere Menschen mit hineinzuziehen, ohne jemanden zu verletzen, ohne Hilfe für sich selbst beanspruchen zu wollen. Der Leser entdeckt Theo immer wieder neu, in jedem Satz und sieht ihn doch nach und nach Verschwinden, sieht seinen persönlichen Weg des Abschiednehmens von der Normalität. Gleichzeitig wird auch die Berührungsachse mit seinen Mitmenschen sichtbar, die eben jene Entwicklung immer wieder verdrängen, ihr kaum Bedeutung beimessen und sie schönreden. Ganz nach dem Motto: „Ein Junge, der keine Probleme macht, kann auch keine haben.“ Der fatale Verlauf des Geschehens macht wiederrum deutlich, welch Trugschluss sich dahinter verbirgt.


Auf erschreckend ehrliche Art und Weise vermag es die Autorin, den Leser in eine sehr alltägliche Situation hineinzumanövrieren, die sich fast nebenbei ergibt. Kleinere Unstimmigkeiten bringen doch keine Welt zu Fall! Nur gelingt es ihr ganz hervorragend, diese einfache Sicht auf die Dinge zu widerlegen, ihr eine Dominanz zu verleihen, die danach schreit, Gehör zu finden, ohne jemals laut zu werden. Der Roman sensibilisiert, bereitet Bauchschmerzen, lässt Mitleid wachsen und Verständnis keimen, weckt Hoffnungen und rüttelt wach. Sehr faszinierend, ausgesprochen einprägsam und vernichtend in der Gesamtaussage: „Was macht das Menschsein aus, wenn jeder nur wegschaut und die Schwachen aus dem eigenen Gedankengut verbannt, wenn Kinder keine Kraft mehr haben, wenn niemand mehr zuhört und keiner nachfragt?“


Fazit


Von mir gibt es eindeutig 5 begeisterte Lesesterne für diesen wachrüttelnden, sozialkritischen Roman, der Realitäten einfängt und Missstände aufdeckt. Ein nahezu perfektes Buch, bei dem jeder Satz wirkt und jede Handlung eine Lawine an Reaktionen auslöst. Die Kommunikation oder auch ihr Fehlen ist neben vielen persönlichen Verfehlungen die Spitze des Eisberges, bei dem es allerdings existentiell erscheint, ihn in all seinen Schichten abzutragen, wenn man jemals zum Kern gelangen möchte. Mein Tipp: Lest dieses Buch und geht aufmerksamer durch die Welt!