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Veröffentlicht am 03.10.2018

Plötzlich ist alles anders

Ein Winter in Paris
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Ein Brief erinnert Victor, Lehrer am Gymnasium und erfolgreicher Romanautor, glücklicher Ehemann und Familienvater, an eine unvergessene Katastrophe 30 Jahre zuvor. Er war damals knapp 19, Student im Vorbereitungskurs ...

Ein Brief erinnert Victor, Lehrer am Gymnasium und erfolgreicher Romanautor, glücklicher Ehemann und Familienvater, an eine unvergessene Katastrophe 30 Jahre zuvor. Er war damals knapp 19, Student im Vorbereitungskurs für den Concours, die Aufnahmeprüfung für eine der Grandes Écoles. Obwohl kein Überflieger innerhalb dieser Elite, hatte er zu seinem eigenen Erstaunen die Versetzung ins zweite Jahr geschafft, allerdings ohne jeden sozialen Kontakt, immer außen vor und als Provinzler aus bildungsfernem Elternhaus unsichtbar. Doch nun, im Herbst 1984, hatte er einen Schüler der Eingangsklasse kennengelernt: Mathieu, mit dem ihn nicht nur - wie er selbst meint - die gleiche Zigarettenmarke verbindet, sondern in meinen Augen auch die gleiche Einsamkeit und das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Bevor die beiden sich jedoch näher kennenlernen und gerade als er ihn zu seinem Geburtstag einladen will, springt Mathieu im Schulhaus in den Tod: „...das Schimpfwort, der Schrei, der dumpfe Aufprall, das Kreischen der Bibliothekarin... Es war unser ganz persönlicher Horrorfilm.“ Das Drama reißt Victor aus seiner Unsichtbarkeit, denn als vermeintlicher Freund des Opfers ist er plötzlich gefragt: „Mein Leben hatte sich ordentlich bevölkert.“ Plötzlich interessiert sich der Klassenprimus für ihn, eine umschwärmte Studentin wird seine Freundin, Mathieus Vater sucht bei ihm nicht nur Erklärungen, sondern einen Ersatz für seinen Sohn, und er erlangt Macht über den verhasstesten Lehrer der Anstalt.

Es ist nicht ganz einfach, zu beschreiben, was mich an "Ein Winter in Paris" begeistert hat. Einmal ist es natürlich Jean-Philippe Blondels kritische Betrachtung der unmenschlichen Bedingungen in den Vorbereitungskursen auf den Concours, die er aus eigener Erfahrung kennt. Die Mischung aus Drill, brutalem Leistungsdruck, erbarmungsloser Konkurrenz, Erwartungshaltung der Eltern und Arroganz vieler Lehrer ist für sensible Jugendliche schwer erträglich. Der Selbstmord Mathieus führt in der Schule nicht zu einem Innezuhalten, zur Suche nach Erklärungen oder gar zum Überdenken der Methoden und die Schüler rebellieren gegen dieses Schweigen nicht. Andererseits fand ich aber auch die Unterschiede zwischen Parisern und „Provinzlern“, also dem Rest der französischen Bevölkerung, interessant, der erstaunlicherweise noch schwerer wiegt als das soziale Gefälle. In erster Linie ist es jedoch der Reifungsprozess Victors, über den er selbst in der Rückschau melancholisch, doch ohne Pathos reflektiert. Großartig ist sein Gespräch mit Mathieus Mutter, die ihm klarsichtig seinen Profit aus der Tragödie vor Augen führt, ihm vorwirft, beim Vater den Toten ersetzen zu wollen, und ihm unmissverständlich klarmacht, dass er niemanden retten muss und kann und stattdessen mit dem eigenen Leben beginnen soll.

Dieses kleine, noch nicht einmal 200 Seiten starke Büchlein mit dem sehr gut zur Stimmung passenden Schwarz-Weiß-Cover ist ein ruhig erzählter, einfühlsamer Roman über das Erwachsenwerden, Eltern-Kind-Beziehungen, Einsamkeit und den Wunsch dazuzugehören, unmenschliche Bildungseinrichtungen, Schuldgefühle und Trauer, Ursachenforschung für einen Selbstmord und über das Leben mit einer traumatischen Erfahrung.

Veröffentlicht am 27.09.2018

Was bleibt?

TEXT
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Bei russischer Literatur denke ich gewöhnlich eher an Klassiker als an zeitgenössische Autoren, deshalb war ich sehr gespannt auf diesen siebten Roman des 1979 in Moskau geborenen Dmitry Glukhovsky. Sein ...

Bei russischer Literatur denke ich gewöhnlich eher an Klassiker als an zeitgenössische Autoren, deshalb war ich sehr gespannt auf diesen siebten Roman des 1979 in Moskau geborenen Dmitry Glukhovsky. Sein internationaler Millionenbestseller „Metro“ hätte mich als dystopische Science-Fiction-Trilogie nicht interessiert, aber dieser neue Roman „Text“ klang vielversprechend. Dass er mich jedoch so sehr fesseln würde, hat mich überrascht. Vielleicht liegt es daran, dass „Text“ Dostojewskis immer aktuelle Frage nach "Schuld und Sühne" – oder in der modernen Übersetzung "Verbrechen und Strafe" – in modernem Gewand wiederaufwirft.

Sieben Jahre Straflager Solikamsk, von denen jedes dreifach zählte, liegen hinter dem Ex-Studenten Ilja, als er 2016 in seinen Heimatort Lobnja bei Moskau zurückkehrt. Er verdankt sie einem korrupten jungen Beamten, Pjotr Chasin, der ihm bei einer Drogenkontrolle Kokain untergeschoben hat. Nur die Mutter hat Ilja die Treue gehalten, hat an den nun 27-jährigen Sohn und dessen Zukunft geglaubt, doch als er heimkehrt, ist sie gerade einem Herzinfarkt erlegen. Die Kohlsuppe für ihn steht noch in der geplünderten Wohnung, rührendes Indiz der Wiedersehensfreude. Seine Ex-Freundin, die er bei der Razzia gegen die Zudringlichkeiten Chasins verteidigt hat, ist längst anderweitig liiert, der beste Freund fremd geworden. Was ihm bleibt, ist der Hass auf Chasin, „das Schwein“, inzwischen Major. In der ersten Nacht in Freiheit sucht Ilja ihn angetrunken auf, stellt ihn zur Rede, ersticht ihn aus schierer Verzweiflung im Affekt und entsorgt die Leiche unter einem Deckel der Kanalisation. Sein iPhone nimmt er mit und dank der darauf gespeicherten Chats, Mails, intimen Bilder und Videos wird er sich in den nächsten Tagen in Chasins Leben hacken, dessen Rolle weiterspielen und über den Toten in der Kanalisation sagen: „Da oben, da spiele ich dich, und ich weiß gar nicht mehr, wo du aufhörst und wo ich anfange.“ Nun ist Ilja der, der Chasins Angelegenheiten regelt, mit dessen zunehmend besorgteren Mutter, der schwangeren Freundin Nina, dem wütenden Vater und den Kontaktleuten aus dem Drogenmilieu kommuniziert und entscheidende Weichen stellt. Einige Tage lassen sich alle hinhalten, denn der Major tauchte immer wieder ab, beruflich oder wegen dubioser Geschäfte. Doch dann zieht sich die Schlinge um Ilja immer enger zusammen, denn „Ilja war allein, sie unendlich viele“.

Was mich beim Lesen so begeistert hat, ist die personale Erzählweise rein aus Iljas Sicht, die nur durch die Textnachrichten der Handypartner unterbrochen wird. Obwohl kein Krimi, war die Handlung für mich doch unglaublich spannend und hat mich wie ein Sog erfasst. Auch wenn das Zusammenbasteln von Chasins Leben aus digitalen Puzzleteilen manchmal etwas konstruiert wirkt, hat mich das kaum gestört. Die fortschreitende Verschmelzung Iljas mit seinem Peiniger ist psychologisch dafür umso besser gelungen, besonders wenn Ilja vergisst, dass Nina nicht seine, sondern die Freundin seines ermordeten Kontrahenten ist. Alles gipfelt in einem finalen Gewissenskonflikt und im Showdown, in dem es nur Verlierer gibt.

„Es gibt Menschen, von denen bleibt etwas, und von anderen Menschen bleibt nichts“, schließt dieser ebenso düster-bedrückende wie großartige Roman. Menschen wie Ilja, die dem System Putin chancenlos ausgeliefert sind, gehören zu den Letzteren.

Veröffentlicht am 15.09.2018

Der rastlose Erfinder des Wissenschaftsromans

Jules Verne
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Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum ich zu einem Buch greife: manchmal ist es das Cover, manchmal der Autor, der Titel oder das Thema. Nicht selten ist es aber der Verlag, in diesem Fall der inzwischen ...

Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum ich zu einem Buch greife: manchmal ist es das Cover, manchmal der Autor, der Titel oder das Thema. Nicht selten ist es aber der Verlag, in diesem Fall der inzwischen zur Wissenschaftlichen Buchgesellschaft gehörende wbg Theiss Verlag, der für mich ein Garant für interessante, gut recherchierte, für Laien verständliche Biografien aus der Feder fachkundiger Autoren geworden ist. So bin ich auf diese Biografie von Jules Verne gestoßen, dessen wichtigste innovative Leistung die Erfindung des Wissenschaftsromans war, der am meisten übersetzte französische Autor, dessen Werk nicht zuletzt wegen der zahlreichen Verfilmungen trotz ihres veralteten Wissensstands bis heute populär ist.

Ralf Junkerjürgen, Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg, legt den Schwerpunkt seiner 260 Seiten umfassenden Biografie Vernes auf dessen produktivste und originellste Schaffenszeit von 1862 bis 1875 und unterwirft fünf bedeutende Werke der genaueren Betrachtung: „Fünf Wochen im Ballon“ (1863), „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1864), „20 000 Meilen unter den Meeren“ (1869/70), „In 80 Tagen um die Welt“ (1872) und „Die geheimnisvolle Insel“ (1874/75). Neben Inhaltsangaben geht es dabei um Vernes Arbeitsweise und den zeitgeschichtlichen Hintergrund für die Entstehung. Besonders interessant war diese Betrachtung für mich bei „In 80 Tagen um die Welt“, seinem größten Publikumserfolg. Hier steht der Plot um das Thema Pünktlichkeit im engen kulturhistorischen Zusammenhang mit der Beschleunigung des Alltags durch die Industrialisierung.

Doch natürlich geht es nicht nur um Jules Vernes umfangreiches Werk, das hauptsächlich aus den über 60 Bänden der Reihe „Außergewöhnliche Reisen“ besteht. Viel Raum gewährt Junkerjürgen denen, die großen Einfluss auf Vernes Laufbahn als Schriftsteller hatten: seinem Vater Pierre, seinem Entdecker, Förderer, Verleger und Freund Pierre-Jules Hetzel und den literarischen Vorbildern James Fenimore Cooper, E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe. Das von Bescheidenheit, Frömmigkeit und Fleiß durchdrungene bürgerliche Elternhaus in Nantes, in das Verne 1828 hineingeboren wurde, prägte ihn, dazu kam die Neugier des Nicht-Wissenschaftlers auf die Neuerungen seiner Zeit, die er Jugendlichen und Erwachsenen zur Bildung und Unterhaltung vermitteln wollte. Zunächst unpolitisch, wurde er nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zum Nationalisten, doch waren seine Stoffe, Handlungsorte und Protagonisten international, was für eine weite Verbreitung seiner Romane sorgte. Interessanterweise kondolierte bei Vernes Tod 1905 zwar der deutsche Kaiser Wilhelm II, nicht aber der französische Staat. Großen Raum in der Biografie nimmt außerdem der lebenslange belastende Konflikt mit seinem schwierigen Sohn Michel ein, den Junkerjürgen in der erdrückenden Übermacht des berühmten Vaters begründet sieht.

Nur an wenigen Stellen konnte ich Junkerjürgens Interpretationen nicht folgen, wenn er beispielsweise im Korkenzieherkirchturm der Kopenhagener Erlöserkirche und in Lavakanälen Sexualsymbole erkennt. Ab und zu wurde es mir auch mit den Fremdwörtern zuviel, wenn etwa die Hundertjahrfeier der Französischen Revolution zur „Zentenarfeier“ wird. Doch waren solche Kritikpunkte selten in einer für mich äußerst informativen, anschaulich bebilderten und unterhaltsam zu lesenden Biografie, die ich auch allen empfehlen kann, die wie ich weder gute Kenner noch ausgesprochene Fans von Jules Vernes Werk sind.

Veröffentlicht am 04.08.2018

Keiner ist ohne Talent

Der kleine Flohling 1. Abenteuer im Littelwald
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Am letzten Tag der Grundschule erhalten alle Littelkinder die Zuweisung zu einer Talentklasse in der Littelschmiede nach den Ferien, nur Flohling nicht, denn bei ihm hat sich bisher kein Talent gezeigt. ...

Am letzten Tag der Grundschule erhalten alle Littelkinder die Zuweisung zu einer Talentklasse in der Littelschmiede nach den Ferien, nur Flohling nicht, denn bei ihm hat sich bisher kein Talent gezeigt. Eigentlich macht ihm das nichts aus, denn er ist ein zufriedenes, kluges, aufmerksames Littelkind, das alle zum Lachen bringt und immer fröhlich ist. Traurig macht ihn nur die Sorge, die er bei seinen Eltern spürt: „Eigentlich ist es mir egal... Aber irgendwie sind alle ganz besessen davon. Und langsam glaube ich auch, dass mir etwas fehlt.“ Ist es möglich, dass er für keine Tätigkeit besonders begabt ist und überall nur Chaos stiftet? Flohling beschließt, Lilvis, die Weise des Nordens, aufzusuchen, um Rat bei ihr zu finden. Zusammen mit dem Familienspatz Pilfink, seiner Freundin Lisbet und der Kröte Krotte macht er sich auf den beschwerlichen, gefährlichen Weg durch die Littelwälder, das Winterdorf, das Hügeldorf, zum Nordfluss und die Silbernen Berge hinauf. Viele spannende Abenteuer erleben die vier, begegnen Tieren, Muskis, Gnormen, Risser, Scharren und sogar einem Riesen, bis sie schließlich zu Lilvis gelangen. Doch am Ende muss Flohling sein Talent ganz alleine finden...

"Der kleine Flohling" von Sandra Grimm ist ein rundherum gelungenes Vorlesebuch für Kinder ab etwa fünf Jahren, das gut verständlich, spannend und stimmig von Freundschaft, Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Mut und Selbstfindung erzählt. Vorleser wie Zuhörer werden zum Miträtseln eingeladen, hoffen mit dem sympathischen Flohling und bangen um ein gutes Ende der gefahrvollen Reise. Sehr gut gefallen hat mir auch die Haltung von Littels Eltern, die ihrem Sohn Flügel geben, indem sie volles Vertrauen in ihn setzen und ihm die abenteuerliche Wanderung erlauben. Die bunten, stimmungsvollen Illustrationen von Anja Grote erinnern mich ein wenig an Mangas, vor allem bei den ausdrucksstarken Gesichtern mit den großen Augen. Die Bilder gehen über den Text hinaus und ergänzen ihn ausgezeichnet, da die Autorin sich vornehmlich auf das Innenleben ihrer Figuren und die Handlung konzentriert.

Veröffentlicht am 29.07.2018

Meilensteine der Medizingeschichte

Der Horror der frühen Medizin
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Als der Chefchirurg des University College Hospital London, Robert Liston, am 21. Dezember 1846 einen Patienten bei einer Operation mit der neuen Äther-Narkose aus den USA betäubte, neigte sich das Zeitalter ...

Als der Chefchirurg des University College Hospital London, Robert Liston, am 21. Dezember 1846 einen Patienten bei einer Operation mit der neuen Äther-Narkose aus den USA betäubte, neigte sich das Zeitalter der unvorstellbaren Qualen auch in Großbritannien dem Ende zu. Eines der beiden großen Hindernisse der Chirurgie war damit beseitigt, wohingegen sich das andere durch die nun vermehrt durchgeführten Eingriffe noch verschlimmerte: die enorme postoperative Mortalitätsrate durch Infektionen aller Art. Einer von Listons Zuschauern bei der legendären Operation sollte sich dieses Problems lebenslang beharrlich widmen und es schließlich lösen: der Medizinstudent Joseph Lister.

Joseph Lister wurde 1827 in eine strenggläubige Quäkerfamilie geboren. Sein Vater, der ihn lebenslang fürsorglich begleitete und unterstützte, erlangte weltweite Anerkennung durch Erfindungen im Bereiche der Optik und der Weiterentwicklung der Mikroskopie. 1844 ging Joseph Lister zum Studium der Geisteswissenschaften nach London, sattelte später um auf die Medizin und begann mit der ersten erfolgreichen Operation 1851 und der Approbation 1852 seine große Chirurgenkarriere. Doch zu einer Zeit, als ein Soldat auf dem Schlachtfeld von Waterloo eine größere Überlebenschance hatte, als jemand, der sich ins Krankenhaus begab, war eine erfolgreiche Operation erst der halbe Sieg. Joseph Lister machte die Ursachensuche für Infektionen zu seiner Lebensaufgabe und sah das bei Medizinern heftig umstrittene Mikroskop als Schlüssel für seine Forschung. Nach der Zwischenstation Edinburgh erhielt Joseph Lister seine erste Professur in Glasgow, ging später als Professor und Nachfolger seines Lehrers und Schwiegervaters James Syme nach Edinburgh zurück und wurde 1877 zum Professor für klinische Chirurgie ans King's College London berufen.

Das größte Problem im Kampf gegen die Wundinfektionen war, dass man sich ihr Entstehen nicht erklären konnte. Inspiriert von den Forschungen des französischen Chemikers Louis Pasteur kam Joseph Lister zu dem Schluss, dass mikroskopisch kleine Organismen für die Infektionen verantwortlich wären, und entwickelte daraus ab Mitte der 1860er-Jahre die Desinfektion mit Karbolsäure. Nach und nach desinfizierte er zuerst die Wunden, sorgte für die Behandlung der Chirurgenhände und Instrumente mit Karbolsäure und entwickelte neue Fäden, zunächst heftig angefeindet durch Kollegen vor allem in Großbritannien und den USA. Doch der dramatische Rückgang der Sterberate in den Krankenhäusern mit seinen Hygienemaßnahmen überzeugte schließlich auch seine schärfsten Gegner und brachte ihm gegen Ende seines Lebens Orden und den Titel eines Barons.

Das Sachbuch der in Medizingeschichte promovierten Britin Lindsey Fitzharris „Der Horror der frühen Medizin“ wirkt zwar durch Titel und Cover eher reißerisch, basiert aber rein auf Fakten und beschreibt die durchaus vorhandenen Gräuel und schaurigen Details nicht aus Effekthascherei, sondern nur, soweit es für eine umfassende Darstellung des Themas geboten ist. Obwohl es schwerpunktmäßig eine fundierte Biografie Joseph Listers ist, erfährt man auch sehr viel über die Geschichte der Chirurgie und die Zustände im Großbritannien der industriellen Revolution mit den verheerenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Großstädten. Das Buch ist für Laien gut verständlich geschrieben, hat mich umfassend, spannend und äußerst unterhaltsam über ein sehr interessantes Thema informiert und lässt mich die Segnungen der modernen Medizin nun umso mehr schätzen.