Packend, pathetisch, für sensible Gemüter ungeeignet
Dies ist Belletristik mit historischen Bezügen um Freiheit, Gleichheit und Liebe. Eine hochemotionale und packende Erzählung rund um drei junge Menschen, die im Jahr 1912 überstürzt ihre europäische Heimat ...
Dies ist Belletristik mit historischen Bezügen um Freiheit, Gleichheit und Liebe. Eine hochemotionale und packende Erzählung rund um drei junge Menschen, die im Jahr 1912 überstürzt ihre europäische Heimat verlassen und sich in Buenos Aires ein neues Leben aufbauen möchten.
Was man wissen sollte: Ein Werk, das psychologisch hart ist. Schwere Armut und Menschenverachtendes, insbesondere Abhängigkeit, Demütigung und Ausbeutung bis hin zu Vergewaltigung und Zwangsprostitution Minderjähriger, außerdem Bandenkriege (Mafia, Zuhälter) bilden thematische Schwerpunkte. Ich halte mich für hartgesotten, aber selbst für mich war es schwer zu ertragen. Der unschöne Ausdruck Hure zieht sich in verschiedenen Sprachen durch das ganze Buch. Und auch sonst agiert das Buch in Sprache, Beschreibungen und dargestellten Handlungen schonungslos direkt. Dass es sich vor nicht viel mehr als 100 Jahren in groben Zügen so abgespielt haben könnte und so etwas in einigen Gegenden der Welt noch Realität zu sein scheint, ist erschreckend. Insofern eine Geschichte, die erzählt gehört. Nichtsdestotrotz: Gewalt und Unterdrückung nehmen zu viel textlichen Raum ein. Teilweise ohne die Handlung nennenswert voranzubringen. Ich möchte berührt und aufgerüttelt, nicht schockiert und abgestoßen werden.
Dem unverblümten Ton wird streckenweise Romantik und ein ordentlicher Schuss Pathos gegenübergestellt. Auch wenn ich Darstellungen zum Kampf um mehr Selbstbestimmtheit und Gleichberechtigung grundsätzlich viel abgewinnen kann, wurde hier gefühlt über’s Ziel hinausgeschossen. Man möchte es lieben, doch einiges wirkt effektheischend und unrealistisch. Weniger wäre mehr gewesen.
Die drei Protagonisten animieren zum Sympathisieren und Mitfühlen, Mitleiden, Mitfreuen. Mit der Einschränkung, dass ich weniger Gutmenschentum und mehr Ecken und Kanten bevorzugt hätte und mich einige Entwicklungen (z. B. Kuss-Szene) in Bezug auf Logik und stringentes Verhalten nicht überzeugten.
Die meisten Nebenfiguren sind gelungen. Insbesondere solche, über deren Motive und Entwicklungen sich rätseln lässt. Einige Antagonisten, deren charakterliche Abgründe teils noch durch ein abstoßendes Äußeres unterstrichen werden, sind zu einseitig dargestellt. Ein Hang zum Schwarz-Weiß-Schema, der sich glücklicherweise nicht durch das ganze Buch zieht.
Im Rahmen des auktorialen Erzählstils werden manchmal unnötigerweise bestimmte Absichten suggeriert, was den Überraschungseffekt schmälert.
Trotzdem so spannend und gefühlvoll, dass ich das Buch schwer aus der Hand legen konnte.
In Summe nicht so meisterhaft wie „Das Mädchen, das den Himmel berührte“. Da sind die Beschreibungen (Venedig und Umgebung im 16. Jahrhundert) noch atmosphärischer. Haupt- und Nebenfiguren sind vielschichtiger, werden in ihren Motiven besser gewürdigt, gingen mir mehr ans Herz. Zudem ist die Handlung gefühlt komplexer und es gibt mehr Wendungen und Überraschungen. Beachtenswert ist außerdem, dass das Werk aus 2011 günstiger ist und mehr Lesestoff bietet.
Ich fühle mich animiert, ein drittes Werk von Luca Di Fulvio zu lesen.