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Veröffentlicht am 03.02.2019

Aufwühlendes, beklemmendes Buch, das unheimlich wütend macht

Du wolltest es doch
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+ Achtung: Die Rezension enthält Spoiler! +


Inhalt

Eigentlich ist Emmas Leben ziemlich perfekt. Sie ist eines der beliebtesten Mädchen der Schule, wird um ihre Schönheit beneidet und hat viele Freunde. ...

+ Achtung: Die Rezension enthält Spoiler! +


Inhalt

Eigentlich ist Emmas Leben ziemlich perfekt. Sie ist eines der beliebtesten Mädchen der Schule, wird um ihre Schönheit beneidet und hat viele Freunde. Die meisten Mädchen wollen sein wie sie und die Jungen reißen sich um ihre Aufmerksamkeit. Emma genießt ihr Leben, nichts scheint ihr etwas anhaben zu können. Doch alles ändert sich, als sie auf einer Party Drogen nimmt und vom Trainer der Footballmannschaft vergewaltigt wird, der einfach nicht aufhört, als Emma ihn darum bittet. Doch der Abend wird noch viel schlimmer: Emma wird ohnmächtig und wird daraufhin von einer Gruppe Schulkollegen missbraucht. Die verabscheuungswürdige Tat wird gefilmt und fotografiert und landet auf Facebook. Schließlich ist es eine aufmerksame Lehrerin, die die Seite sieht und sich mit der Polizei in Verbindung setzt. Emma beschließt Anzeige zu erstatten. Eine Entscheidung, durch die sie in ein tiefes Loch fällt. Die ganze Stadt scheint sich gegen sie verschworen zu haben, stellt sich auf die Seite der Vergewaltiger und behauptet, Emma wäre eine Lügnerin. Ihr eher promiskuitives Liebesleben scheint der Beweis zu sein: Eigentlich wollte sie es doch…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Carlsen
Seitenzahl: 368
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens (selten auch Präteritum)
Perspektive: weiblicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet. Aber: Weil auch in diesem Roman eine Katze alleine gehalten wird, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Als ich dieses Buch entdeckt habe, war mir sofort klar, dass ich es unbedingt lesen musste. Als angehende Lehrerin, Frau und Feministin liegt mir dieses Thema und die gesellschaftlichen Strukturen, die damit in Verbindung stehen, am Herzen. Da es sich hier um ein Jugendbuch handelt, war ich natürlich sehr gespannt, wie die Autorin das Thema in ihrem Buch verarbeitet.

Meine Meinung

Hier gleich eine Warnung: Diese Rezension ist sehr, sehr lang geworden. Aber es gibt meiner Meinung nach zu diesem wichtigen Thema, das mir sehr am Herzen liegt, sehr viel zu sagen.

Einstieg (+/-)

Der Einstieg ist mir nicht ganz so einfach gelungen. Das lag an zwei Dingen: Zum einen passiert am Beginn lange Zeit nichts wirklich Spannendes (hier wird der Alltag der Hauptfigur geschildert), zum anderen fand ich Emma am Anfang sehr unsympathisch und wurde einfach nicht mit ihr warm. Dies hat sich aber im Laufe des Buches zum Glück geändert.

Schreibstil (+)

Feinfühlig und in einem einfachen, angenehm lesbaren Schreibstil, der für die Zielgruppe sehr gut geeignet ist, erzählt die Louise O’Neill Emmas Geschichte. Emmas bedrückende Gefühls- und Gedankenwelt wird intensiv und authentisch geschildert, immer wieder gibt es sehr bildhafte Beschreibungen und Einschübe und Fragen in Klammern, die oft jene Gedanken beinhalten, die die Heldin eigentlich nicht wahrhaben oder zulassen möchte.

„Dylan kniet auf dem Mädchen (‚auf mir, mir, aber das kann nicht ich sein, das bin nicht ich‘), legt die Hände auf das (auf mein … nein, ihr) Gesicht, als wollte er es verdecken. Sie hat kein Gesicht.
Sie ist nur ein Körper, eine lebensgroße Spielpuppe.
Sie ist ein Es. Ein Ding (‚ich, ich, ich, ich, ich‘).“ E-Book, Position 1605

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Louise O’Neill Beitrag zur aktuellen MeToo Debatte hat mehrere Preise erhalten und in Irland sogar Platz 1 der Bestsellerlisten erreicht. Das zeigt, dass die Bevölkerung sich mit diesem Thema auseinandersetzt und dafür zunehmend sensibilisiert wird. Die Geschichte ist in zwei Teile geteilt: Der erste davon beschäftigt sich mit Emmas Leben vor und kurz nach der Vergewaltigung, in der zweiten Hälfte springen wir ein Jahr in die Zukunft, wo wir als LeserInnen auf eine vollkommen veränderte Emma treffen. Louise O'Neill beschreibt die Welt nicht, wie sie sein sollte, sondern wie sie leider immer noch ist. Die Autorin versucht mit diesem Buch aufzurütteln, was ihr meiner Meinung nach ausgezeichnet gelingt.

Ich habe dieses Buch schon vor Wochen beendet, habe die Rezension aber vor mir hergeschoben, weil ich einfach nicht wusste, wie ich beginnen sollte, da mich dieses Buch so aufgewühlt hat. Womit ich nämlich nicht gerechnet habe, war die unbändige Wut, die in mir hochgekocht ist und eigentlich während der gesamten Lektüre in meinem Bauch gebrodelt hat. Was mich so wütend gemacht hat:

Der Umgang des Umfelds mit Emmas Trauma: Das beginnt schon einmal mit ihrem Bruder, der das Video online sieht und Emma erst einmal mitteilen muss, wie sehr er sich für sie schämt. Jeder Blinde hätte auf den ersten Blick erkannt, dass Emma bewusstlos war und missbraucht wurde! Auch die Eltern fand ich furchtbar. Der Vater ist enttäuscht, dass die Tochter offensichtlich vorher schon keine Jungfrau mehr war, und die Mutter, eine typische Hausfrau der alten Generation, die den einzigen Wert einer Frau in ihrem Aussehen und in ihren Hausfrauenqualitäten sieht, geht ebenfalls absolut falsch und unsensibel mit der Situation um. Sie kämpft nicht wie eine Löwin für ihre Tochter, sondern schämt sich und fragt sich ständig: „Was sollen denn die Leute denken?“

Am schlimmsten fand ich aber, dass sie „zur Feier des Tages“ Pfannkuchen für ihre Tochter macht, als diese sich entschließt, zu schweigen, die Anzeige zurückzuziehen und die Stadt nicht weiter gegen sich aufzubringen. Sie ist erleichtert, dass sie nun endlich alles totschweigen kann und so tun, als wäre es niemals geschehen. Die Eltern sind stolz auf ihre Tochter – darauf, dass sie sich selbst verrät.

Durch den Bruder (der sich weiterentwickelt), Connor und die engagierte Lehrerin, die vorbildlich handelt gibt es immerhin kleine Hoffnungsschimmer. Wäre Emmas Umfeld ein anderes, unterstützenderes, liebevolleres, das an ihrer Seite kämpft, dann wäre die Geschichte vermutlich anders ausgegangen und Emma würde ihr Trauma auch leichter verarbeiten können.

Auch viele andere strukturelle Probleme, die mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen, werden von der Autorin tiefgründig und kritisch behandelt. Daher möchte ich dieses Buch gerade jenen Menschen ans Herz legen, die immer noch glauben, dass wir Feminismus und Debatten wie #MeToo eigentlich gar nicht mehr brauchen. Schaut euch die Frauenfiguren in Videospielen an (meine Hassfigur ist hier „Quiet“ aus Metal Gear Solid V), schaut euch Filme und Werbung an. Fakt ist, wir haben immer noch massive Probleme mit Gleichberechtigung, Sexismus und Rollenstereotypen. Am schlimmsten finde ich jedoch, dass Victim blaming (dt. das Opfer beschuldigen) und Rape culture (dt. Vergewaltigungskultur) immer noch so stark in der Gesellschaft verankert sind. Wenn jemand vergewaltigt wird, wird oft nicht in erster Linie versucht, das Opfer zu unterstützen und den Täter zur Verantwortung zu ziehen. Viel öfter werden zuerst einmal Fragen gestellt: Hatte das Opfer nicht einen kurzen Rock an? Hatte es nicht diesen großen Ausschnitt? Hat sie Alkohol getrunken, den Kerl hereingebeten oder sich von ihm einladen lassen? Und dann kommt die verquere, traurige Schlussfolgerung: Ganz klar, sie war selbst schuld! Das muss endlich aufhören! Niemand ist selbst schuld, wenn ihm Gewalt widerfährt!

Frustrierend finde ich auch die Zeitungsartikel, die die Wirklichkeit verzerren und uns Frauen das Bild vermitteln, dass die größte Gefahr vom unbekannten Fremden ausgeht, der uns nachts in einer dunklen Gasse auflauert. Die Wahrheit sieht leider anders aus: Die größte Teil der Vergewaltigungen passiert im Familien-, Verwandten- und Freundeskreis – falls euch also jemals jemand so etwas Schlimmes antun sollte, wird es mit größter Wahrscheinlichkeit jemand sein, den ihr kennt und dem ihr vertraut. Nur wenige Taten werden angezeigt, weil es so selten zur Verurteilung kommt (laut Buch in Irland 1%). Viel zu oft steht Aussage gegen Aussage. Übrigens machen „erfundene“ Vergewaltigungen nur einen ganz kleinen Prozentsatz aus (die Dunkelziffer jener Fälle, die aus falschen Schuldgefühlen nicht angezeigt werden, ist hierbei weit höher), also bitte denkt daran, wenn ihr das nächste Mal einen Zeitungsartikel kommentiert, und dem Opfer vorwerft, dass es ja nur Aufmerksamkeit will.

Sehr anschaulich beschrieben hat die Autorin auch die unerklärlichen Schuldgefühle, die Opfer häufig haben. Emma fühlt sich schuldig, sie hat das Gefühl, sie hat das Leben ihrer Familie, der Täter, ihrer Freunde, der ganzen Stadt zerstört. Man möchte beim Lesen Emma umarmen und viele der sich furchtbar dumm verhaltenden anderen Figuren anschreien. Zwei große Probleme, die eng mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen, sind zum einen schädliche Rollenstereotypen (diese halten die Ungleichheit aufrecht) und Sexismus und zum anderen das intensive Slut shaming, das immer noch betrieben wird, oft auch von Frauen. Ein Mann, der ein aufregendes Liebesleben hat, ist ein Held, eine Frau hingegen eine Schla+++. Diese Doppelmoral und diese Versuche, Frauen kleinzuhalten und zu kontrollieren, müssen endlich aufhören. Wir haben das Jahr 2019 und es gibt keine Schla+++, Hu+++ und Bit+++ - nur Frauen, die ihr Liebesleben so gestalten, wie es ihnen gefällt. Und das ist ihr gutes Recht – Männer machen das schließlich schon immer! Darum: Wenn jemand in eurem Umfeld Slut shaming betreibt, sprecht es an, auch wenn es nicht immer leicht ist. Denn: Bewusstsein dafür zu schaffen, wie schädlich unser misogynes Verhalten ist, ist der erste Schritt in Richtung Veränderung. Und mein persönlicher Tipp: Menschen, die den „Wert“ einer Frau heutzutage immer noch an der Zahl ihrer Sexualpartner bemessen, einfach konsequent aus dem Freundeskreis aussortieren.

Auch dieses Konzept des Vaters, der die „Verehrer mit dem Knüppel“ abwehren muss oder der seiner Tochter sagt, dass sie erst mit 30 einen Freund haben dürfe, ist nicht mehr zeitgemäß. Warum darf der Sohn seine eigenen Erfahrungen machen, das Mädchen aber muss von Jungen ferngehalten werden? Kleiner Tipp an dieser Stelle: Aufklärung ist das Zauberwort, sie führt im Gegensatz zu zahlreichen Verboten wirklich zu weniger Teenagerschwangerschaften. Und meine Botschaft an junge Mädchen: Lasst euch nicht zu etwas drängen, was jemand anders will, sondern tut Dinge nur, wenn IHR sie wollt.

Louise O’Neill entscheidet sich in ihrem Buch für ein ungewöhnliches, ernüchterndes, frustrierendes, schmerzhaftes Ende, das aber leider glaubwürdig ist. Dieses Ende und der schädliche Umgang praktisch aller Menschen in Emmas Umfeld mit ihrem Trauma führen jedoch dazu, dass ich mir nicht sicher bin, ob dieses Buch für Jugendliche geeignet ist. Das Opfer leidet, die Bösen kommen mit ihren Taten davon und es gibt keine positiven Vorbilder und Strategien, die sich betroffene Mädchen abschauen können. Viel eher denke ich, dass sich beim Lesen ein Gefühl der Hilflosigkeit einstellen wird, das Gefühl, nichts gegen so eine Tat tun zu können. Daher: Für Erwachsene ist dieses aufrüttelnde, eindringliche Buch sicher perfekt geeignet, für Schüler*innen / Jugendliche nur, wenn das Buch im Unterricht behandelt und intensiv nachbearbeitet wird.

Protagonistin und Figuren (+/-)

Die Autorin hat hier etwas sehr Mutiges gewagt: Sie wählt eine Hauptfigur, die am Beginn sehr oberflächlich, arrogant und egoistisch ist, zu der man keine Sympathien aufbauen kann. Doch gerade anhand dieser schwierigen Heldin wollte Louise O’Neill zeigen, dass niemand, auch Emma, eine Vergewaltigung verdient hat und wie eine solche Tat das Leben auch einer selbstbewussten, beliebten jungen Frau zerstören kann. Die Emma, die wir im zweiten, noch viel bedrückenderen Teil der Geschichte kennenlernen, ist eine veränderte, zerstörte Emma, die unter Depressionen leidet, das Haus nicht mehr verlässt und mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Beiläufigkeit und Nüchternheit, mit der Emma ihre Selbstmordgedanken erwähnt, schockiert. Dieses Thema behandelt die Autorin sehr glaubwürdig, aber auch deswegen könnte das Buch für Jugendliche sehr schwer zu verdauen sein.

Die anderen Figuren sind gut ausgearbeitet, auch wenn bei manchen (z. B. beim Vater) noch Luft nach oben ist und auch wenn manche nur eine kleine Rolle in der Geschichte erhalten. Macht euch beim Lesen jedoch dafür bereit, auf ein außergewöhnlich unsympathisches Figurenensemble zu treffen, das eure Geduld auf eine harte Probe stellen wird.

„(Gleichzeitig wünschte ich mir, ich könnte davontreiben. Ich wünschte, ich könnte mich in so viele kleine Stücke zerschneiden, dass nichts mehr von mir übrig bleibt.)“ E-Book, Position 3127

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Nicht ganz so gut gefallen hat mir, dass die Autorin zum einen wichtige Schlüsselszenen / lange Zeitabschnitte übersprungen hat (das Verhör der Polizei etc.), während der ich Emma gerne begleitet hätte. Das hätte auch die Bindung zu ihr noch verstärkt. Zum anderen fand ich das Buch teilweise, in jenen Abschnitten, in denen nichts Nennenswertes passiert (z. B. am Anfang) oder in denen sich die Handlung im Kreis dreht, etwas langatmig. Wenn man an solchen Stellen gekürzt hätte, wäre das Buch noch knackiger, intensiver und besser geworden. Trotzdem wollte ich immer unbedingt wissen, wie es weitergeht, eine Grundspannung war also vorhanden. Louise O’Neill gelingt es, eine sehr beklemmende Atmosphäre zu kreieren, die für viel Wut, Mitgefühl und Frust sorgt.

Feministischer Blickwinkel (♥)

Viele weibliche und männliche Figuren sind im Buch sehr stereotyp (was Geschlechterrollen betrifft) dargestellt. Da die Autorin dies jedoch macht, um damit aktuelle gesellschaftliche Probleme zu kritisieren und dafür Bewusstsein zu schaffen, ist das natürlich positiv. Überhaupt hat die Autorin für ihren Mut, ihr ehrliches, kritisches Nachwort und die gelungene Verarbeitung der schwierigen (und doch so wichtigen) Themen nur eines verdient: ganz viel Lob und Anerkennung!

Mein Fazit

„Du wolltest es doch“ ist ein aufwühlender, beklemmender Jugendroman, der vielen Menschen die Augen öffnen wird und der sehr wütend macht. In einem angenehmen, einfachen und doch sehr intensiven Schreibstil erzählt die Autorin Emmas Geschichte und thematisiert dabei authentisch, feinfühlig und tiefgründig Themen wie Vergewaltigung, Sexismus, Slut shaming, Victim Blaming und Genderstereotypen. Für ihren Mut, eine zu Beginn eher unsympathische Figur zur Protagonistin ihres Buches zu machen und für ihre gelungene Kritik schädlicher gesellschaftlicher Strukturen, die Frauen immer noch benachteiligen, hat die Autorin vor allem eines verdient: viel Lob und Anerkennung. Aufgrund der beklemmenden Atmosphäre, des schädlichen Verhaltens fast aller im Buch vorkommenden Figuren und aufgrund des zwar realistischen, aber sehr frustrierenden, ernüchternden Endes, das zu Gefühlen der Hilflosigkeit führen kann, würde ich das Buch Jugendlichen allerdings nur empfehlen, wenn es im Anschluss in der Schule / zu Hause intensiv nachbesprochen wird.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses gelungene Buch bekommt von mir 4 Lilien!

Veröffentlicht am 09.12.2018

Lesenswerter Klassiker, der auch heute seine Wirkung nicht verfehlt

Rubinroter Dschungel
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Molly Bolt wächst in den 50er-Jahren in den Südstaaten auf. Sie ist ein Adoptivkind, die Beziehung zur konservativen Mutter, die eine perfekte Hausfrau aus Molly machen ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Molly Bolt wächst in den 50er-Jahren in den Südstaaten auf. Sie ist ein Adoptivkind, die Beziehung zur konservativen Mutter, die eine perfekte Hausfrau aus Molly machen möchte, ist schwierig, und auch sonst scheint das selbstbewusste, intelligente und willensstarke Mädchen nicht in ihr Umfeld zu passen. Gesellschaftliche Erwartungen sind Molly schon im Kindesalter egal, ohne Scham und sehr neugierig experimentiert sie mit ihrer Sexualität und findet früh heraus, dass sie lesbisch ist. Molly will Regisseurin werden und hat große Pläne, und als sie endlich ein Stipendium für eine Filmhochschule in New York erhält, scheinen sie endlich in greifbare Nähe zu rücken…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 304
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Molly Bolt)
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: + Eine der Figuren arbeitet zwar im Metzgerladen und es wird einmal Lammeintopf verzehrt, jedoch werden in der Geschichte selbst keine Tiere verletzt oder getötet. Weil auch in diesem Roman eine Katze alleine gehalten wird, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Das Cover des Romans fand ich zunächst eher nichtssagend, als ich dann jedoch herausfand, dass es sich bei „Rubinroter Dschungel“ um die Neuveröffentlichung eines Klassikers der feministischen Literatur handelt, der erstmals 1973 erschienen ist, war meine Neugier geweckt. Als Feministin bin ich an dieser Art von Literatur natürlich immer interessiert, besonders spannend fand ich es natürlich, herauszufinden, wie feministische Literatur in den 70er-Jahren geschrieben wurde und wie aktuell sie heute noch ist!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg gelang mir ohne Probleme, Mollys charmant direkte, selbstbewusste Erzählstimme hat mich sofort meinen Weg in die Geschichte finden lassen.

„‘Du kannst kein Arzt sein. Nur Jungens können Ärzte werden. Leroy muß der Arzt sein.‘
‚Du hast sie ja nicht mehr alle, Spiegelglass, Leroy ist dümmer als ich. Ich muß unbedingt der Arzt sein, da ich die Gescheitere bin, und ob man ein Mädchen ist, spielt dabei keine Rolle.‘“ E-Book, Position 443

Schreibstil (+)

Auch der Schreibstil der Autorin konnte mich überzeugen, er zeigt sich am Beginn des Buches noch kindlicher und wird dann gemeinsam mit Molly langsam erwachsen. Die Sprache ist flüssig und angenehm, anschaulich, emotional, dabei oft entwaffnend direkt und ungeniert, die Dialoge sind lebendig und wirken echt. Ich war sehr überrascht davon, wie sehr bei Mollys sexuellen Experimenten ins Detail gegangen wird, wie „schamlos“ und unbefangen ihre Beziehungen und ihre Denkweise geschildert werden – vor allem, wenn man bedenkt, dass dieses Buch in den 70er-Jahren im prüden Amerika erstmals erschienen ist. Immer wieder kommt es zu kuriosen Situationen, die ihre eigene Art von Humor entfalten und mich mehrmals zum Schmunzeln oder Lachen gebracht haben.

„‘Du muss doch wenigstens ‚etwas‘ von dem tun, was alle machen. Sonst mögen die Leute dich nicht.‘
‚Ist mir egal, ob sie mich mögen oder nicht. Jeder ist blöd, das ist es, was ich denke. Mir ist wichtig, daß ich mich mag, das ist mir wirklich wichtig.‘“ E-Book, Position 528

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Rita Mae Browns Entwicklungsroman, der sich hauptsächlich mit dem Erwachsenwerden und der Emanzipation der Protagonistin, mit den Themen Selbstbestimmung und sexuelle Freiheit beschäftigt, ist von der Biografie der Autorin stark beeinflusst. Molly wächst in der Unterschicht auf, an einem Ort und zu einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Erwartungen und die Forderung nach traditionellen Rollenbildern erdrückend waren. Wie revolutionär dieses Buch damals gewesen sein muss, kann man sich aus heutiger Sicht vermutlich kaum vorstellen. Nicht nur bricht die Protagonistin radikal mit Genderstereotypen, sondern sie ist noch dazu eine „Lesbierin“, eine, die „andersrum“ ist. Damals wurde ein solches Verhalten noch als krankhaft angesehen, als therapierbar. Die junge Molly, die trotz ihrer konservativen Erziehung beeindruckend moderne Einstellungen entwickelt, muss schnell lernen, dass die Chancen für Frauen und Homosexuelle im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ganz und gar nicht unbegrenzt sind. Im Gegenteil, sie muss sich mit Sexisten, Konservativen und Homophoben herumschlagen, erleidet immer wieder harte Rückschläge (obwohl sie intelligent, talentiert und ehrgeizig ist) – und hört dennoch nie auf, für ihre Träume zu kämpfen.

Die Autorin erzählt eine authentische Geschichte, die uns die vielen (unerwarteten) Wendungen vor Augen führt, die ein Menschenleben oftmals nimmt. Die Autorin kritisiert die Gesellschaft, behandelt viele wichtige Themen wie Rassismus, Sexismus und Homophobie mit der nötigen Tiefe und zeigt auf, wie uns unsere Herkunft prägt und unsere Chancen und Möglichkeiten bestimmt. Auch das Ende fand ich gelungen – vor allem, weil es so offen ist, kann es Denkprozesse anstoßen und zum Nachdenken anregen.

Obwohl man merkt, dass die Gesellschaft damals noch viel engstirniger und konservativer war und obwohl man heutzutage mit vielen der beschriebenen, diskriminierenden Verhaltensweisen glücklicherweise nicht mehr durchkommen würde, verfehlt „Rubinroter Dschungel“ auch im Jahre 2018 nicht seine Wirkung, denn: Kein Land der Welt hat bisher absolute Gleichstellung erreicht, immer noch haben wir massive Probleme mit Sexismus, Rassismus und Homophobie in unserer modernen Gesellschaft, und manche der diskriminierenden Aussagen im Buch kann man (leider!) bestimmt auch heute noch genau so hören. „Rubinroter Dschungel“ verdeutlicht uns, dass schon ein großes Stück des Weges hinter uns liegt, erinnert uns aber gleichzeitig auch daran, dass wir noch einiges vor uns haben.

Protagonistin & Figuren (♥)

Molly Bolt ist eine wunderbare Protagonistin mit einem ganz eigenen Charme. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, ist intelligent, wissbegierig, mutig, stark, wild (manchmal vielleicht sogar schon etwas zu wild) und furchtlos, liebt ihre Freiheit und lässt sich von niemandem sagen, wie sie zu sein und was sie zu tun hat. So rennt sie als Kind mit zerrissenen Kleidern auf den Feldern herum, weigert sich, Kleider zu tragen und schwört sich, niemals zu heiraten. Molly ist mit Sicherheit eine starke Frau mit Vorbildwirkung – es ist zweifellos beeindruckend, welche klaren Ziele sie sich setzt und wie zielstrebig sie diese verfolgt. Egal, welche Hindernisse ihr in den Weg geworfen werden: Sie klettert einfach drüber und weigert sich, aufzugeben – auch wenn sie es als Frau, als Arme, als Lesbe viel schwerer als die meisten anderen hat.

Auch die anderen Figuren sind großteils liebevoll gezeichnet (wenn auch nicht immer sympathisch!), auch wenn viele Molly nur sehr kurz auf ihrem Lebensweg begleiten. Besonders beeindruckt und gerührt hat mich Mollys Vater, der als Einziger das Potential seiner Tochter erkennt und fest entschlossen ist, ihr ein besseres Leben zu ermöglichen.

„‘Molly wird aufs College gehen.‘
‚Große Worte.‘
‚Meine Tochter geht aufs College.‘“ E-Book, Position 574

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Ich war ständig neugierig, wie es weitergeht, und bin Molly sehr gerne in der Geschichte gefolgt. Dennoch wäre das Buch meiner Meinung nach noch besser geworden, wenn man ihm Mittelteil noch etwas mehr Spannung beigefügt hätte. Sehr gut gefallen haben mir die glaubwürdigen, ungeschönten Milieubeschreibungen und die Südstaatenatmosphäre in den 50ern, die die Autorin auf den ersten Seiten heraufbeschwört.

„‘Ich begann mich zu fragen, ob Mädchen Mädchen heiraten können, weil ich mir sicher war, daß ich Leota heiraten und für immer in ihre grünen Augen sehen wollte. Aber ich sollte sie nur heiraten, wenn ich nichts mit der Hausarbeit zu tun hätte.‘“ E-Book, Position 631

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)

Dieses Buch ist nicht grundlos zum Klassiker feministischer Literatur geworden, sondern kritisiert Sexismus, Rassismus und Homophobie wirkungsvoll. Die starke Protagonistin beeindruckt und hat Vorbildwirkung. Einen winzigen Kritikpunkt gibt es trotzdem: Mollys leichte Oberflächlichkeit, ihr Bodyshaming, ihre Fixierung auf Äußerlichkeiten und die seltene Verwendung von frauenfeindlicher / homophobe Sprache (die aber teilweise notwendig sind, um das Milieu zu charakterisieren).

Mein Fazit

Rita Mae Browns biographisch beeinflusster Entwicklungsroman ist nicht grundlos zu einem Klassiker feministischer Literatur geworden. „Rubinroter Dschungel“ schildert nicht nur authentisch das Aufwachsen, die Selbstfindung und den hindernisreichen Lebensweg einer jungen, lesbischen Frau, die in den 50er Jahren in Amerika geboren wird, sondern kritisiert gleichzeitig die Gesellschaft wirkungsvoll. Der Schreibstil ist flüssig, emotional und entwaffnend direkt, die Protagonistin zeigt sich intelligent, mutig und stark, und die wichtigen Themen werden von der Autorin mit der nötigen Tiefe behandelt. Lediglich etwas mehr Spannung hätte es im Mittelteil sein dürfen. Sein Alter merkt man dem Buch an den Mietpreisen und an der noch engstirnigeren, konservativeren Gesellschaft an, dennoch verfehlt „Rubinroter Dschungel“ auch im Jahre 2018 nicht seine Wirkung, denn: Kein Land der Welt hat bisher absolute Gleichstellung erreicht und immer noch haben wir massive Probleme mit Sexismus, Rassismus und Homophobie. „Rubinroter Dschungel“ verdeutlicht uns, dass schon ein großer Teil des Weges in eine gleichberechtigte, offene, friedliche Gesellschaft hinter uns liegt, erinnert uns aber gleichzeitig auch daran, dass wir noch ein großes Stück vor uns haben. Deshalb: Bitte (noch) nicht die Beine hochlegen!

Leseempfehlung: Jenen LeserInnen, die sich für das Thema interessieren, sei dieses Buch ans Herz gelegt!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 4-5 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4-5 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an, denn vieles, was kritisiert wird, ist leider heute noch aktuell!

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 Lilien!

Veröffentlicht am 11.10.2018

Gelungenes, sensibel geschriebenes Jugendbuch

Der nächstferne Ort
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Spoilerfreie Rezension

Inhalt

Das Schlimmste, was Kindern überhaupt passieren kann, widerfährt dem 15-jährigen Dylan und seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Griff: Bei einem schrecklichen Autounfall ...

Spoilerfreie Rezension

Inhalt

Das Schlimmste, was Kindern überhaupt passieren kann, widerfährt dem 15-jährigen Dylan und seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Griff: Bei einem schrecklichen Autounfall verlieren sie beide Eltern und sind nun auf sich gestellt. Eine schwierige, schmerzhafte Zeit der Trauerverarbeitung beginnt und die Brüder müssen ihren neuen in Platz in ihrem veränderten Leben erst finden. Dylan tut sein Bestes, um Griff dabei zu unterstützen, auch wenn dieser manchmal alle von sich wegstößt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Königskinder Verlag
Seitenzahl: 336
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: ♥ Es werden keine Tiere im Buch verletzt oder getötet – im Gegenteil, die Jungen entwickeln eine Freundschaft zu zwei Katzen und einem Hund und behandeln diese sehr liebevoll. Wichtig ist mir, an dieser Stelle zu betonen, dass Katzen unbedingt immer mindestens zu zweit gehalten werden müssen, da sie KEINE Einzelgänger sind. Kleine Kätzchen und reine Wohnungskatzen alleine zu halten ist besonders grausam, da der Mensch einen Katzenfreund niemals ersetzen kann. Auf Dauer werden aufgrund von Einsamkeit dann oftmals Depressionen und Verhaltensstörungen wie Aggressivität und exzessives Kratzen an Möbeln entwickelt. Wer also seine Katze liebt, schenkt ihr einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang einfach berührend, und ich habe im Vorfeld einige begeisterte LeserInnenstimmen gehört. Daher führte an diesem Buch kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg hat mir gut gefallen, denn hier lernt man Dylans und Griffs Familie genauer kennen und bemerkt sofort ihre liebevollen Neckereien untereinander und den Humor der Eltern. Das ist wichtig, da auf diese Weise aufgezeigt wird, wie glücklich die Kindheit der beiden Brüder bis zu diesem Punkt war. Umso schockierender endet das Kapitel dann, als die Familie auf der Rückfahrt aus dem Urlaub in einen furchtbaren Unfall verwickelt wird. Natürlich wollte ich sofort weiterlesen und herausfinden, wie Griff und Dylan mit diesem unaussprechlichen Verlust umgehen.

"Alles bleibt stehen, als würde man bei einem Film die Pausentaste drücken, und nichts wird mehr so sein, wie es war." E-Book, Position 166

Schreibstil (+)

Der Schreibstil ist für junge LeserInnen ab 14 Jahren sehr gut geeignet, auch wenn mir scheint, dass ältere Jugendliche damit bereits unterfordert sein könnten, da er doch recht einfach ist und keine wirkliche Herausforderung darstellt. Hayley Long schreibt angenehm und flüssig, wird dabei aber niemals oberflächlich, sondern geht besonders bei den Gefühlen, Gedanken und Reflexionen der Hauptfigur in die Tiefe. Durch diese intensive Schilderung der Innenwelt fällt die Identifikation mit dem Protagonisten leicht und man ist schnell emotional involviert.
Interessant und auffällig ist die Formatierung des Textes, die ebenfalls zur Emotionalität beiträgt: So werden geschriene Worte größer gedruckt und geflüsterte Sätze ganz klein und zart. Auch diese Besonderheit konnte mich überzeugen, weil die Gestaltung sich innovativ zeigt und alle Ebenen nutzt, um die Gefühle der Figuren zu vermitteln.

„Wobei ‚groß‘ nur ein Wort ist. Es sagt für sich genommen eigentlich nicht viel aus. Groß kann alles bedeuten, wenn man nicht weiß, wie groß die Größe ist.“ E-Book, Position 468

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Die Autorin beschäftigt sich in diesem Buch mit einem Thema, das schon unzählige Male in der Literatur behandelt wurde: Trauer und ihre Verarbeitung und Bewältigung. Dennoch findet Hayley Long ihren ganz eigenen Zugang und schreibt eine leise, aber kraftvolle Geschichte für Jugendliche, in der das Thema altersgerecht und angemessen aufbereitet wird. Trotz des schlimmen, schmerzhaften Verlustes, ist die Stimmung dabei niemals deprimierend, sondern enthält immer wieder hoffnungsvolle und positive Momente, die zeigen, dass das Leben weitergeht. Und dass das genau so sein muss, weil die Toten nichts davon haben, wenn die Lebenden in Hoffnungslosigkeit versinken. Die Geschichte zeigt auch, dass das Schwelgen in Erinnerungen an „bessere Zeiten“ zum Trauern dazugehört, dass man dabei jedoch niemals die Zukunft aus den Augen verlieren darf.

Die Geschichte beschäftigt sich zusätzlich mit vielen weiteren Aspekten: Es geht um elterliche und besonders brüderliche Liebe, um gute Menschen, die eine Stütze sind, um das Schließen neuer Freundschaften und um die Frage, was eine Heimat eigentlich ausmacht. Besonders gut gefallen hat mir auch, dass gezeigt wurde, welche positive Wirkung Tiere auf trauernde Menschen haben können. Wer selbst eine Katze, einen Hund oder einen anderen tierischen Gefährten besitzt, weiß, dass auch der größte Schmerz nur mehr halb so schlimm scheint, wenn etwas Flauschiges um die Beine streicht oder sich an einen schmiegt. Die Autorin bemüht sich sichtlich, die Themen tiefgründig zu behandeln und meist gelingt ihr das auch. Manchmal hatte ich aber das Gefühl, dass an manchen Stellen das Potential nicht vollständig genutzt werden konnte, dass manches nur angerissen und nicht so detailliert ausgearbeitet wurde, wie ich mir das gewünscht hatte. Hier vermute ich auch, dass es eventuell einfach daran lag, dass ich nicht mehr in die Zielgruppe falle.

Manche Momente fand ich wirklich intensiv, kraftvoll und ganz stark und erschütternd beschrieben, andere konnten mich nicht erreichen. Beim Lesen blieb manchmal eine gewisse Distanz zu den Figuren, das Buch konnte mich an solchen Stellen leider nicht so berührend und emotional mitnehmen, wie ich mir das gewünscht hätte. So kam es, dass ich im Gegensatz zu vielen anderen Menschen niemals beim Lesen weinen musste (einmal war ich immerhin kurz davor), obwohl ich eigentlich ein sehr emotionaler Mensch bin. Das Ende fand ich dann aber sehr gelungen und berührend, ich mochte es sehr.

„Meine Mum und mein Dad haben nie etwas aufbewahrt. ‚Wir sind wie rollende Steine‘, hatte meine Mutter mehr als ein Mal erklärt, ‚wir setzen kein Moos an.‘“ E-Book, Position 587

Protagonist & Figuren (+/-)

Dylan konnte mich als Protagonist überzeugen, ich mochte seine ruhige, nachdenkliche Art und fand es ganz wunderbar, wie er auf seinen Bruder aufpasst und ihm hilft, diese schwierige Zeit durchzustehen. Auch Griff war mir sympathisch, auch wenn es oft schwer ist, herauszufinden, was in ihm vorgeht, da er seine Trauer oft durch Rückzug, Wut und Verschlossenheit zeigt. Sein Verhalten, diesen Kampf mit den Emotionen, beschreibt die Autorin im Buch wirklich sehr authentisch. Dylan kam mir interessanterweise beim Lesen immer viel jünger vor als 15 Jahre. Auf mich wirkten aber beide Jungen für ihr Alter noch recht kindlich, bei Dylan war mir das stellenweise etwas zu viel.

Die Nebenfiguren waren ebenfalls gut ausgearbeitet, erhalten Stärken, Schwächen und sind interessante Persönlichkeiten. Besonders gern mochte ich hier natürlich wieder die tierischen Mitbewohner, deren bedingungslose Liebe und Unterstützung sehr anschaulich geschildert wurden. Dennoch konnten mich die Nebencharaktere nicht ganz erreichen und begeistern, es blieb eine gewisse Distanz, auch hier hätte ich mir bei manchen Figuren mehr Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Tiefe gewünscht.

„Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mir die Fernbedienung geschnappt und diese ganze schreckliche Geschichte einfach weggezappt. Und dann wäre ich losgerannt zum nächstfernen Ort und für immer dort geblieben.
Doch das ging nun mal nicht.
Weil da noch andere Leute mit mir in diesem Film waren. In diesem Auto.
Und einer von ihnen brauchte mich.“ E-Book, Pos. 179

„Und in diesem Augenblick wollte ich ihn unbedingt berühren. Ich musste einfach. Also nahm ich seine Hand, so wie Eva vorhin, und versuchte es noch einmal. ‚Es geht jetzt nur um dich, Griff,‘ flüsterte ich. ‚Nur um dich. Und ich verspreche dir, dass ich stark sein werde und dir da durchhelfe.‘“ E-Book, Position 311

Spannung & Atmosphäre (+)

Nach dem schrecklichen Unfall am Beginn des Buches wollte ich unbedingt wissen, wie es den Jungen mit ihrer Trauer ergehen würde und ich habe sie gerne auf ihrem Weg begleitet. Auch wenn „Der nächstferne Ort“ ein ruhiges, stilles Buch ist, wurde mir beim Lesen niemals langweilig. Eine wirklich überraschende Wendung, mit der ich in diesem Jugendbuch niemals gerechnet hätte, hat die Autorin übrigens auch eingebaut. Nur wenige Seiten vor der Enthüllung wusste ich plötzlich viele kleine Puzzlesteinchen und Zeichen zu deuten. Hayley Long hat das extrem geschickt gemacht – wenn man sich manche Szenen im Nachhinein noch einmal durchliest, wird das besonders deutlich (weshalb ich es euch dringend empfehlen möchte). Toll!

Geschlechterrollen (+)

Hier gibt es kaum etwas auszusetzen, die Frauen im Buch sind stark und selbstbewusst und lassen sich nichts gefallen. Dabei haben sie angesehene Berufe und arbeiten in Führungspositionen. Lediglich entsteht das Gefühl, dass die Frauen vermehrt zu Hause kochen, hier hätte ich mir gewünscht, das auch einmal bewusst ein Mann beim Kochen gezeigt wird.

Mein Fazit

„Der nächstferne Ort“ ist ein gelungenes Jugendbuch, das schwierige Themen wie Trauer(bewältigung), Freundschaft, Hoffnung, Liebe und die Frage danach, was eine Heimat ausmacht, gelungen, tiefgründig und altersadäquat behandelt. Der einfache, angenehme Schreibstil mit seiner besonderen, innovativen Formatierung und seiner eindringlichen Schilderung der Gefühle und Gedanken der Figuren konnte mich ebenso überzeugen wie die liebevolle Zeichnung des Protagonisten und der vollkommen unerwartete Twist. Bei einigen Nebenfiguren hätte man noch mehr in die Tiefe gehen können, ich hätte mich stellenweise über noch etwas mehr Unverwechselbarkeit, Tiefe und Einzigartigkeit gefreut. Trotz der Bemühungen der Autorin und manch erschütternder, kraftvoller, intensiver Szene war bei mir in anderen Momenten eine gewisse Distanz zur Geschichte vorhanden und ich habe leider nicht so mitgelitten und war nicht emotional so stark involviert, wie ich mir das gewünscht hätte. Kurz: „Der nächstferne Ort“ ist ein überzeugendes, sensibel geschriebenes Jugendbuch, das mir gut gefallen hat und das ich ohne Zögern Jugendlichen empfehlen würde – um ein absolutes Lieblingsbuch zu sein, fehlte mir aber hier und da das gewisse Etwas.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Einstieg: 4,5 Sterne
Schreibstil: 4 Stern
Protagonist: 4 Sterne
(Neben)Figuren: 3-4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 3-4 Sterne
Geschlechterrollen: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 28.07.2018

Locker-flockiger Jugendroman mit einem Protagonisten, der einem schnell ans Herz wächst

Love, Simon (Filmausgabe) (Nur drei Worte – Love, Simon)
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Kurzrezension mit leichten Spoilern, die länger geworden ist als erwartet.

Inhalt

Schon seit einiger Zeit tauscht der 17-jährige Simon sich mit Blue, einem Schüler seiner Schule, per Mail über seine ...

Kurzrezension mit leichten Spoilern, die länger geworden ist als erwartet.

Inhalt

Schon seit einiger Zeit tauscht der 17-jährige Simon sich mit Blue, einem Schüler seiner Schule, per Mail über seine Wünsche und Geheimnisse aus. Eines dieser Geheimnisse ist die Tatsache, dass Simon wie Blue schwul ist, er allerdings noch nicht bereit ist, sich zu outen. Eines Tages findet jedoch ein Mitschüler die Mails auf dem Schulcomputer und beginnt, Simon systematisch damit zu erpressen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Balzer & Bray / Harperteen
Seitenzahl: 336
Altersempfehlung: 12-17 Jahre
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Cat)
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: + Es wird zwar beschrieben, dass der Protagonist früher gerne angelte, jedoch werden alle Tiere, die im Buch vorkommen (Bieber, der Hund der Familie) sehr gut behandelt und sehr geliebt.

Warum dieses Buch? Verfilmung?

Dafür gab es viele Gründe: Das Buch hat wahnsinnig gute Bewertungen, wird von einem großen Hype umrankt, beschäftigt sich mit einem interessanten Thema (besonders als angehende Lehrerin interessant) und wurde gerade verfilmt. Zum Film möchte ich übrigens gleich eines sagen: Mir hat er wirklich unheimlich gut gefallen, vielleicht sogar besser als das Buch. Ich habe Tränen gelacht, es gab aber ebenso ernste, traurige und wütend machende Momente. Daher möchte ich euch (und engstirnigen / konservativen / homophoben Menschen sowieso) den Film dringend ans Herz legen!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Die Story startet mit dem Tag, an dem ein Mitschüler die Mails findet. Ich habe sofort in die Geschichte gefunden und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

Schreibstil (+)

Der Schreibstil ist sehr einfach, flüssig und angenehm zu lesen, wenn auch nicht besonders poetisch oder erinnerungswürdig. Becky Albertallis locker-flockige, humorvolle Art zu erzählen und die positive, fröhliche Grundstimmung im Buch machen die Lektüre zu einem kurzweiligen, unterhaltsamen Leseerlebnis (perfekt bei einem Jugendroman).

„It was like he had pulled the ideas from my head.
Like the way you can memorize someone’es gestures but never know their thoughts. And the feeling that people are like houses with vast rooms and tiny windows.“ E-Book, Position 451

Englisch (Schwierigkeit 1/3) – leicht

Wenn ihr gerade noch überlegt, ob ihr euch dieses Buch auf Englisch zutrauen könnt: Ja, definitiv – der einfache Schreibstil macht es auch WiedereinsteigerInnen leicht, der Geschichte zu folgen (das Buch eignet sich daher perfekt für Wortschatzarbeit). Mein Tipp: Auf einem E-Reader lesen, dann können die max. 2-3 unbekannten Wörter pro Seite bequem nachgeschlagen werden (meist sind sie aber auch problemlos aus dem Kontext erschließbar).

Inhalt, Themen, Botschaften, Ende & eine kleine Anekdote zum Thema Homophobie unter jungen Menschen (♥)

Abwechselnd begleiten wir Simon und erhalten Einblick in die Mails zwischen ihm und Blue; diese beiden Teile der Geschichte greifen immer perfekt ineinander und verraten uns viel über Simons Innenleben.

Der Jugendroman behandelt Themen, die für die Zielgruppe (aber auch Erwachsenen sei dieses Buch ans Herz gelegt!) relevant sind, wie Selbstfindung, Abnabelung von der Familie, Freundschaft, erste Liebe, Mobbing, Vertrauen und die Konsequenzen von Fehlern. Natürlich steht aber auch noch ein anderes wichtiges Thema im Fokus: der Umgang mit der eigenen Homosexualität und die Befürchtungen rund ums bevorstehende Outing. Ich finde es toll, dass dieses Buch verfilmt wurde, denn so erreicht es bestimmt noch mehr Menschen, fördert damit Toleranz, enttarnt Vorurteile und ermutigt und unterstützt vielleicht sogar so manche/n Betroffene/n. Denn leider werden Homosexuelle immer noch angefeindet, beleidigt oder sogar angegriffen.

Leider ist mir nämlich in letzter Zeit vermehrt aufgefallen, dass immer noch viele Jugendliche und Kinder extrem von ihren konservativen, homophoben Elternhäusern geprägt sind, dass sie nichts über das Thema wissen und bei einem Outing immer noch Angst vor Mobbing haben müssen („Du bist schwul!“ ist immer noch eine beliebte Beleidigung). Dazu eine winzige Anekdote aus dem NachhilfelehrerInnen-Alltag (ich verspreche, dass dies der einzige Bereich sein wird, indem ich das selbstauferlegte Wortlimit sprengen werde): Vor einigen Monaten gab ich einer Gruppe aus mehreren Jungen im Alter von etwa 12-14 Jahren Nachhilfe. Nachdem „schwul“ als Beschimpfung eingesetzt wurde, sagte ich: „Na, und selbst wenn er schwul wäre, wäre doch nichts dabei. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, heute darf jeder so leben, wie es ihm gefällt und wie es ihn glücklich macht. Egal ob er Männer oder Frauen oder beides liebt.“ Erstaunt und traurig gemacht hat mich die Reaktion der Kinder: Mit schockiert eingefroren Gesichtern warfen sie sich gegenseitig unsichere, beschämte Blicke zu, als hätte ich gerade etwas absolut Entsetzliches, Schockierendes gesagt wie zum Beispiel ein derbes Schimpfwort. –> Das war mein persönlicher Facepalm-Moment in der letzten Zeit. Das alles hat sich in einer eher ländlichen Gegend abgespielt, dennoch ist die Intoleranz der Jugendlichen für mich unglaublich. Bestimmt hat noch niemand mit ihnen über das Thema gesprochen, etwaige schwule, lesbische oder bisexuelle KlassenkameradInnen haben es mit Sicherheit sehr schwer.

Die Beschäftigung mit dem Thema (es war wichtig, wurde aber nicht irgendwie übertrieben in den Mittelpunkt gerückt, sondern als natürlicher Teil von Simons Leben präsentiert) hat mir an sich gut gefallen, jedoch hätte man beim Dekonstruieren von Klischees und Vorurteilen und generell bei manchen Aspekten noch mehr in die Tiefe gehen können. Hierfür gibt es einen Stern Abzug.

Protagonist (♥)

Simon ist ein komplexer, sich selbst reflektierender, sehr sympathischer Protagonist, der mir beim Lesen durch sein großes Herz und seine authentisch geschilderten Probleme und Ängste sofort ans Herz gewachsen ist. Die meisten Jugendlichen (egal ob weiblich oder männlich) werden sich mit ihm identifizieren können, und auch ich wurde durch die Schilderungen davon, wie er sich durch den täglichen High-School-Wahnsinn kämpft, an meine eigene Schulzeit zurückversetzt.

Figuren (+)

Auch die anderen Figuren sind großteils liebevoll gezeichnet, manche Figuren und ihre Beziehungen untereinander (z. B. Nora, Simons Schwester) hätte die Autorin hierbei noch genauer ausbauen / ausarbeiten können.

Spannung & Atmosphäre (+)

Es wird niemals langweilig, Becky Albertalli kreiert eine Geschichte, deren Ausgang man unbedingt erfahren will. Immer wieder gibt es positive und negative Höhepunkte in Simons Leben, bei denen ich richtig mitfühlen, mitleiden und mich mitfreuen konnte. Toll!

Humor (+)

Der Humor, der immer wieder durchkommt, ist meiner Meinung nach sehr charmant eingearbeitet und konnte mich ebenfalls überzeugen.

Love is in the Air (♥)

Die Liebesgeschichte hat mir sehr gut gefallen; man spürt, wie sich die Zuneigung von Blue und Simon immer stärker aufbaut und ist natürlich mehr als gespannt, wer sich hinter dem mysteriösen Pseudonym versteckt. Das Ende fand ich schön, vielleicht etwas zu märchenhaft (im echten Leben kann das Outing mit Sicherheit auch viel schwieriger sein, da Simon schon in einem recht modernen, toleranten Umfeld lebt), aber es brachte die Geschichte zu einem süßen, runden Ende, das mich sehr zufrieden zurückgelassen hat. Denn genau das wünscht man sich für Simon: dass er glücklich wird.

Geschlechterrollen (+)

Auch bei diesem Punkt kann die Autorin überwiegend punkten: Männer dürfen weinen und Mädchen dürfen stark und wild sein und Jungen verteidigen; Simons Mutter hat außerdem einen Job als Psychologin und wird als sehr intelligent präsentiert. Nicht gefallen hat mir die seltene Verwendung des Wortes „Bit***“, auch wenn es hierbei keine wirklich problematischen Szenen gab. Inwieweit es der Autorin gelungen ist, sich in einen homosexuellen Teenager hineinzuversetzen, kann ich vermutlich nicht wirklich beurteilen (das können nur Menschen, die selbst betroffen sind), aber ich fand ihn sehr authentisch und gut ausgearbeitet. Einen dicken Extrapunkt gibt es zudem dafür, dass auf das Thema Vielfalt und Diversität großer Wert gelegt wurde!

Mein Fazit

„Simon vs. the Homosapiens Agenda“ ist ein flüssig und locker-flockig geschriebener Jugendroman, dessen positive Grundstimmung das Buch zu einer unterhaltsamen, kurzweiligen Lektüre macht. Die Autorin erschafft eine authentische, sehr sympathische Hauptfigur, die einem schnell ans Herz wächst und kann auch mit ihren (diversen) Nebenfiguren überzeugen. Es werden Homosexualität und weitere wichtige Themen aufgegriffen und angemessen behandelt. Jedoch hätte die Autorin bei einigen Aspekten durchaus noch mehr in die Tiefe gehen dürfen. Dieses Buch sollte in jeder Schulbibliothek enthalten sein und auch besonders intoleranten / homophoben Menschen ans Herz gelegt werden. Meine Hoffnung ist, dass dieses emotionale Buch seinen kleinen Beitrag dazu leistet, dass unsere Welt eine freiere, tolerantere, friedlichere und glücklichere wird.

Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonist: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 4 Sterne
Atmosphäre: 4,5 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 12.07.2018

Ermutigendes Buch mit wichtiger Botschaft: Lasst euch von niemandem aufhalten, Mädchen!

Power Women – Geniale Ideen mutiger Frauen
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Inhalt

Offiziell sind Frauen und Männer bei uns gleichberechtigt, die Praxis schaut oft leider ganz anders aus. Immer noch werden Frauen beruflich benachteiligt, immer noch wird teilweise von ihnen erwartet, ...

Inhalt

Offiziell sind Frauen und Männer bei uns gleichberechtigt, die Praxis schaut oft leider ganz anders aus. Immer noch werden Frauen beruflich benachteiligt, immer noch wird teilweise von ihnen erwartet, sich alleine um Kinder und Haushalt zu kümmern. Immer noch hören Mädchen: „Fußball? Mathematik? Naturwissenschaften? Das ist doch etwas für Jungs!“ In Zeiten wie diesen, in denen fälschlicherweise viele Menschen denken, der Feminismus hätte alles erreicht und werde nicht mehr benötigt, brauchen wir ein solches Buch umso mehr. Es erzählt jungen LeserInnen die Geschichten von 25 mutigen Frauen, die sich um gesellschaftliche Erwartungen an ihr Geschlecht nicht gekümmert haben, stattdessen lieber großartige Leistungen gebracht, für Bildung, Gleichberechtigung, die Umwelt oder Menschenrecht gekämpft und die Welt damit verändert haben…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Genre: Sachbuch für Kinder ab 10 Jahren
Verlag: Ars Edition
Seitenzahl: 112
Erzählweise: sachlicher Schreibstil (Sachbuch)
Tiere im Buch: +/- Es wird beschrieben, dass eine der Frauen als Kind gerne Ratten jagte (und vermutlich auch tötete).

Warum dieses Buch?

Als Feministin weiß ich, wie wichtig es ist, Kindern, besonders Mädchen, schon in einem jungen Alter zu zeigen, dass sie sich gesellschaftlichen Erwartungen nicht beugen müssen, sondern sich genauso entfalten dürfen, wie sie wollen. Um jenen unangenehmen Menschen entgegenzuwirken, die immer noch behaupten, Frauen hätte in technischen Berufen oder in den Naturwissenschaften nichts verloren, brauchen jungen Mädchen Vorbilder, die ihnen zeigen, dass sie ebenso wie Jungen alles erreichen können, wenn sie nur hart genug dafür arbeiten. Wenn also ein Buch mit dem vielversprechenden Titel „Power Women“ erscheint, muss ich es (auch als angehende Lehrerin) unbedingt lesen.

Meine Meinung

Aufbau & Einstieg (+)

„Du siehst, dieses Buch ist fabelhaft. Aber es gibt etwas, das ist noch fabelhafter.
DU.
Und jetzt blättere um, fang an zu lesen … und dann verändere die Welt.“ Einleitung, S. 7

Der Aufbau ist übersichtlich und abwechlsungsreich. Nach einer kurzen, ermutigenden Einleitung folgen die Porträts der einzelnen Frauen, die jeweils aus einer Zusammenfassung mit einer prägnanten Beschreibung der Frau (wie „ägyptische Powerfrau“ für Cleopatra), einer Kurzbiographie, einem Bild, einem kurzen Steckbrief, einem erinnerungswürdigen Zitat und einer Frage-Antwort-Rubrik bestehen, in der versucht wird, Antworten auf Probleme Jugendlicher zu geben, die denen der wichtigen Persönlichkeit entsprechen. Am Ende des Buches befinden sich noch ein Zeitstrahl, der hilft einzuordnen, wann die verschiedenen Frauen gelebt haben/leben und ein kurzer Test, der einem verrät, welcher von fünf Persönlichkeiten man am meisten ähnelt.

Inhalt (+/-)

Die 25 in diesem Buch vorgestellten Frauen sind sehr gut ausgewählt. Sie stammen aus ganz verschiedenen Epochen, das Buch behandelt sowohl Cleopatra, die 69 v. Chr. geboren wurde als auch Emma Watson, die sich als junge erfolgreiche Schauspielerin heute für Frauenrechte einsetzt. Auch verschiedenste Nationalitäten wurden berücksichtigt, Frauen aus Pakistan, Afrika, England, Polen und Japan werden thematisiert. Es handelt sich also um ein Buch, das auf Diversität großen Wert legt, dafür gibt es schon einmal einen großen Pluspunkt. Die Leistungen der weiblichen Legenden sind vielfältig und reichen von bahnbrechenden Entdeckungen in den Naturwissenschaften über friedlichen Protest gegen Rassismus bis hin zum mutigen Einsatz für Bildung und Umwelt. Jede der Frauen musste auf ihrem Weg zum Ziel gegen vielfältige Hindernissen ankämpfen, aber für jede hat sich der Kampf gelohnt. Für jedes Mädchen ist hier ohne Zweifel jemand dabei, mit dem es sich identifizieren kann. Es ist ein Buch, das Mut macht und Selbstbewusstsein verleiht. „Ihr könnt alles erreichen, was auch ein Mann erreichen kann. Lasst euch von niemandem aufhalten!“, ist die wichtige Botschaft. Dieses Sachbuch leistet vor allem deshalb einen essentiellen Beitrag, weil (auch in der Schule) oft genug noch auf die Leistungen der weiblichen Wissenschaftlerinnen und Menschenrechtlerinnen „vergessen“ wird.

„Garri Kasparow, einer der besten Spieler aller Zeiten, sagte einmal über Judit Polgár: ‚Sie ist ein riesiges Schachtalent, aber sie ist nun mal eine Frau … Keine Frau kann eine lange, zermürbende Schlacht durchstehen.‘ Natürlich irrte er sich. Und we änderte seine Meinung, nachdem er 2002 zum ersten Mal von einer Frau besiegt wurde – nämlich von Judit Polgár.“ S. 92

Obwohl die Idee also ohne Frage eine großartige, dringend notwendige ist, gibt es kleinere Schwächen bei der Ausführung. Zum einen waren mir die Biographien oft zu sachlich und kurz, es wurde sehr wenig auf die Persönlichkeiten der Frauen eingegangen. Die oft nüchternen Beschreibungen ihrer Leben könnten schnell langweilig auf das Zielpublikum wirken. Hier hätte ich mir spannendere Texte gewünscht, die einen bleibenderen Eindruck hinterlassen, auf einer tieferen Ebene berühren/nachhallen und ein besseres Gefühl für die beschriebene Person vermitteln. Auch die Frage-Rubriken und den Test am Ende fand ich zwar sehr charmant und eine tolle Idee, teilweise aber etwas zu oberflächlich umgesetzt. Nicht gefallen hat mir, dass sich manche Ratschläge wiederholten und dass oft der erste Satz lautete: Was XY getan/gesagt hätte, wissen wir leider auch nicht, aber wir denken… Hier hätte man den Platz nutzen können, um bessere Antworten zu geben. Beim Test am Ende hätte ich zudem nicht nur auf die Porträts verwiesen, sondern die Persönlichkeit der Frauen noch einmal prägnant zusammengefasst, damit man auch ein unmittelbares Ergebnis erhält. Dennoch finde ich die Idee, in einem Sachbuch für Kinder/Jugendliche auch auf den Erfahrungshorizont der Zielgruppe einzugehen, das Buch so zugänglicher zu machen und mit dem interaktiven Test die LeserInnen aktiv werden zu lassen, sehr modern und gelungen. Wenn beim nächsten Buch noch ein paar Anpassungen vorgenommen werden, kann dieser Aspekt zu einer großen Bereicherung werden.

Schreibstil (+/-)

Den Schreibstil fand ich prinzipiell sehr gelungen. Er glänzt stellenweise durch Lockerheit und Humor, ist oft jedoch auch sachlich und nüchtern. Möglicherweise jedoch zu trocken und nüchtern für die junge Zielgruppe. Gut fand ich, dass unbekannte Begriffe oft sofort in Klammer erklärt wurden, nicht so gut gefallen hat mir allerdings, dass der Wortschatz an manchen Stellen für das junge Publikum nicht passend war. Was können 10-Jährige zum Beispiel mit (Fach)Worten wie „Tunneln“, „ausgebootet“ und „Bewusstseinsstrom“ anfangen, wenn sie nicht näher beschrieben werden? Hier hätte ich mir manchmal noch zusätzliche Erklärungen gewünscht.

Illustrationen (+)

Die Illustrationen sind wundervoll, farbenfroh und lebendig und decken verschiedene Kunststile ab. Nicht jede Zeichnung traf hier ganz meinen Geschmack, dennoch sind sie, objektiv betrachtet, alle sehr gelungen und zeigen die Frauen entweder in interessanten, charakterstarken Nahaufnahmen oder in aktiven, teilweise kämpferischen Posen, die sehr gut die Persönlichkeit einfangen. Und da es hier so eine große Vielfalt gibt, ist bestimmt für jeden Geschmack etwas dabei.

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)

Da es sich hier um ein feministisches Buch handelt, das Mädchen ermutigt, Großes zu leisten und auf gesellschaftliche Erwartungen nichts zu geben, und da verschiedenste Frauen aus aller Welt vertreten sind, erhält dieses Buch hier alle Punkte! Juhu!

„All die männlichen Helden senkten ergeben das Haupt; nur die zwei Schwestern erhoben sich stolz, um das Land zu rächen.“ Vietnamesisches Gedicht aus dem 15. Jahrhundert, zitiert im Buch auf Seite 15

Mein Fazit

„Power Women“ ist ein wichtiges Buch, das Mädchen ermutigt, stark, mutig und selbstbewusst zu sein und sich von niemandem (auch nicht den gesellschaftlichen Erwartungen) aufhalten zu lassen. Dieses Buch präsentiert eindrucksvolle Vorbilder, die mit ihren großartigen Leistungen die Welt verändert haben. Der Aufbau ist sehr übersichtlich und abwechslungsreich, die Idee, auf den Erfahrungshorizont der Kinder einzugehen, wundervoll. Dennoch gibt es sowohl beim Schreibstil als auch was die Tiefe betrifft kleinere Schwächen (stellenweise eher trockene Biographien, die nicht wirklich berühren/nachhallen), die dazu führen, dass ich einen Stern abziehe. Dennoch sei dieses Buch allen Eltern, Patenonkeln/-tanten etc. und Kindern ans Herz gelegt, denen Gleichberechtigung ein wichtiges Anliegen ist (und das sollten ohnehin alle sein, denn wer würde schließlich wollen, dass ein Geschlecht benachteiligt wird?). Auch wenn das Buch also nicht perfekt ist, gibt es von mir eine Kaufempfehlung!

Empfehlung: Dringende Kaufempfehlung, besonders als Geschenk für Mädchen. Aber auch Jungen wird es nicht schaden, herauszufinden, welche tollen Leistungen diese 25 Frauen erbracht haben und dass Frauen ebenso großartig sein können wie Männer.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Struktur: 5 Sterne ♥
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 3,5 Sterne
Illustrationen: 4,5 Sterne
Tiefe: 3 Sterne
Vielfältigkeit: ♥
Rollenbilder: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch erhält von mir vier gute Lilien!