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Veröffentlicht am 22.09.2018

»Die Arktis ist beides. Friedlich und furchterregend. Sie ist erhaben.«

Das Eis
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Das Eis – ein Roman Laline Paulls, der sich vor dem geschichtlichen Hintergrund der Arktisforschung mit sage und schreibe allen für die Menschheit insgesamt und den Einzelnen im Speziellen relevanten Themen ...

Das Eis – ein Roman Laline Paulls, der sich vor dem geschichtlichen Hintergrund der Arktisforschung mit sage und schreibe allen für die Menschheit insgesamt und den Einzelnen im Speziellen relevanten Themen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Umweltschutz, Politik, Korruption, Moral, Machtstreben, Ruhm, Geld, Status, Loyalität, Liebe und Freundschaft auseinandersetzt – und das alles in Form von einer Geschichte, die in Verbindung mit Paulls ganz eigenen Sprachgewalt den Leser mitreißt und nachhaltig prägt.

Peter Freuchen und Knud Rasmussen, Robert E. Peary und Matthew Henson, Fridtjof Nansen und Roald Amundsen – was verbindet diese Männer? Diese Männer brachen in den genannten Konstellationen zu Polarforschungen in die Antarktis auf und es gelang ihnen nur dank der Hilfe des anderen, des Kameraden, des Freundes diese Aufgabe zu bewältigen und alle lebensbedrohlichen Gefahren zu meistern. „Man wird oft gefragt, was denn den Reiz einer Polarexpedition ausmache und welche Freuden sie mit sich bringt“, schreibt Frank Arthur Worsley während der britischen Polarexpedition 1926 in sein Logbuch. „Abenteuer [...]. Errungenschaften [...]. Sich mit aufgezogenen Segeln oder der Dampfkraft einen Weg durch das Eis zu bahnen. Die wundervolle, unberührte Schönheit dieser Regionen, die gesunde, erquickende Lebensweise und nicht zuletzt – die Kameradschaft, die großartige Kameradschaft unter Männern. Männer, die an deiner Seite kämpfen, die sich zusammen mit dir bei harter Arbeit schinden, die mit dir lachen und mit dir scherzen. [...] Kameraden, die durch Dick und Dünn zusammenhalten, die Schicksalsprüfungen und Entbehrungen, Freuden, Gefahren und ihre spärliche Nahrung miteinander teilen und die, unter allen erdenklichen Umständen, wild entschlossen sind, die Sache zusammen durchzustehen.“

Auch Tom Harding und Sean Cawson verbindet eine herzliche Kameradschaft und große Freundschaft seit sie zusammen als Studenten 1988 an einer Grönland-Expedition teilnehmen. Tom ist "mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden", ist unheimlich gutaussehend und ein wahrer Frauenschwarm, bleibt trotz dessen völlig unverdorben und widmet sein Leben nach erfolgreich abgeschlossenem Jurastudium ganz dem Umweltschutz. Sean dagegen ist Halbwaise und stammt aus ärmlichen Familienverhältnissen. Er ist ein Self-made-Man, für den Geld und Status stets eine Versuchung darstellen und die ihn oftmals die falschen Entscheidungen treffen lassen. Die gesamte Geschichte wird aus Seans Perspektive erzählt und Laline Paull gelingt das fast Unmögliche: Der Leser fühlt und leidet mit dem Protagonisten mit – jenseits von jeglichen Sympathie- beziehungsweise Antipathiegefühlen.

Toms und Seans Lebenswege kreuzen sich beim Trinity Term Dinner der elitären »Gesellschaft der verschollenen Polarforscher«, bei der Sean kellnert und Tom als neuestes Mitglied aufgenommen werden soll. Seit Sean im Alter von zwölf Jahren dieses riesige Ölgemälde mit Eisbergen in dem Kinderheim sah, in das er gesteckt wurde, während sich seine Mutter von einem ihrer Selbstmordversuche erholte, ist er von dem einen Gedanken wie besessen: Er möchte die Arktis erforschen. Dieser Wunsch entspringt einem großen Gefühl der Einsamkeit: „Während er dort stand, konnte er sein Elend vergessen und sein gesamtes Bewusstsein ins Innere des leuchtenden Eises werfen. Im Vordergrund war der Mast eines gesunkenen Schiffes zu sehen [...] Eines Tages, während er das Bild anstarrte, kam ihm ein Gedanke, von dem er plötzlich wie von einer festen, unverbrüchlichen Wahrheit überzeugt war: Sein Vater war auf dem Schiff gewesen [...], hatte Schiffbruch erlitten und deshalb hatte er ihn auch nie kennengelernt und deshalb wollte seine Mutter sterben. Das Eis hatte ihm seine Familie geraubt, und er musste dorthin fahren, um sie sich wiederzuholen.“ Tom wird seine Familie, und dann auch Joe Kingsmith, der ihnen die Grönland-Expedition finanziert, und dann Gail, die er heiratet. Beide, Tom und Sean, stehen fest im Leben, als sie vom Verkauf des Midgard-Grundstücks erfahren, das der Pedersen-Familie gehört. Als Greenpeace-Mitglied gelingt es Tom die Pedersens davon zu überzeugen, dass Sean und er als Hüter der Arktis fungieren werden – die Midgard Lodge entsteht. „Es galt, die eigentliche und wichtigste Zielsetzung von Midgard im Auge zu behalten: nämlich einen inspirierenden Ort zu schaffen, an dem die Versöhnung von Unternehmertum und ökologischer Verantwortung gefördert wurde.“ Doch die Dinge scheinen sich mit der Zeit in die falsche Richtung zu entwickeln. Bei einer Expedition, bei der die Polarlichter und die Besichtigung des Großen Saals im Vordergrund stehen, kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit der beiden. Der jähe tragische Tod, der Tom in der Höhle heimsucht und dem Sean nur um eine Haaresbreite entgeht, setzt eine scharfe Zäsur in das Leben der Menschen, die ihn lieben, und die Entwicklungen auf Midgard Lodge. Vier Jahre später wird der Leichnam Tom Hardings beim Kalben des Gletschers freigegeben und eine gerichtliche Untersuchung zur Todesursache einberufen. „[Sean] musste diesen Schock einfach als Chance umdeuten – als Chance, endlich mit der Geschichte abzuschließen. [...] Im Innersten seines Herzens wusste er, dass die Sache für ihn alles andere als abgeschlossen war. Er hatte lernen müssen, mit dem Gedanken zu leben, dass Tom in jener unberührten makellosen Weite verloren gegangen war – genau so hatten auch zahlreiche andere arktische Helden ihr Ende gefunden.“

An dieser Stelle beginnt das Herzstück des Romans. Der gesamte Hergang des Geschehens am Vortag und dem Tag des tragisches Unfalls wird Stück für Stück rekonstruiert, indem jeweils ein Teil dessen unvermittelt zwischen oder nach jeder Zeugenaussage geschoben wird. Es scheint auch alles geklärt und aufgelöst zu sein, der Untersuchungsrichter zieht sich zur Urteilsfindung zurück, als Sean am nächsten Tag, zerschlagen und blutverschmiert, um eine erneute Zeugenaussage bittet. Die Medien toben, ein weltweiter Skandal ist ausgelöst, ein einziger Eklat. Aber auch das Leben einiger Menschen ändert sich mit einem Schlag, nicht zuletzt sein eigenes. Die ausgesprochene Wahrheit lässt Sean sich selbst erkennen: „Er hatte nur Augen für das Geld gehabt [...]. Er hatte frei darüber verfügen können, hatte alles damit machen können, was er wollte, und was hatte er getan? Alles Erdenkliche, um seinen Platz am Tisch der Mächtigen und Reichen zu beanspruchen. Um sich sicher zu fühlen. [...] Sein eigener gefrorener Freund, der stets bereit gewesen war, sich jeglicher Ungerechtigkeit oder Grausamkeit in den Weg zu stellen, wo auch immer sie ihm begegneten. Doch Sean hatte mehr Wert auf Geld und Status gelegt.“ Nun kann Sean nach vier unendlich langen qualvollen Jahren seinen Frieden mit der Vergangenheit schließen. Gleichzeitig begibt er sich wohlwissend in Lebensgefahr, denn keine Enthüllung der Wahrheit kann ohne Konsequenzen bleiben, aber »Entbehrung und Leiden sind die einzigen Dinge, die den Geist des Menschen für das öffnen können, was allen anderen verborgen bleibt.«

Laline Paull setzt in ihrem Roman "Das Eis" mit Souveränität und Leidenschaft ein Plädoyer für einen moralischen und umweltbewussten Lebenswandel. Für Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein sehr unbequemes Buch in unserer Zeit. Und ein wohlrecherchiertes Buch, das mit den eingestreuten zitierten Passagen realer Polarforscher das Verlangen nach weiterer Nachforschung zum Thema Antarktis weckt. Nicht zuletzt liefert Laline Paull mit ihrem Roman eine perfekte Vorlage für einen mitreißenden Film!

Veröffentlicht am 18.09.2018

Unterhaltsame Lebenshilfe

Leben²
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Christian Hesses Essaysammlung »Leben²« ist ein Buch für jedermann. In 31 kurzen Kapiteln behandelt Hesse unterschiedlichste Themen, die eines gemeinsam haben: ihnen liegt die Mathematik zugrunde und sie ...

Christian Hesses Essaysammlung »Leben²« ist ein Buch für jedermann. In 31 kurzen Kapiteln behandelt Hesse unterschiedlichste Themen, die eines gemeinsam haben: ihnen liegt die Mathematik zugrunde und sie stellen eine Lebenshilfe für den Leser dar - mehr Glück, Sicherheit und Lebensfreude werden versprochen. So kann man beispielsweise die Ehe mit der 5:1-Formel verbessern, ebay-Versteigerungen gewinnbringender für sich nutzen, den Jetlag austricksen und die Zeit in Warteschlangen maximal verkürzen. Auch erfährt der Leser wie mit Hilfe einer einfachen Regel Prognosen für die Zukunft gestellt werden können, wie dank einer Formel größtmögliche Gerechtigkeit in z.B. einem Scheidungsprozess hergestellt werden kann und nicht zuletzt wie wir anhand von Zahlen manipuliert werden. Christian Hesse schreibt auf verständliche und sehr unterhaltsame Weise, sodass sogar völlige Mathematik-Nieten (wie ich) alle Ausführungen nachvollziehen können. Ich möchte dieses Buch nicht mehr missen und kann es nur wärmstens empfehlen!

Veröffentlicht am 18.09.2018

„Dies war ein Haus für eine andere Zeit, eine vergangene Lebensform.“

Wo ist Norden
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Ein Jahrzehnt nachdem Marlene und Konrad das alte Gutshaus in Plenskow kaufen, mit Restaurierungen beginnen und dort mit ihren drei Kindern, Selma, Laure und Jakob, sowie den Eltern Konrads, Rita und Pavel, ...

Ein Jahrzehnt nachdem Marlene und Konrad das alte Gutshaus in Plenskow kaufen, mit Restaurierungen beginnen und dort mit ihren drei Kindern, Selma, Laure und Jakob, sowie den Eltern Konrads, Rita und Pavel, einziehen, sehen sie sich gezwungen, es wieder zu verkaufen und weiterzuziehen. Beim Umzug bricht sich Nikita, Konrads Bruder, das Bein, was ihn dazu veranlasst, einen Rückblick über die zehn Jahre in dem Dorf anzustellen und in schriftlicher Form festzuhalten.

Kurz nach der Wende entdecken Marlene und Konrad ein altes Gutshaus im mecklenburgischen Plenskow. Kurzerhand kaufen sie es und beginnen mit der Restauration. Konrad richtet sich eine Arztpraxis ein und Marlene gründet ihr Café „Granatapfel“. Nikita, ebenfalls Arzt, hilft bei der Restaurierung und unterstützt das Projekt finanziell. Dabei wurde er von seiner großen Liebe Marlene für Konrad verlassen und müsste außerdem dringlich an seiner Doktorarbeit schreiben. „Doch als ich an jenem Sommermorgen ein federleichtes, getigertes Kätzchen aus der Mülltonne barg, wo es irgendein Mensch – nie weiß man, wer so etwas macht – zum Sterben in einem Schuhkarton deponiert hatte, wurde mir auf einmal klar, wie sehr sie mir fehlten [...]. Meine Wohnung war nur ein Depot, eine Wartungsstätte des Alltags, da ließe sich kein Tier halten; hier in Plenskow aber gab es Platz und drei Kinder, die Ferien hatten. Konrad und Marlene nahmen es hin, in der Haustierfrage übergangen zu werden, die Kinder waren begeistert und ich erleichtert über diesen Schritt auf sie zu.“

Bei der Renovierungsarbeiten wird ein Wandgemälde entdeckt, das von einem Restaurator, Herr Tile, freigelegt wird und ihn sogar zu einem Werk über die Kulturgeschichte des mecklenburgischen Landadels inspiriert. Das Wandbild, auf dem zwei Personen mit einem Pferd zu sehen sind, soll auch für seine Einwohner und Besucher eine wichtige Rolle spielen. Das gesamte Geschehen hindurch werden Mutmaßungen darüber angestellt, was die Person auf dem Wandgemälde in der Hand hält. Jeder sieht etwas Anderes darin, und das, was er sieht, gibt Aufschluss über den Charakter und die Lebenseinstellung der jeweiligen Person. Marlene sieht einen Granatapfel darin, der Symbol für die Fruchtbarkeit des Geistes und schöpferische Gestaltungskraft ist: Dank ihrer Phantasie und Arbeit entsteht das Café „Granatapfel“, das ein großer Erfolg wird. Selma, die älteste Tochter Marlenes, erblickt eine Sonne darin – der Sonne gleich verkörpert Selma Fortschritt, Standhaftigkeit, Ausdauer, Größe und Lebensfreude. Laure, ihre Schwester, ist überzeugt, dass es ein Herz ist – mit äußerlicher und innerer Schönheit sowie mit einer melodischen Stimme und musikalischem Talent gesegnet, personifiziert sie Liebe, Kraft, Durchhaltevermögen und Leben. Pavel sieht eine Trommel: Er sorgt für Bewegung und Veränderung. Agnes, die Schwester Nikitas und Konrads, erkennt eine Granate darin – in einer homosexuellen Beziehung lebend, bricht sie mit gesellschaftlichen Konventionen, was auf ihre Familienangehörigen überraschend oder sogar schockierend wirkt. Elsa, Nikitas spätere Frau, wird auf dem Bild einer Herbstzeitlosen ansichtig, die für den Herbst des Lebens steht. Herr Tile gewahrt auf dem Gemälde zu Anfang einen Apfel, der für Wissen und Macht steht, später aber einen Totenschädel, Symbol für den Tod – ein Memento mori. Das ‚Pflegemittelpaar‛, das das Gutshaus Marlene in regelmäßigen Abständen abzukaufen versucht, sieht konsequenterweise ein Geldsäckchen in der Hand der Figur.

Nikita selbst, der Ich-Erzähler, meint am Anfang einen Ball zu erkennen – er empfindet sich als Spielball der Familie. Er fühlt sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit und einem eigenen Leben und der Sehnsucht nach seiner Familie gekoppelt mit dem Wunsch zu helfen und zu unterstützen. Während eines Familientreffens fragt er sich: „Hatte ich nicht selbst einmal versucht, mein Leben in die Hand zu nehmen, mich unabhängiger zu machen? Warum war ich wieder so tief hineingerutscht in diese unbekömmliche Konstellation? Was hielt mich? Konnte ich nicht zumindest damit aufhören, die Plenskower an erste Stelle zu setzen? Wer setzte mich an erste Stelle?“ Bald darauf stellt Nikita fest: „Mein Leben allein – was war das eigentlich für eine Bußübung, und was hatte es genützt? Oder war es Verstocktheit, wie Konrad sagte? Mutwilliges Abschnüren meiner Lebensader? Diese Fragen entschieden sich, als ich in die Plenskower Dorfstraße einbog und endlich wieder das Gefühl hatte, am Leben zu sein.“

Nach allen Höhen und Tiefen schließen sich langsam Nikitas Wunden und das Wandbild offenbart ihm sein ganzes Geheimnis: „Es war wie ein Fenster in eine frische Anderswelt, in der die Jahreszeiten zusammenfließen, in der die Sterne bei Tage leuchten, in der Tiere, Menschen und Pflanzen miteinander sprechen. Überhaupt erschienen mir die beiden Figuren nicht als Menschen, sondern nur menschenähnlich, denn sie waren alles zugleich: Frau und Mann, Kind und Greis, Faun und Fee. Das Ding in der Hand war, wie ich nun sehen konnte, kein Ball und kein Apfel, sondern eine Sonne, die gerade in den Himmel aufstieg. Selma hatte recht. Wir anderen hatten das Offensichtliche nicht erkannt.“

„Wo ist Norden“ ist ein einfühlsam, lebhaft und phantasievoll geschriebener Roman, den man mit all seinen Figuren ins Herz schließen muss!

Veröffentlicht am 13.09.2018

Ein literarisches Zeitzeugnis mit psychologischem Tiefgang

Die Welt war so groß
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„Ein Klassentreffen ist mehr als nur eine sentimentale Reise. Es ist auch eine Antwort auf die Frage, die bei fast allen von uns im Unterbewusstsein lauert: Haben es sie anderen besser gemacht als ich? ...

„Ein Klassentreffen ist mehr als nur eine sentimentale Reise. Es ist auch eine Antwort auf die Frage, die bei fast allen von uns im Unterbewusstsein lauert: Haben es sie anderen besser gemacht als ich? Es hätte immer auch andere Möglichkeiten gegeben, andere Wege, sogar für diejenigen, deren Leben durch Gesetze unserer Zeit von vornherein festgelegt war.“

Zwanzig Jahre nach ihrem Collegeabschluss beschließen Annabel, Chris, Daphne und Emily beim feierlichen Klassentreffen dieser Frage nachzugehen: Wäre ich denselben Weg noch einmal gegangen oder hätte ich andere Entscheidungen getroffen? In den Fünfziger Jahren haben sie studiert und große Hoffnungen an ihre Zukunft geknüpft.

Die große und schlanke Annabel mit ihrem schulterlangen kupferfarbenem Haar, den grünen Augen, hohen Wangenknochen und einigen Sommersprossen. Sie war damals so romantisch – war es noch – war ständig verliebt und glaubte den Männern, wenn sie sagten, sie liebten sie. Warum hätte sie damals bis zur Ehe warten sollen? Sie war schließlich kein Mauerblümchen wie die anderen Mitbewohnerinnen. Doch gerade die Entscheidung, sich über die Konventionen der Zeit hinwegzusetzen, sollte ihr den Hass der Mitstudentinnen sowie einen gewissen Ruf bei den Männern verschaffen.

Die äußerlich unscheinbare Chris mit Mittelscheitel und glatten braunen Haaren, einer Hornbrille und Collegekleidung, die wie eine strenge Schuluniform wirkte, interessierte sich dagegen überhaupt nicht für Jungs. Ihre ganze Leidenschaft galt der Geschichte, hauptsächlich der Geschichte des französischen Mittelalters, und der Literatur – immer steckte ihre Nase in einem Buch. Schlagartig ändert sich das, als sie im Französischkurs Alexander kennenlernt. Von nun an setzte sie alles daran, ihn zu erobern.

Daphne, die große Schönheit mit der honigfarbenen Haut, dem goldblonden Haar und den kornblumenfarbenen Augen, wird von allen Golden Girl genannt. Nicht so sehr ihr Aussehen als „der Glanz strahlender Überlegenheit, der sie wie Sonnenlicht überflutete, wohin sie auch ging“ brachte ihr diesen Namen ein. Neben ihrer Schönheit konnte sie gewandtes, kultiviertes Auftreten, ein untrügliches Stilgefühl, eine einwandfreie Herkunft, Selbstvertrauen und Intelligenz ihr Eigen nennen. Und „niemand war neidisch auf Daphne – sie war zu überlegen. Neidisch konnte man nur auf jemanden sein, der eigentlich nicht besser war als man selbst und ungerecht bevorteilt schien.“ Kein Wunder, dass ausgerechnet sie den meistbegehrten Collegestudenten, Richard, erobern sollte. Doch Daphne hat ein dunkles Geheimnis, das sie vor allen, aber ganz besonders vor Richard, geheim zu halten versucht: sie ist Epileptikerin.

Und die kleine dunkelhaarige Jüdin Emily mit der Porzellanhaut, die sich im Vergleich zu den anderen als minderwertig empfindet. Denn Annabels Vater war ein berühmter Herzchirurg, Chris' Vater war Chemieprofessor an den Columbia University und Daphnes Vater Seniorpartner im angesehendsten Anwaltsbüro von New York. Ihr eigener Vater besaß dagegen nur eine Kette von Schuhgeschäften. Ihr Traum ist es, auf dem College ihren zukünftigen Ehemann kennenzulernen, am besten einen, der auch Jude ist und der Arzt werden möchte. Sie kann ihr Glück kaum fassen, als sie diesen Traummann tatsächlich findet und er sich auch in sie verliebt. Obwohl sie nicht darüber sprechen, wissen sie, dass sie nach ihrem Abschluss heiraten werden.

Wie wird sich ihr Leben in den sechziger und siebziger Jahren entwickeln? Werden ihre Hoffnungen und Wünsche an ein erfülltes Leben in Erfüllung gehen? Und werden sie die richtigen Entscheidungen treffen?

Oft kann man sich nicht entscheiden, welches der vier Frauenschicksale einem als Leser besonders nahe geht, welches Leben man vornehmlich als tragisch empfindet. Ob dasjenige von Annabel, die niemals die große Liebe finden soll, dasjenige von Chris, deren Liebe zu Alexander sie an den Rand der Selbstzerstörung bringt, dasjenige von Daphne, die zwanzig Jahre lang ihre Krankheit vor ihrem Ehemann geheim hält, aus Angst er könnte sie verlassen oder dasjenige von Emily, die zu lange in einem Traum gelebt hat, um die Realität des Alltags ertragen zu können.

Rona Jaffe zeichnet diese vier Figuren sowie weitere männliche Charaktere mit psychologisch sicherer Hand. Sie findet immer das richtige Maß an Beschreibung, Innensicht und Dialog. Selbst in den Dreißigern geboren, liefert uns die Autorin als äußerst intelligente Zeitzeugin ein detailliertes und analytisch tiefgehendes Bild der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre. Eine bereichernde Lektüre, die jedem Leser zu empfehlen ist, der sich nach psychologischem Tiefgang und einem literarischen Zeitzeugnis sehnt. Ich persönlich werde mir sicherlich weitere Werke Rona Jaffes zu Gemüte ziehen!

Veröffentlicht am 09.09.2018

Wunderschön und rührend

Helle Tage, helle Nächte
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Frederike ist auf dem Weg nach Lappland. Weshalb weiß sie auch nicht ganz genau. Ihre Tante, Anna, hat sie mit einem Brief für einen gewissen Petter Svakko dahin geschickt. Sie konnte ihrer Tante diese ...

Frederike ist auf dem Weg nach Lappland. Weshalb weiß sie auch nicht ganz genau. Ihre Tante, Anna, hat sie mit einem Brief für einen gewissen Petter Svakko dahin geschickt. Sie konnte ihrer Tante diese Bitte nicht abschlagen, schließlich wurde bei Anna Krebs diagnostiziert. Frederike hat sich gerade von ihrem Mann getrennt, hat ihren Job gekündigt und ihre Tochter, Paula, ist zurzeit in Australien. Noch weiß Frederike außerdem nicht wie sie ihre Zukunft nun gestalten möchte. Sie ahnt nicht, dass sie bald von einer großen Lebenslüge erfahren soll und dass sie gerade in Lappland den Ort finden wird, wo sie am glücklichsten ist.

Hiltrud Baier gelingt mit ihrem Roman „Helle Tage, helle Nächte“ ein wunderschönes und rührendes Meisterwerk. Es hat alles zu bieten, was einen guten Roman ausmacht: Runde Charaktere, die einen direkt einnehmen und mitfiebern lassen, sowie ein Geheimnis, das es zu enträtseln gilt – verpackt in eine einnehmende Sprache voller Emotionen und doch jenseits falscher Sentimentalitäten. Indem uns die Autorin an dem Innenleben von Anna und Frederike teilnehmen lässt, offenbart sie uns ihre große Gabe das emotionale Gepäck, das jeder mit sich trägt, in Worte zu fassen. Man fühlt als Leser mit, kann die Gedanken und Reaktionen der Protagonistinnen nachempfinden und womöglich sogar für sich selbst nutzbringend verarbeiten. Die große authentische Liebe der Autorin zur Natur Nordschwedens spürt man in jedem ihrer Sätze, in denen sie diese beschreibt und reflektiert. Gleichzeitig berührt sie auf diese Weise den Nerv unserer schnellebigen Zeit und bringt die verborgene Saite eines jeden Menschen zum klingen – die Sehnsucht nach einem einfachen Leben im Einklang mit der Natur. Ein äußerst poetisches und zugleich sehr realitätsnahes Werk, das man einfach lieben muss!