Wahrheit wird manchmal überbewertet
Jedenfalls könnte man zu diesem Schluss kommen, wenn man es mit der Wahrheit hält wie Karl May, der wohl immer noch meistgelesene und in die meisten Sprachen übersetzte deutsche Autor. Jeder kennt seine ...
Jedenfalls könnte man zu diesem Schluss kommen, wenn man es mit der Wahrheit hält wie Karl May, der wohl immer noch meistgelesene und in die meisten Sprachen übersetzte deutsche Autor. Jeder kennt seine berühmten Protagonisten Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, um die die meisten seiner an die 90 Geschichten gestrickt wurden. Und eifrige Leser seiner Bücher hängen natürlich mit ihren Herzen ebenso an den zahlreichen, teils wunderbaren Nebencharakteren seiner spannenden Romane. Leider waren diese Romane jedoch nicht als solche gekennzeichnet, sondern erschienen als Reise-Erzählungen eines Ich-Erzählers und irgendwie verpasste Karl die Gelegenheit, dies richtig zu stellen.
Also baute er um sich herum die Legende des weit gereisten Abenteurers auf, der sämtliche Kontinente bereiste und alle Sprachen dieser Erde beherrschte. Im wilden Westen überall bekannt als Old Shatterhand, im nahen Osten hingegen als Kara Ben Nemsi. Und wer seine Bücher kennt der weiß, dass er kurz vor perfekt - ach was sag ich... der perfekteste aller Perfekten war: Der beste Kämpfer, Schütze, Fährtenleser, Reiter, Anpirscher, Jäger und was man sich sonst noch so vorstellen kann - von seinen sprachlichen Kenntnissen ganz zu schweigen.
Leider kam der 1842 geborene May bis zu seinem 57. Lebensjahr jedoch nie über die Grenzen Sachsens hinaus und nicht einmal der englischen Sprache war er ordentlich mächtig. Was seinen Büchern ja keinen Abbruch tat, seiner Glaubwürdigkeit jedoch sehr wohl. Als die ersten Journalisten davon Wind bekommen folgen unschöne Zeitungsberichte, in denen seine Reisen ziemlich direkt angezweifelt werden. Unter anderem um diesen Gerüchten ein Ende zu setzen, begibt Karl sich auf eine Orientreise, um von dort aus den unterschiedlichen Blättern Ansichtskarten zu senden - quasi als Beweis seiner Reiselust.
Philipp Schwenke lässt uns Karl auf dieser gut 15monatigen Reise begleiten, und das auf ausgesprochen gelungene und launige Art und Weise. Leider ist unser Pseudo-Held längst selbst nicht mehr recht imstande, Wirklichkeit und Realität zuverlässig zu trennen und sieht sich selbst als Opfer einer Kampagne missgünstiger Neider. Immer wieder redet er sich selbst ein, dass er dies oder jenes doch schon hunderte Male im Westen oder als Kara Ben Nemsi gemacht hat und er das schon schaffen wird. Die Realität sieht deutlich anders aus und das beginnt er immer mehr zu begreifen. Sein größter Gegner ist er leider selbst und er hat einen harten, steinigen Weg vor sich.
Die Reiseschilderungen werden jeweils mit einem Palmenblatt nebst aktuellem Datum begonnen. Unterbrochen werden sie von Erzählungen unter einem Eichenblatt, da sie zuhause in Deutschland, meist in Sachsen handeln. Sie betreffen den Zeitraum kurz nach Rückkehr von der Reise bis in die Weihnachtszeit 1902. Insgesamt eine sehr aufreibende, kräftezehrende Zeit im Leben des Karl May. Betreffen die Reisekapitel eher den inneren Zustand Karls, so geht es bei den Heimatkapiteln verstärkt um seine privaten Probleme mit Gattin Emma.
Da ich ungern etwas von der Handlung verraten möchte - der Leser will ja schließlich die Geheimnisse selbst lösen - schreibe ich an dieser Stelle nicht mehr davon. Es gibt jedenfalls reichlich Entdeckungen zu machen und viel Erstaunliches zu lesen. Und dies fabelhafter Weise in einer Art geschrieben, die eines Karl May absolut würdig ist!
Es ist lange her, dass ich ein Buch so genossen habe und es hat mich keine Sekunde gelangweilt. Aber ich muss auch gestehen, dass ich in meiner Jugend Karl Mays Bücher verschlungen habe - mehrfach - alle, die ich bekommen konnte. Und Philipp Schwenke schafft es, dessen Schreibweise wieder auferstehen zu lassen. Ich hätte noch 400 Seiten weiter lesen können, völlig egal, was er erzählt hätte - wie Karl sich die Schuhe bindet oder seine Füße wäscht - ich hätte es vor meinem geistigen Auge gesehen und wäre in seine Gedankengänge gekrochen, so bildhaft hat er beschrieben.
Dabei lässt er es nie an einer guten Portion Humor mangeln. Er seziert selbst die Marotten und Schwächen Karls so amüsant und dennoch nie böse sondern warmherzig, dass sogar das ein Vergnügen war zu lesen.
Dazu scheint er mit farbenprächtiger Phantasie gesegnet zu sein, der er hemmungslos Raum lässt, vor allem was den Reiseteil anbetrifft.
Obwohl ich die Bücher Karl Mays sehr geliebt habe, interessierte mich seine Biografie nie sonderlich. Insofern habe ich vieles über ihn erfahren dürfen in diesem Buch, denn der Kern nebst eingefügten Zeitungsartikeln und Briefen sind real. Man sollte jedoch keinesfalls eine Biografie erwarten, sondern das, was drauf steht: einen Roman! (In dieser Hinsicht mied er die Fußstapfen Karl Mays) Denn wie so oft sind die alternativen Fakten ab und an die unterhaltsamsten. Dies zu erläutern, würde allerdings einen guten Teil des Inhalts vorweg nehmen, weshalb es sich mir verbietet.
Der wohl schönste Satz ist der von vielen Rezensenten bereits zitierte letzte Satz des Epilogs. Wem dieser Satz annähernd gefällt und wer sich davon berühren lässt, der sollte sich an diesem Buch versuchen: „Und wenn wir auf Karls Reise eines gelernt haben, dann doch dieses: wie wenig es lohnt, sich eine herrlich geratene Überzeugung später durch Tatsachen verderben zu lassen.“
Fazit: Wer die Bücher Karl Mays liebt, wird auch dieses Buch mögen.
...und wenn es nicht um ihn ginge, würde er es sicher auch mögen.