“Das Mädchen, das den Mond trank” von der amerikanischen Autorin Kelly Barnhill ist ein fantastischer Roman, der in ein Land wie aus einem Märchen entführt, von (angeblich) bösen Hexen berichtet, von Mondlichtmagie und einem ganz besonderen, kleinen Mädchen. Eine Geschichte über den Mut andere Wege zu gehen, die Suche nach der eigenen Identität und die nach der Wahrheit. Ein wirklich schönes Buch! Mit der richtigen Mischung aus Fantasie, Humor und Klugheit erzählt. Für Leser ab 10 Jahren und interessierte Erwachsene.
Es war einmal ein kleines Städtchen — die Traurige Stadt oder das Protektorat genannt — das zwischen einem riesengroßen Sumpf und einem bösartigen Wald lag. Dieser barg die größten Gefahren und konnte nur auf einer Allee durchquert werden. “Die Allee gehörte Ältestenratsvorsteher Gherland, und seine Kollegen durften auch daran teilhaben. Dem Ältestenrat gehörte auch der Sumpf. Und die Obstgärten. Und jedes Haus im Protektorat.” (Zitat aus “Das Mädchen, das den Mond trank” S.10) Das arme Volk lebt von den Erzeugnissen des Sumpfes, vom Schilf, aus denen sie sich die Schuhe fertigen, vom Sumpfbrei, den sie ihren Kindern zu essen geben, in der Hoffnung, diese mögen groß und stark werden. Wirklich groß und stark werden allerdings nur Kelly Barnhill - Das Mädchen, das den Mond trankdie Kinder der Ratsherren, die “von Fleisch, Butter und Bier” (Zitat S.11) leben. Nun ist wieder der Tag des Opfers gekommen und Ältestenratsvorsteher Gherland macht sich bereit zur jährlichen Prozession, die nun stattfinden wird. Hierzu will er nicht nur seine Robe in einer anmutigen Drehung flattern lassen — für die er jahrelang trainiert hat -, sondern auch sonst optisch möglichst perfekt aussehen. “Er liebte seinen Spiegel. Es war der einzige im gesamten Protektorat. Nichts bereitete Gherland mehr Vergnügen, als etwas zu besitzen, das niemand sonst hatte.” (Zitat S.9) Was Gherland nicht allzu viel Vergnügen bereitet, ist jedoch das Versprechen, das er seiner Schwester einst gegeben hat, dass er seinen Neffen Antain eines Tages zu einem vollwertigen Ratsmitglied machen wird. “Antain hatte Flausen im Kopf. Die wildesten Ideen. Und Fragen. Gherland zog die Brauen zusammen. Der Junge war — nun, wie sollte er es ausdrücken? Übereifrig. Wenn das so weiterging, würde er der Sache ein Ende machen müssen, Verwandtschaft hin oder her.” (Zitat S.11) Schon seit fünf Jahren ist Antain Ältestenratsanwärter und immer noch nicht weitergekommen. Ständig hat jemand etwas an ihm herumzumäkeln. Obwohl es eigentlich eher seine Mutter ist, die ihn auf dieser Position sehen will: “Zum Henker mit deinem Onkel”, tobte seine Mutter weiter. “Diese Ehre steht uns zu! Ich meine natürlich, diese Ehre steht dir, zu, mein lieber Sohn.” (Zitat S.53). Und so kommt es, dass Antain, der eigentlich lieber hätte Tischler werden wollen, der unliebsamen Prozession beiwohnen muss, bei der einer Mutter aus dem Protektariat ihr jüngstes Kind weggenommen wird, um es der Hexe zu opfern. Denn die böse, grausame Hexe, die im gefährlichen Wald lebt, so erzählt man sich im Ort, verlangt jedes Jahr ein Kind, dann würde den Kelly Barnhill - Das Mädchen, das den Mond trankDorfbewohnern nichts geschehen. Und so legen die Ratsherren und Antain das Kind auf demselben Platz unter den Platanen ab, so wie jedes Jahr. Antain, der das furchtbar findet. Und sein Onkel, der ebenso wie der Rest der Ratsherren genau weiß, dass die Geschichte mit der Hexe nur erfunden ist. Denn eine Hexe hat es nie gegeben. “Alles, was es gab, war ein gefährlicher Wald mit einem einzigen Weg hindurch und ein Mindestmaß an Kontrolle über das bequeme Leben, das die Ratsherren sich vor vielen Generationen eingerichtet hatten. Die Hexe — beziehungsweise ihr Glaube an sie — bescherte ihnen ein verängstigtes und damit unterwürfiges Volk.” (Zitat S.20). Doch was Gherland und die anderen Ratsmitglieder nicht ahnen, ist, dass es tatsächlich eine Hexe in den Wäldern gibt. Eine, die jedes Jahr zur gleichen Zeit die Reise antritt um an jener Stelle ein Kind abzuholen: “Solange Xan zurückdenken konnte, setzte jedes Jahr genau zur selben Zeit eine Mutter aus dem Protektoriat ihr Baby im Wald aus, vermutlich zum Sterben. Xan hatte keine Ahnung warum. Aber sie wollte die armen Würmchen auf keinen Fall ihrem Schicksal überlassen. Und so wanderte sie jedes Jahr zum dem Ring aus Platanen, hob das verlassene Kind auf und trug es durch den Wald bis in eine der Freien Städte am anderen Ende der Allee.” (Zitat S.27) Xan ist eine gute Hexe, die zusammen mit einem kleinen Drachen namens Fyrian und einem Sumpfmonster namens Glerk tief im Wald lebt. Doch dieses Jahr, während sie schon überlegt, wem sie das Baby in der Freien Stadt geben könnte, macht Xan einen furchtbaren Fehler. Statt die Kleine weiterhin mit Sternenlicht zu füttern, das sie wie Honig vom Himmel greift, ist sie so abgelenkt und fasziniert von diesem seltsamen, außergewöhnliKelly Barnhill - Das Mädchen, das den Mond trankchen Geschöpf, dass sie versehentlich nach Mondlicht greift. “Sternenlicht liefert genug Magie, um ein Baby sattzumachen, und kann, in ausreichender Menge verabreicht, das Beste in seinem Herzen, seiner Seele und seinem Geist erwecken. Es mag das Kind zu verbessern, aber nicht es zu magnifizieren. Mit Mondlicht dagegen verhält es sich vollkommen anders. Mondlicht ist Magie. Da kann man fragen, wen man will.” (Zitat S.33) Und nun ist das kleine Mädchen magnifiziert worden! Dieses Kind nun von einem normalen Menschen aufziehen zu lassen — geradezu unmöglich. Denn solche Wesen sind gefährlich, wie Xan’s Ziehvater ihr einst erklärte: “Ein Baby mit Magie zu versehen, das ist, wie einem Kleinkind ein Schwert in die Hand zu drücken — zu viel Kraft kombiniert mit zu wenig Vernunft” (Zitat S.35) Noch ist die Magie nicht ausgebrochen, aber was wird sein, wenn das geschieht? Doch Xan ahnt nicht, dass sich bald aus dem Protektariat jemand aufmachen wird, um den Machenschaften der “bösen” Hexe ein Ende zu bereiten. Und zwar Antain…
“Das Mädchen, das den Mond trank” wartet mit einem ungewöhnlichen Titel auf (über den man irgendwie erst mal stolpert beim Lesen) und mit einem wunderschönen Cover. Es ist ein allwissender Erzähler, der die Geschichte erzählt, sich mal der einen Person nähert, mal der anderen. Hauptsächlich jedoch Antain, dem Ältestenratsvorsteher Gherland, der Hexe und dem Baby, das diese Luna nennt und die man während des Buches heranwachsen beobachtet. Neben den klassischen Bösewichten der Geschichte gibt es jedoch auch ein Kelly Barnhill - Das Mädchen, das den Mond trankpaar wunderbar gezeichnete Nebencharaktere, die man einfach ins Herz schließen muss: liebeswerte, sympathische Figuren, wie zum Beispiel den Drachen Fyrian, der allerdings nur die Größe einer Taube hat und der sich “für größer als die durchschnittliche menschliche Bevölkerung” hält und überzeugt war, “dass man ihn nur von ihr fernhielt, damit er nicht die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzte” (Zitat S.45) Oder Glerk, das mehrarmige Sumpfmonster, das Jahrhunderte alt ist und die Poesie über alles liebt: “Um es mit den Worten unseres hochgeschätzten Poeten zu sagen, meine Teure: Wird die Dame barsch, geht mir’s vorbei am -” “GLERK!”, rief die Hexe empört. “Ich muss doch sehr bitten!” (Zitat S.23) Selbst bei Luna hegt man gewisse “Harry-Potter”-Sentimentalitäten: “Sie hatte schwarze Locken und schwarze Augen. […] Und mitten auf der Stirn ein Muttermal in der Form eines Halbmonds.” (Zitat S.16ff) Eingeflochten in den Text sind auch immer wieder vereinzelte Episoden kurzer Schauergeschichten, die eine Mutter ihrem Kind erzählt. Über die Hexe, deren Schandtaten und allerlei anderer Legenden. Was ist wahr und was ist Lüge? Das darf der Leser in diesem wirklich bezaubernd erzählten Büchlein nach und nach herausfinden, das trotz mancher (wirklich minimaler) Längen über eine sehr poetische und kraftvolle Sprache verfügt. Gut gefallen hat mir auch der Humor, der immer wieder auftaucht; die schöne Ironie zwischen den Zeilen: “Hexe”, brummte das Monster, dessen Maul sich noch immKelly Barnhill - Das Mädchen, das den Mond tranker halb unter Wasser befand. “Ich bin um Jahrhunderte älter als du.” Eine Blase stieg von seinen dicken Lippen durch den Algenteppich nach oben. Eigentlich sogar Jahrtausende, dachte es bei sich. Aber wer wird schon so kleinlich sein?” (Zitat S.22) und “Meine liebe Xan”, erwiderte Glerk, der ein tiefes Rumpeln in seiner Brust spürte, von dem er nur hoffen konnte, dass es ihn imposant und furchterregend wirken ließ und nicht bloß, als hätte er Sodbrennen.” (Zitat S.23) Das Ende von “Das Mädchen, das den Mond trank”: märchenhaft und natürlich mit Happyend, ganz so wie es sich gehört!
Fazit: Eine ganz besondere Geschichte: liebevoll, anmutig und verzaubernd.