»Die Arktis ist beides. Friedlich und furchterregend. Sie ist erhaben.«
Das Eis – ein Roman Laline Paulls, der sich vor dem geschichtlichen Hintergrund der Arktisforschung mit sage und schreibe allen für die Menschheit insgesamt und den Einzelnen im Speziellen relevanten Themen ...
Das Eis – ein Roman Laline Paulls, der sich vor dem geschichtlichen Hintergrund der Arktisforschung mit sage und schreibe allen für die Menschheit insgesamt und den Einzelnen im Speziellen relevanten Themen wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Umweltschutz, Politik, Korruption, Moral, Machtstreben, Ruhm, Geld, Status, Loyalität, Liebe und Freundschaft auseinandersetzt – und das alles in Form von einer Geschichte, die in Verbindung mit Paulls ganz eigenen Sprachgewalt den Leser mitreißt und nachhaltig prägt.
Peter Freuchen und Knud Rasmussen, Robert E. Peary und Matthew Henson, Fridtjof Nansen und Roald Amundsen – was verbindet diese Männer? Diese Männer brachen in den genannten Konstellationen zu Polarforschungen in die Antarktis auf und es gelang ihnen nur dank der Hilfe des anderen, des Kameraden, des Freundes diese Aufgabe zu bewältigen und alle lebensbedrohlichen Gefahren zu meistern. „Man wird oft gefragt, was denn den Reiz einer Polarexpedition ausmache und welche Freuden sie mit sich bringt“, schreibt Frank Arthur Worsley während der britischen Polarexpedition 1926 in sein Logbuch. „Abenteuer [...]. Errungenschaften [...]. Sich mit aufgezogenen Segeln oder der Dampfkraft einen Weg durch das Eis zu bahnen. Die wundervolle, unberührte Schönheit dieser Regionen, die gesunde, erquickende Lebensweise und nicht zuletzt – die Kameradschaft, die großartige Kameradschaft unter Männern. Männer, die an deiner Seite kämpfen, die sich zusammen mit dir bei harter Arbeit schinden, die mit dir lachen und mit dir scherzen. [...] Kameraden, die durch Dick und Dünn zusammenhalten, die Schicksalsprüfungen und Entbehrungen, Freuden, Gefahren und ihre spärliche Nahrung miteinander teilen und die, unter allen erdenklichen Umständen, wild entschlossen sind, die Sache zusammen durchzustehen.“
Auch Tom Harding und Sean Cawson verbindet eine herzliche Kameradschaft und große Freundschaft seit sie zusammen als Studenten 1988 an einer Grönland-Expedition teilnehmen. Tom ist "mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden", ist unheimlich gutaussehend und ein wahrer Frauenschwarm, bleibt trotz dessen völlig unverdorben und widmet sein Leben nach erfolgreich abgeschlossenem Jurastudium ganz dem Umweltschutz. Sean dagegen ist Halbwaise und stammt aus ärmlichen Familienverhältnissen. Er ist ein Self-made-Man, für den Geld und Status stets eine Versuchung darstellen und die ihn oftmals die falschen Entscheidungen treffen lassen. Die gesamte Geschichte wird aus Seans Perspektive erzählt und Laline Paull gelingt das fast Unmögliche: Der Leser fühlt und leidet mit dem Protagonisten mit – jenseits von jeglichen Sympathie- beziehungsweise Antipathiegefühlen.
Toms und Seans Lebenswege kreuzen sich beim Trinity Term Dinner der elitären »Gesellschaft der verschollenen Polarforscher«, bei der Sean kellnert und Tom als neuestes Mitglied aufgenommen werden soll. Seit Sean im Alter von zwölf Jahren dieses riesige Ölgemälde mit Eisbergen in dem Kinderheim sah, in das er gesteckt wurde, während sich seine Mutter von einem ihrer Selbstmordversuche erholte, ist er von dem einen Gedanken wie besessen: Er möchte die Arktis erforschen. Dieser Wunsch entspringt einem großen Gefühl der Einsamkeit: „Während er dort stand, konnte er sein Elend vergessen und sein gesamtes Bewusstsein ins Innere des leuchtenden Eises werfen. Im Vordergrund war der Mast eines gesunkenen Schiffes zu sehen [...] Eines Tages, während er das Bild anstarrte, kam ihm ein Gedanke, von dem er plötzlich wie von einer festen, unverbrüchlichen Wahrheit überzeugt war: Sein Vater war auf dem Schiff gewesen [...], hatte Schiffbruch erlitten und deshalb hatte er ihn auch nie kennengelernt und deshalb wollte seine Mutter sterben. Das Eis hatte ihm seine Familie geraubt, und er musste dorthin fahren, um sie sich wiederzuholen.“ Tom wird seine Familie, und dann auch Joe Kingsmith, der ihnen die Grönland-Expedition finanziert, und dann Gail, die er heiratet. Beide, Tom und Sean, stehen fest im Leben, als sie vom Verkauf des Midgard-Grundstücks erfahren, das der Pedersen-Familie gehört. Als Greenpeace-Mitglied gelingt es Tom die Pedersens davon zu überzeugen, dass Sean und er als Hüter der Arktis fungieren werden – die Midgard Lodge entsteht. „Es galt, die eigentliche und wichtigste Zielsetzung von Midgard im Auge zu behalten: nämlich einen inspirierenden Ort zu schaffen, an dem die Versöhnung von Unternehmertum und ökologischer Verantwortung gefördert wurde.“ Doch die Dinge scheinen sich mit der Zeit in die falsche Richtung zu entwickeln. Bei einer Expedition, bei der die Polarlichter und die Besichtigung des Großen Saals im Vordergrund stehen, kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit der beiden. Der jähe tragische Tod, der Tom in der Höhle heimsucht und dem Sean nur um eine Haaresbreite entgeht, setzt eine scharfe Zäsur in das Leben der Menschen, die ihn lieben, und die Entwicklungen auf Midgard Lodge. Vier Jahre später wird der Leichnam Tom Hardings beim Kalben des Gletschers freigegeben und eine gerichtliche Untersuchung zur Todesursache einberufen. „[Sean] musste diesen Schock einfach als Chance umdeuten – als Chance, endlich mit der Geschichte abzuschließen. [...] Im Innersten seines Herzens wusste er, dass die Sache für ihn alles andere als abgeschlossen war. Er hatte lernen müssen, mit dem Gedanken zu leben, dass Tom in jener unberührten makellosen Weite verloren gegangen war – genau so hatten auch zahlreiche andere arktische Helden ihr Ende gefunden.“
An dieser Stelle beginnt das Herzstück des Romans. Der gesamte Hergang des Geschehens am Vortag und dem Tag des tragisches Unfalls wird Stück für Stück rekonstruiert, indem jeweils ein Teil dessen unvermittelt zwischen oder nach jeder Zeugenaussage geschoben wird. Es scheint auch alles geklärt und aufgelöst zu sein, der Untersuchungsrichter zieht sich zur Urteilsfindung zurück, als Sean am nächsten Tag, zerschlagen und blutverschmiert, um eine erneute Zeugenaussage bittet. Die Medien toben, ein weltweiter Skandal ist ausgelöst, ein einziger Eklat. Aber auch das Leben einiger Menschen ändert sich mit einem Schlag, nicht zuletzt sein eigenes. Die ausgesprochene Wahrheit lässt Sean sich selbst erkennen: „Er hatte nur Augen für das Geld gehabt [...]. Er hatte frei darüber verfügen können, hatte alles damit machen können, was er wollte, und was hatte er getan? Alles Erdenkliche, um seinen Platz am Tisch der Mächtigen und Reichen zu beanspruchen. Um sich sicher zu fühlen. [...] Sein eigener gefrorener Freund, der stets bereit gewesen war, sich jeglicher Ungerechtigkeit oder Grausamkeit in den Weg zu stellen, wo auch immer sie ihm begegneten. Doch Sean hatte mehr Wert auf Geld und Status gelegt.“ Nun kann Sean nach vier unendlich langen qualvollen Jahren seinen Frieden mit der Vergangenheit schließen. Gleichzeitig begibt er sich wohlwissend in Lebensgefahr, denn keine Enthüllung der Wahrheit kann ohne Konsequenzen bleiben, aber »Entbehrung und Leiden sind die einzigen Dinge, die den Geist des Menschen für das öffnen können, was allen anderen verborgen bleibt.«
Laline Paull setzt in ihrem Roman "Das Eis" mit Souveränität und Leidenschaft ein Plädoyer für einen moralischen und umweltbewussten Lebenswandel. Für Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein sehr unbequemes Buch in unserer Zeit. Und ein wohlrecherchiertes Buch, das mit den eingestreuten zitierten Passagen realer Polarforscher das Verlangen nach weiterer Nachforschung zum Thema Antarktis weckt. Nicht zuletzt liefert Laline Paull mit ihrem Roman eine perfekte Vorlage für einen mitreißenden Film!