Fesselnd, faszinierend, famos - ein Hoch auf die Merkwürdigkeit!
Hier ist noch alles möglichInhalt
Der Chef einer Fabrik, die kurz vor der Schließung steht, stellt eine neue Nachtwächterin ein, die Protagonistin dieses Romans. Ein Wolf wurde auf dem Fabrikgelände gesichtet, hat es gewagt, Grenzen ...
Inhalt
Der Chef einer Fabrik, die kurz vor der Schließung steht, stellt eine neue Nachtwächterin ein, die Protagonistin dieses Romans. Ein Wolf wurde auf dem Fabrikgelände gesichtet, hat es gewagt, Grenzen zu überschreiten. Panik bricht aus. Gruben werden ausgehoben, Fallen aufgestellt, der Wolf wird zum zentralen Thema in der Fabrik.
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Genre: Roman
Verlag: Aufbau Verlag
Seitenzahl: 192
Erzählweise: Ich-Erzähler, meist Präteritum, selten Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive
Kapitellänge: Das Buch ist in drei große Kapitel eingeteilt, die in weitere kurze Geschichten und Episoden unterteilt sind.
Tiere im Buch: +/- In einer Geschichte wird ein Hahn getötet, der Chef der Firma stellt Tellereisen auf, um den Wolf zu fangen, was nichts anderes als schlimmste, verachtenswerteste Tierquälerei und zu verurteilen ist. Was geschehen würde, wenn der Wolf in die Falle ginge, wird nie konkretisiert, vermutlich würde er aber erschossen werden. Tauben werden an einem Flughafen erschossen, um die Flugzeuge vor Vogelschlag zu schützen, ein Vogel wird in einem Film versehentlich getötet. Die Protagonistin hingegen versucht den Wolf immer wieder zu schützen, zum Beispiel indem sie die Fallen schließt, dafür gibt es Pluspunkte.
Warum dieses Buch?
Dieses Buch hat es dieses Jahr auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft, daher musste es in irgendeiner Weise etwas Besonderes sein. Klappentext, Titel und Cover haben mich sofort neugierig gemacht – so stand schnell fest, dass es mein erstes Longlist-Buch werden würde. Weitere werden folgen.
Meine Meinung
Einstieg & Struktur (+)
Der Einstieg fiel mir sehr leicht, obwohl die Struktur durchaus als ungewöhnlich zu bezeichnen ist. Hier wechseln sich kurze Episoden aus dem Leben der Nachwächterin mit Reflexionen, selbst verfassten Wörterbucheinträgen, einzelnen Fotos (deren Bedeutung einem beim Lesen nicht immer sofort klar ist), Zeichnungen und sehr kurzen Geschichten ab, die meist merkwürdig sind und von fremden Inseln handeln. Schon die erste Seite hat mich derart fasziniert, dass ich unbedingt weiterlesen wollte.
„Der Wolf und die Wölfe haben keine Namen. Man nennt sie Wolf und Wölfe. Sie haben Verstecke. Sie bewegen sich nachts.
Auch ich bewege mich nachts, auch ich schaue viel in die Dunkelheit.
Auch ich drang in Gebiete vor.“ E-Book, Position 41
Schreibstil (♥)
Auch der Schreibstil war einer der Gründe, warum ich so schnell in die Geschichte gefunden habe. Er ist einfach und sehr angenehm und flüssig lesbar, und obwohl er einige Wiederholungen enthält (etwas, was mich normalerweise schnell nervt), so waren diese ganz gezielt und bewusst gesetzt und haben dem Text einen bestimmten Nachdruck und einen leicht kindlichen, unvoreingenommenen Unterton verliehen, was mir sehr gut gefallen hat. Die meist kurzen, manchmal mit Beistrichen oder Konjunktionen verbundenen Hauptsätze sind sehr nüchtern und schmucklos gehalten, ohne blumige Verzierungen oder Spielereien, dennoch ist die Sprache eindringlich und faszinierend. Selten blitzen Spuren von Humor auf. Trotz des einfachen Schreibstils will das Buch mit voller Konzentration gelesen werden, das zeigt sich auch daran, dass es keine Anführungszeichen gibt. Alleine durch den Schreibstil hat es einen Sog auf mich ausgeübt, dem ich mich nicht entziehen konnte. Manches Mal schien mir die Sprache aber auch etwas prätentiös – nämlich immer dann, wenn jedes Wort so voller Nachdruck gesetzt wurde, als hätte es eine große und tiefgehende Bedeutung. Häufig steckt bei diesem Buch viel zwischen den Zeilen, aber in manchen Momenten gibt es das auch meiner Meinung nach nur vor. Aber: Ich verzeihe es, und ich verzeihe es gerne, weil mir das Gesamtbild so gut gefallen hat.
„Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht. Ich möchte Teil einer Geschichte sein oder vieler Geschichten zugleich.“ E-Book, Position 307
„Ich stelle mir eine Welt vor, auf der Wölfe bereits mit Tellereisen an den Füßen geboren werden und in keine weiteren treten können.“ E-Book, Position 309
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)
Eigentlich hat dieses Büchlein ja nur wenig Handlung. Eine junge Frau wird als Nachtwächterin eingestellt, weil ein Wolf auf dem Gelände gesichtet wurde. Die eigentlich dünne Geschichte enthält durch die treffenden Beobachtungen, die interessanten und mitunter merkwürdigen Gedankengänge der Hauptfigur, ihre (nächtlichen) Erkundungen, die Analysen ihrer Mitmenschen und manches seltsame Ereignis aber erstaunlich viel Tiefe. Es geht in diesem Buch um Grenzen, die verzweifelt geschützt werden (obwohl es eigentlich viel wichtigere Dinge gäbe, um die man sich kümmern sollte), um Wölfe, Flüchtlinge, Dinge, die diese überschreiten und die Folgen davon. Hier lassen sich viele Parallelen und Analogien zur gegenwärtigen Realität finden. Es geht auch ums Ankommen und um die Angst vor dem Fremden, Unberechenbaren. Die Geschichte spielt in diesem magischen Übergangzustand zwischen Bekanntgabe der Schließung und dem tatsächlichen Abschalten der Maschinen.
Wie ich schon weiter oben geschrieben habe, ist dies ein Buch, das zwar in einem einfachen Schreibstil verfasst wurde, das aber zwischen den Zeilen in die Tiefe geht. Die genaue Analyse der wiederkehrenden Motive, Symbole und Metaphern wäre vermutlich ein Heidenspaß für viele LiteraturwissenschaftlerInnen (auch ich würde eine solche Analyse nur allzu gerne lesen), aber auch ohne detaillierte Untersuchung erahnt man, dass es dort vieles zu entdecken gibt. Das hat bei mir eine niemals versiegende Faszination ausgelöst. Das Ende ist ebenfalls stark, ich mochte den letzten Satz sehr.
Protagonistin & Figuren (♥)
Eigentlich erfährt man über die Protagonistin beinahe gar nichts, nicht einmal an einem Namen kann man sich beim Lesen anhalten. Nur hin und wieder gibt es Andeutungen, ihre Erinnerungen an frühere Wohnorte und Tätigkeiten blitzen immer nur kurz auf. Aber wer sie eigentlich ist, welche Ausbildung sie gemacht hat, wie ihre Kindheit und nähere Vergangenheit war, warum sie nicht mit Freunden oder Familienangehörigen Kontakt halten muss – das alles bleibt im Dunkeln. Eigentlich würde man erwarten, dass es unter solchen Vorzeichen gar nicht gelingen kann, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, zu ihr eine Bindung aufzubauen. Doch – weit gefehlt! - man bekommt sehr schnell ein Gefühl für die Protagonistin. Gianna Molinari gelingt es trotzdem sehr gut, ihr eine Persönlichkeit zu verleihen, sie komplex und liebevoll zu zeichnen. Ich mochte die Heldin jedenfalls von Anfang an und bin ihr sehr gerne auf ihre nächtlichen Kontrollgänge, in ihre Geschichten und bei ihren mitunter unkonventionellen, merkwürdigen Gedankengängen gefolgt. Ich liebe ja merkwürdige Dinge, denn häufig machen sie ein Buch sehr interessant. Auch diese Geschichte bildet hier keine Ausnahme.
Auch die Nebenfiguren erhalten (für die Größe ihrer Rollen) erstaunlich viel Farbe, auch wenn die Hauptfigur nur wenige näher kennenlernt. Egal ob Clemens, der Koch oder Lose – sie alle sind authentische Menschen, die ich nicht immer sympathisch, schon gar nicht perfekt, aber immer interessant fand.
„Warum bist du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist du hier, fragt er.
Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich.
Sogar Wölfe, sagt Clemens.
Sogar die.“ E-Book, Position 190
Spannung & Atmosphäre (+)
„Hier ist noch alles möglich“ erzeugt eine ganz eigene, feine, fesselnde Art von durchgehender Spannung. Wie bei der Hauptperson wächst auch bei den LeserInnen das Gefühl, dass tatsächlich ALLES geschehen könnte. Man harrt ebenso gespannt auf Spuren des Wolfes wie die Arbeiter der Fabrik, fast hält man die Luft an. Eine unverwechselbare, dichte Atmosphäre am Schauplatz - die bröckelnden Wände, der abblätternde Putz, der rostige Zaun mit seinen Löchern, das Unkraut, das das alte Fabrikgelände langsam wieder zurückerobert – wird sehr gelungen kreiert. Einen Teil der Spannung macht sicher auch aus, dass man nicht immer weiß, ob alles, was die Protagonistin schildert, tatsächlich passiert oder ob es nur ein Trugbild ist und sich nur in ihren Gedanken abspielt. Die dunklen bis dämmrigen, manchmal etwas unheimlichen Stunden ihrer nächtlichen Wache sind wie die Momente zwischen Schlaf und Wachsein: Dort existieren Dinge, Schatten, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie real sind.
„Die Lampen erleuchten nur gewisse Teile des Geländes, in den dunklen Ecken ahne ich den Wolf oder viele Wölfe zugleich.“ E-Book, Position 312
„Ich frage mich, ob die Nacht etwas mit mir macht, ob sie mich verändert, ob ich blassere Haut bekomme, meine Haare weniger schnell wachsen. Vielleicht sehe ich im Dunkeln mehr, als ich noch vor einigen Wochen gesehen habe. Vielleicht werden meine Augen fähiger auf die eine oder andere Weise.“ E-Book, Position 717
Feministischer Blickwinkel (+)
Mir ist beim Lesen keine Form von Sexismus aufgefallen, auch die Protagonistin erscheint mir sehr mutig, selbstbewusst und stark. Außer dass es noch mehr weibliche Figuren hätte geben können, gibt es hier keine Kritikpunkte – das gefällt!
Mein Fazit
„Hier ist noch alles möglich“ ist ein faszinierender Roman, der mich absolut überzeugen konnte. Obwohl der Schreibstil nüchtern, schmucklos und einfach ist, zeigt er dennoch eine große Eindringlichkeit. Schnell wird klar: Dieses Buch hat Tiefe, hier steckt unheimlich viel zwischen den Zeilen. Es geht um Grenzen, um die Panik, wenn sie übertreten werden, um das Suchen nach ganz vielen Dingen (Heimat, Wolf, Antworten), um die Angst vor dem Fremden, Unbekannten. Viele Verbindungen zwischen dem fiktionalen Roman und der gegenwärtigen Realität lassen sich ziehen. Obwohl man über die starke Protagonistin beinahe nichts erfährt, gelingt es Gianna Molinari dennoch, sie so liebevoll zu charakterisieren und ihr so eine einnehmende Persönlichkeit zu verleihen, dass ich eine enge Bindung zu ihr aufbauen konnte und ihr sehr gerne auf ihren nächtlichen Rundgängen und in ihre meist sehr interessanten, manchmal auch merkwürdigen (auf die beste Art!) Gedanken zu folgen. Der Autorin gelingt es, eine ganz feine, fesselnde Spannung zu erzeugen, die niemals einbricht, sie lässt seltsame Ereignisse geschehen in diesem Buch. Die dunklen bis dämmrigen, manchmal etwas unheimlichen Stunden der nächtlichen Wache sind wie diese Momente zwischen Schlaf und Wachsein: Dort existieren Dinge, Schatten, bei denen man sich niemals sicher sein kann, ob sie real sind.
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 4,5 Sterne
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +
Insgesamt:
❀❀❀❀❀♥ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir fünf faszinierte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!