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Veröffentlicht am 30.10.2018

Weggesperrt in den Tiefen seines Wesens

Neujahr
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„Henning will die Familie nicht mit seinen Neurosen belasten. Er will ein Mann sein, den es zu lieben lohnt.“


Inhalt


Der Urlaub über den Jahreswechsel auf der Vulkaninsel Lanzarote wird für den Familienvater ...

„Henning will die Familie nicht mit seinen Neurosen belasten. Er will ein Mann sein, den es zu lieben lohnt.“


Inhalt


Der Urlaub über den Jahreswechsel auf der Vulkaninsel Lanzarote wird für den Familienvater Henning zu einer echten Belastungsprobe. Schon seit längerer Zeit leidet er unter Panikattacken und fühlt sich in seinem Alltag vollkommen überlastet, obwohl er gar keine immensen Anforderungen erfüllen muss. Hin- und hergerissen zwischen seiner Verantwortung als Ehemann und Vater und seiner Verletzlichkeit reibt er sich immer mehr auf und findet selbst bei gemeinsamen Erlebnissen kaum noch etwas Schönes und Erfüllendes für sich selbst.

Am Neujahrstag macht er sich allein daran den Steilaufstieg nach Femés mit dem Rad zu bewältigen, um den Kopf frei zu bekommen und sich seiner Zukunft bewusst zu werden. Als er vollkommen erschöpft ankommt, nimmt ihn Luisa, die Bewohnerin des einzigen Hauses auf dem Berg auf und bewirtet ihn, damit er wieder zu Kräften kommt. Sie hat das Anwesen gekauft und nutzt es als Kunstatelier, doch während Henning durch die Räume geführt wird, holt ihn die eigene Erinnerung ein, denn er kennt die Möbel, die Muster an den Wänden, die Lage der Zimmer bereits, er weiß, was hinter dem Haus lauert und schlagartig rührt sich die Bedrohung aus längst vergangener Zeit …


Meinung


Die deutsche Erfolgsautorin Juli Zeh, die bereits zahlreiche Literaturpreise gewonnen hat, widmet sich in ihrem aktuellen Roman einer sehr alltäglichen und doch besonderen Geschichte. Denn den Hauptprotagonisten Henning könnte man direkt persönlich kennen, greift seine derzeitige Situation doch die vieler Menschen auf, die sich irgendwo in der Rush-Hour ihres Lebens befinden und sich selbst aus dem Blick verlieren, vor denen sich bedrohliche Berge unlösbarer Probleme auftürmen und die seelische Schäden von ständiger Überlastung tragen.

Doch das ist nur die halbe Geschichte. Besonders wird sie vor allem, durch die Erinnerung des Geschädigten, der endlich die Ursache für seine tiefliegenden Probleme gefunden hat, wenn auch durch eine Zufallsbegegnung. Es sind förmlich zwei Geschichten, die hier aus der gleichen Erzählperspektive geschildert werden, jedoch mit einem Zeitsprung von gut 30 Jahren.

Zunächst bekommt der Leser den erwachsenen Henning präsentiert, dann ist er plötzlich in der Rolle des großen Bruders, jedoch selbst noch ein Kind. In dieser Vergangenheitsperspektive macht sich große Beklemmung bemerkbar, schiere Verzweiflung und die immense seelische Verantwortung, die Henning ganz unfreiwillig übernehmen musste und die sich Jahre später immer wieder in seinen Panikattacken manifestiert. Ein kindliches Trauma, unbehandelt, verschüttet in den Tiefen der Seelen, wartet nur darauf wieder an die Oberfläche zu gelangen und mit später Zerstörungskraft zurückzuschlagen.

Sprachlich konnte mich der Roman überzeugen, eine leichtlesbare, erzählerische Nuance, direkt aus dem Leben im Wechsel mit der Stimme der Verzweiflung – dadurch kann man direkt eintauchen in das Geschehen und baut zu den Charakteren eine gewisse innere Nähe auf. Interessant, wie die Autorin Alltagssituationen mit der Gefühlsebene koppelt und dadurch Bilder erzeugt, die sich ins Gehirn einbrennen. Eine Wand voller Spinnen, ein dunkles Brunnenloch, in dem ein Monster wohnen könnte und ein altes, buntes Sofa, auf dem sich eine Untat ereignet – einfach, treffend und dennoch vielschichtig mit einem unverkennbaren Wiedererkennungswert.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen eindringlichen, direkt beängstigenden, beklemmenden Roman, der seine Kraft aus der Vergangenheit zieht und immer wieder in kleinen Momenten die Verzweiflung eines kindlichen Individuums fokussiert. Das es der Autorin gelungen ist, die Angst einzufangen, sie direkt zu benennen und damit dem erwachsenen Mann eine Hilfestellung zu geben, sich in seiner gegenwärtigen Situation mit den Dämonen der Vergangenheit auszusöhnen, hat mir besonders imponiert. Und trotz der Tatsache, dass der Roman sehr persönlich erscheint und wenig Aussagekraft für die Allgemeinheit hat, konnte mich die Intensität der Gefühlspalette auf den knapp 200 Seiten überzeugen. Definitiv lesenswert und wer selbst beängstigende Kindheitserinnerungen hat, sieht vielleicht die ein oder andere Parallele.

Veröffentlicht am 08.10.2018

Lebenslügen und Machtspielchen

Bösland
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„Ich wollte daran glauben, ich malte mir alles schön. Ich war naiv und dumm, weil ich mir wünschte, dass für immer alles so blieb. Schuld, die ich von meinen Schultern auf seine gelegt hatte.“


Inhalt


Ben ...

„Ich wollte daran glauben, ich malte mir alles schön. Ich war naiv und dumm, weil ich mir wünschte, dass für immer alles so blieb. Schuld, die ich von meinen Schultern auf seine gelegt hatte.“


Inhalt


Ben kann sich an den Augusttag, an dem er für den Mord an seiner Klassenkameradin Mathilda weggesperrt wurde nur noch dunkel erinnern. Ein Golfschläger war es, der ihr den Kopf zerschmetterte und der Junge verbringt die nächsten Jahre in der geschlossenen Psychiatrie. Nur mit Hilfe seiner engagierten Therapeutin Frau Vanek gelingt es ihm nun, im Erwachsenenalter ein einigermaßen normales Leben zu beginnen. Die Psychiaterin empfiehlt ihm dennoch, sich den Erinnerungen aus der Vergangenheit zu stellen und seinen Heimatort aufzusuchen, sich mit alten Freunden zu treffen und sich mit seiner Mutter auszusprechen. Ben weiß, dass es ihm gelingen muss, alles aufzuarbeiten und stellt sich der schwierigen Aufgabe. Doch seine Mutter leidet an Demenz, nimmt ihn nur widerwillig bei sich auf. So beginnt Ben auf dem alten Dachboden zu stöbern, dort wo einst sein gewalttätiger Vater Selbstmord beging und sich sein jugendliches Leben vor dem Mord abgespielt hat – sein ganz persönliches Bösland. Er entdeckt das alte Filmmaterial von sich und seinem damals besten Freund Felix Kux und schaut sich alle Videos an. Doch auf dem letzten macht er eine unglaubliche Entdeckung und mit Gewalt dringt die Wahrheit zu ihm durch. Nun muss er unbedingt zu Felix, doch der hat längst kein Interesse mehr an seinem alten Freund …


Meinung


Endlich habe ich es geschafft einen Thriller von Bernhard Aichner zu lesen, von dem bereits mehrere auf meinem SUB lagern. Denn interessant klingen die Klappentexte allemal, versprechen sie doch Geschichten über dunkle Geheimnisse, kaltblütige Morde und hartherzige Menschen. Mit dem Titel „Bösland“ konnte ich zunächst wenig assoziieren, doch erklärt sich alles von selbst, wenn man erst mal in das Buch hineingelesen hat. In kurzen prägnanten Kapiteln entwirft der Autor die Geschichte eines schwer misshandelten Jungen, der nun im Erwachsenenalter versucht, sich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen. Die gewählte Ich-Perspektive wirkt sehr persönlich und man spürt deutlich die seelischen Qualen, die der Protagonist erleidet. Denn „Bösland“ ist nicht unbedingt das Psychogramm eines Mörders, sondern auch der Hilfeschrei einer verletzten Seele, die nie gelernt hat, sich der Wahrheit zu stellen und Konsequenzen zu ziehen.


Die weitaus interessantere Figur ist jedoch Felix Kux, der nun in der Gegenwart ein äußerst erfolgreicher Unternehmer eines großen Pharmaziekonzerns ist und sich den lästigen Ben irgendwie vom Hals schaffen möchte. Dennoch teilt er bald sein großes Anwesen, seine knappe Freizeit und wenig später sogar seine Frau mit dem Jugendfreund. Und bei all der trauten Zweisamkeit geht es um nichts anderes als versteckte Machtspielchen und sorgsam bewahrte Lebenslügen. Ben und Felix beginnen ein mörderisches Spiel mit weiteren Opfern und einer der beiden wird dabei auf der Strecke bleiben, fragt sich nur wer den längeren Atem besitzt.


Das Buch hat einen hochspannenden Mittelteil, der mich sehr begeistert hat, fängt aber eher gemächlich an und flaut dann auch wieder ab, so dass das Spannungsniveau eher schwankend zu beurteilen ist. Auch das Seelenleben von Ben empfand ich stellenweise als hilflos, dann jedoch wieder entschlossen und zielgerichtet. Eine ambivalente Figur, die manchmal wie eine Marionette wirkt, dann wieder wie der perfekte Drahtzieher.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen unterhaltsamen Thriller, der weniger Gänsehaut verursacht, dafür aber die Thematik Schuld und Sühne intensiv behandelt und Psychopathen auch mal in einen anderen Kontext setzt. Als Leser ist man hier vor allem auf den Handlungsverlauf gespannt, denn man weiß sehr genau, wer der Held des Buches und wer der Antigonist ist. Sehr aufschlussreich ist auch der Ansatz bezüglich des Geldes und der Handlungsmöglichkeiten innerhalb einer Zweckgemeinschaft und die Auswirkungen von Erpressung und Manipulation. Trotzdem bleibt noch Luft nach oben. Das Ende hat mich etwas enttäuscht, schließt es zwar den Roman, nicht aber meine Gedankengänge folgerichtig ab. Deshalb werde ich gewiss noch ein zweites Buch des Autors lesen, um Vergleichswerte zu haben.

Veröffentlicht am 06.10.2018

Road-Trip zur Selbstfindung

Hippie
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„Ihm war endlich klargeworden, dass wir letztlich allem, was uns widerfährt, ohne Angst begegnen müssen, weil alles zum Leben gehört.“


Inhalt


Paulo Coelho nimmt uns mit im Magic-Bus nach Nepal, uns ...

„Ihm war endlich klargeworden, dass wir letztlich allem, was uns widerfährt, ohne Angst begegnen müssen, weil alles zum Leben gehört.“


Inhalt


Paulo Coelho nimmt uns mit im Magic-Bus nach Nepal, uns und seine Gefährtin Karla, die regelrecht auf ihn gewartet hat, um gemeinsam mit ihm eine Reise zu unternehmen, die beiden Bereicherung und Sinnhaftigkeit im Leben geben soll. Der Start der Route in Amsterdam ist ganz einfach, es finden sich mehrere Interessenten, die sich kaum kennen und starten für nur wenig Geld und wenig Komfort, um mit zwei Reiseleitern zu einer unkonventionellen Fahrt aufzubrechen.

Längst sind es nicht nur „Hippies“, die im Bus sitzen, sondern auch Menschen, die sich bewusst aus ihrem gutbürgerlichen Leben ausgeklinkt haben, um ihre Wurzeln zu finden. Natürlich schwingt das Lebensgefühl der Generation mit, so dass die Thematik freie Liebe, Konsum von Drogen und eine Antihaltung gegenüber Dogmen jeder Art zur Sprache kommt, doch ist das längst nicht alles. Coelho entwirft vielmehr einen autobiografischen Roman, der sich darauf konzentriert, den Sinn des Lebens, die Wirkung der Spiritualität und auch die verschiedenen Wege aufzuzeigen, die ein Mensch gehen kann – allein für sich selbst oder gemeinsam in einer Gruppe.

Und während Karla am liebsten für immer in Nepal bleiben möchte, fühlt sich der junge Paulo von den Sufis in Istanbul inspiriert. Und weil alle frei sind, entscheidet jeder für sich, wo die Endstation des Magic Busses liegt …


Meinung


Der brasilianische Autor Paulo Coelho zählt zu meinen Lieblingsautoren, weil seine Romane immer Tiefgang haben und die Philosophie des Lebens nutzen, um das Menschsein zu definieren. Seine Texte basieren auf Glaubensgrundsätzen, sie entwerfen ein umfassendes Bild über das Schöne und Erstrebenswerte im Dasein und sparen die Prüfungen, die Steine auf dem Weg nicht aus, vielmehr gleichen die Texte selbst einer Reise durch die Vielfalt des Lebens. Und weil mir dieser Ansatzpunkt so ausgesprochen gut gefällt, finde ich zu jedem seiner Bücher Zugang und teile eine gewisse Warmherzigkeit mit seinen Geschichten.

Zunächst war ich mir unsicher, ob ein autobiografisches Buch, meine Erwartungshaltung erfüllen kann, doch die Zweifel lösen sich schnell auf, was wohl auch darin liegt, dass der Autor von sich in der dritten Person Singular spricht. Dadurch entsteht Distanz, der junge Mann im Buch könnte auch Roberto, Vladimir oder Pascal heißen, sein Leben ein ganz anderes sein und dennoch im Rahmen dieser Erzählung greifen.

Also Vorsicht, wer hier mehr über Paulo selbst erfahren möchte! Bis auf eine eher kleine Passage einer Verhaftung und der daraus resultierenden Angst bezüglich Polizeigewalt, findet man nur wenig Spezielles und außerdem ist es sehr unwichtig, was im Einzelnen geschieht. Die Dominanz des Textes beruht auf der Entwicklung eines Menschen und seiner Suche nach einem übergeordneten System, einem Glauben, einer Ethik, einer alles durchdringenden Empfindung bezüglich der Liebe. Der Magic Bus ist scheinbar nur ein willkürliches Instrument und die Menschen darin eine mögliche Melodie.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne, denn ich mag es, wie der Autor Begriffe aus Religion, Philosophie und spirituellen Handlungen aufgreift und sie zu einer unterhaltsamen Geschichte verknüpft.

Empfehlen möchte ich das Buch aber in erster Linie denjenigen, die seine Texte kennen und mögen, denn es ist nicht sein „bestes“ Buch. Die Botschaft dahinter ist eher versteckt, der Mehrwert liegt nicht unmittelbar auf der Hand, eine Autobiografie der klassischen Art ist es ebenso wenig wie eine rein fiktive Erzählung.

Eigentlich wirkt es wie ein bunter Mix aus Erfahrungen, Enttäuschungen, Hoffnungen und Erkenntnissen – das Leben wird hier auf der positiven Seite betont, ohne dass der Optimismus das tragende Element wäre. Erlebt, Begriffen, Entschieden – jeder so wie er mag.

Veröffentlicht am 27.09.2018

Die Tochter von Trennungen

Arminuta
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„Das Privileg, das ich aus meinem vorherigen Leben mitbrachte, unterschied mich, isolierte mich in der Familie. Ich war die Arminuta, die Zurückgekommene. Ich sprach eine andere Sprache und wusste nicht ...

„Das Privileg, das ich aus meinem vorherigen Leben mitbrachte, unterschied mich, isolierte mich in der Familie. Ich war die Arminuta, die Zurückgekommene. Ich sprach eine andere Sprache und wusste nicht mehr, wohin ich gehörte.“
Arminuta, ein 13-jähriges Mädchen, dessen echten Namen der Leser nicht erfährt, wird von ihrem Vater ohne weitere Erklärung bei ihren leiblichen Eltern abgeliefert. Plötzlich findet sie sich in einem ärmlichen Haus mit zahlreichen Geschwistern und wenig Platz wieder - sie die bisher das Einzelkind wohlhabender Eltern war und zum Ballettunterricht ging. Erklärungen bekommt sie keine, dafür ändert sich alles. Die Schule ist nur noch Nebensache, zu Hause wird Mitarbeit erwartet und auf Verschwendung folgt harte Strafe. Ein eigenes Zimmer gibt es nicht, anfangs nicht mal ein eigenes Bett und Arminuta hat nur einen einzigen Wunsch: Sie will zurück nach Hause. Aber nach und nach merkt sie, dass ihre Adoptivmutter kein echtes Interesse an ihr zeigt und sie nicht zurückholen wird, selbst wenn sie sich finanziell weiterhin um sie kümmert. Und ihre leibliche Mutter ist schlicht und einfach eine pragmatische Frau ohne besondere Liebenswürdigkeit. Nicht nur ihr gegenüber, sondern auch in Bezug zu den anderen Kindern. Der einzige Trost ist ihre temperamentvolle jüngere Schwester Adriana, die der einsamen Seele Kontra bietet und ihre neugewonnene Schwester mit offenen Armen empfängt. Nach und nach erfährt Arminuta, was tatsächlich zum Bruch zwischen ihrem Elternhaus und den Adoptiveltern geführt hat und sie ist sich der traurigen Tatsache bewusst, dass sie nicht die Tochter einer Mutter ist, sondern die Tochter von Trennungen …
Die italienische Autorin Donatella Di Pietrantonio wurde bereits mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet und schaffte mit diesem Roman ihren internationalen Durchbruch. „Arminuta“ ist ein ungewöhnliches Buch, beschäftigt es sich doch mit einem nicht alltäglichen Inhalt, bei dem ein Kind, ein Teenager eher, zwischen zwei Müttern steht und keine der beiden sich in einer annähernden Mutterrolle befindet. Doch die vordergründige Thematik lässt schnell erkennen, welche Probleme eigentlich entstehen, wenn junge Menschen keinen Rückhalt haben, keine Erklärungen bekommen und wie ein Spielball zwischen den Erwachsenen hin und hergeschoben werden. Und damit gelingt es der Autorin sehr gut, die Stimmung einzufangen, die Bedrücktheit der Protagonistin und jedwede andere Empathie, die Arminuta mit dem Leser teilt.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Betrachtung der Peripherie im unmittelbaren Familienverband. Da gibt es Geschwister, die „die Neue“ nicht mögen und sie ärgern, aber auch andere, die sie brauchen und ihre Nähe suchen, da gibt es plötzlich Erlebnisse, die man mit anderen Kindern teilen kann und Verschwörungstheorien, die unter Bettdecken ausgehandelt werden. Dieses weitläufige Geschwistergefüge wird äußerst intensiv und glaubwürdig geschildert und drängt die verlorene Mutterliebe manchmal sogar in den Hintergrund. Gemeinsam sind wir Kinder stark gegen jedes elterliche Bollwerk!
Da das Buch die Ich-Erzählperspektive wählt, fühlt man sich als Leser wunderbar involviert in die Gedankengänge der Arminuta, die diese anscheinend mit einigem zeitlichen Abstand aus ihrer Erwachsenensicht schildert. Dieser Schreibstil macht betroffen, hilflos und manchmal sogar wütend, in Anbetracht der Zerstörungskraft eines fehlenden Zuhauses für ein unschuldiges Kind. Doch ebenso wie es der Hauptperson ergeht, verliert sich diese Wut allmählich und auch die ewige Frage nach der Schuld oder dem Schuldigen tritt in den Hintergrund, weil ersichtlich wird, dass Arminuta die Problematik ihrer eigenen Kindheit nicht mitgenommen hat in ihr erwachsenes Leben. Die Traurigkeit, die bleibt, doch der Mensch wächst über sich hinaus und setzt andere Schwerpunkte und neue Prioritäten und geht ungeachtet der vergangenen Pein entschlossen in die andere Richtung.
Zum Lieblingsbuch hat mir ein ganz entscheidender Punkt gefehlt und das ist eine gewisse Perspektivenvielfalt. Wie gerne hätte ich in die Köpfe der beiden in meinen Augen sträflichen Mütter geschaut, deren objektives Handeln ich zwar verstehen konnte, aber ganz und gar nicht die inneren Beweggründe. Es wäre für mich wunderbar gewesen, wenn auch einmal die Adoptivmutter Adalgisa zu Wort gekommen wäre oder die leibliche Mutter, die mir immer fremd blieb. Es ist diese Lücke, die ein ansonsten sprachlich ansprechender Roman, nicht schließt und genau dieses I-Tüpfelchen fehlte mir noch.
Fazit: Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für ein innovatives, generalistisches Buch jenseits des Main-Stream. Auf sehr intensive Art und Weise geht es auf menschliche Familienbeziehungen ein und auf die Interaktion zwischen den Beteiligten. Da gibt es Mütter, Töchter, Söhne und Väter, Nachbarn und Lehrer und jeder trägt einen Anteil im Leben einer Heranwachsenden. Dieses Geflecht lohnt es zu betrachten und sich gemeinsam mit Arminuta auf eine Reise in deren geprüfte Kindheit zu begeben. Mir hat dieser Roman viele Ansatzpunkte geliefert, die zu weiteren Gedankengängen anregen und ich kann ihn guten Herzens empfehlen.

Veröffentlicht am 13.09.2018

Die verlorenen Jahre in Kilby Prison

Ein anderes Leben als dieses
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„Aber schließlich befehle ich mir, damit aufzuhören. Ich habe diese Träume schon zu oft geträumt. Sie sind vergeblich, verachtenswert, unmoralisch und tückisch wie die Kakerlaken im Speisesaal.“


Inhalt


Roscoe ...

„Aber schließlich befehle ich mir, damit aufzuhören. Ich habe diese Träume schon zu oft geträumt. Sie sind vergeblich, verachtenswert, unmoralisch und tückisch wie die Kakerlaken im Speisesaal.“


Inhalt


Roscoe T. Martin hat ein ganz besonderes Steckenpferd, denn er interessiert sich für Strom, für den Bau elektrischer Leitung und die Elektrifizierung der privaten Haushalte. Damit ist er einer der Wenigen, die im Alabama der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, ein Wissen besitzt, dass ihn zu etwas Besonderem macht.

Doch als seine Frau die väterliche Farm erbt, sieht er sich gezwungen, seinen Job aufzugeben, um fortan auf dem häuslichen Gut zu arbeiten. Dort geht es nur mäßig vorwärts, seine Frau macht ihn für den schlechten Betrieb verantwortlich und zeigt ihm die kalte Schulter, der neugeborene Sohn belastet die Ehe gleichermaßen. Roscoe gewinnt seinen Mitarbeiter und Freund Wilson für ein neues, großes Projekt. Er möchte die öffentlichen Stromleitungen anzapfen, um die Dreschmaschinen zu elektrifizieren und den Hof wieder wettbewerbsfähig zu machen – natürlich ohne Wissen der Stromlieferanten.

Tatsächlich gelingt ihm dieser Zapfenstreich, doch seine Freude ist nur von kurzer Dauer, nachdem ein Arbeiter der Stromfirma an einem elektrischen Schlag stirbt und die Machenschaften von Roscoe aufgedeckt werden. Die nächsten 20 Jahre soll er im Gefängnis verbringen, sein Freund in der Kohlemine und Marie, Roscoes Frau sitzt allein zu Haus … ein gärender Prozess zwischen begrabenen Träumen, traurigen Wahrheiten und dem Verlust vieler Lebensjahre beginnt.


Meinung


Der amerikanischen Autorin Virginia Reeves ist mit ihrem Debütroman, der es auf die Longlist des Man-Booker-Preises geschafft hat, ein kleines Kunstwerk gelungen, ein stiller sehr intensiver Roman über die Gerechtigkeit an sich , über Schuld und Versagen, über Verzeihen und jahrelanges Schweigen, über den Groll gegen die eigene Person und den unbarmherzigen Verlauf des Lebens. Für mich liegt der Wert dieses Buches in seiner Vielschichtigkeit gepaart mit einer alles umfassenden Traurigkeit und der bitteren Akzeptanz jener Dinge, die man einfach nicht ändern kann.


Inhaltlich gliedert die Autorin den Roman in drei Stationen: die Zeit vor dem Unfall, das Leben in Kilby Prison und die Rückkehr des Gefangenen nach dem Abgelten seiner Strafe. Erzählerisch sind es zwei Stimmen, die zu Wort kommen: einmal der übergeordnete Erzähler, der die Zusammenhänge kennt und alle Protagonisten vereint, zum anderen Roscoe Martin selbst, mit seiner Stimme aus dem Hintergrund, seinen Erfahrungen aus dem Gefängnis. Beide Varianten finde ich hervorragend gewählt, bestens umgesetzt und schlüssig erklärt. Die wechselnden Stränge bereichern dieses Buch, ohne es auseinanderzupflücken.


Eigentlich trifft dieser Roman genau meinen Nerv, denn die Geschichte vereint so viele Punkte des menschlichen Lebens, berührt wichtige Stationen und schafft eine Art Vertrauensbasis zu den Protagonisten. Irgendwie kann man sie alle verstehen, ohne ihnen wirklich nah zu kommen. Und gleichzeitig bleibt da eine Distanz, von der ich nicht sagen kann, ob sie gewollt ist oder nur so von mir empfunden wird. Die mit sich hadernden Protagonisten, ihre inneren Ansichten, ihre Werte und ihr Umgang miteinander, werfen mich zurück, lassen mich von außen auf ein trauriges, unabänderliches Schicksal blicken, dem man nichts entgegensetzen kann. Dafür ziehe ich einen Lesestern ab, denn so detailliert alle Empfindungen auch geschildert werden, so offen bleibt doch der Lernprozess. Immer wieder drängt sich hier die Frage auf: „Was lernt der Mensch aus seinen Fehlern? Warum kann er nicht einsehen, dass es seinen Wert nicht schmälert, wenn die Perfektion fehlt?“


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen stillen aber bitteren Roman. Glaubhafte Charaktere, gepaart mit einer interessanten Handlung, die tiefe Einblicke in das Leben innerhalb der Gefängnismauern bietet und darüber hinaus auch das Leben in Freiheit beleuchtet. Ein Dasein mit vielen inneren Dämonen, mit Menschen die etwas anderes wollen, die sich nicht mehr verstehen und deren Beziehungen sich ganz langsam und schleichend zersetzen. Begriffe wie Demut, Freundschaft und Akzeptanz kommen ebenso zur Sprache wie Melancholie und Vergessen. Wenn es doch nur gelungen wäre, die Menschen hinter der Geschichte nicht nur darzustellen, sondern ihnen eine echte Stimme zu geben, dann wäre dieser Roman tatsächlich ein Meisterwerk.