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Veröffentlicht am 10.11.2018

Ungewöhnlich, und deshalb faszinierend!

Der Wille zum Bösen
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Meine Highlight-Liste 2018 hat Zuwachs bekommen: „Der Wille zum Bösen“ des amerikanischen Autors Dan Chaon, ein ungewöhnlicher und faszinierender Thiller(Platz 2 und höchster Neueinsteiger der Krimibestenliste ...

Meine Highlight-Liste 2018 hat Zuwachs bekommen: „Der Wille zum Bösen“ des amerikanischen Autors Dan Chaon, ein ungewöhnlicher und faszinierender Thiller(Platz 2 und höchster Neueinsteiger der Krimibestenliste Juni 2018), bei dem die Frage „Wer war’s?“ allein durch die Form komplett in den Hintergrund gedrängt wird.

Worum geht es? Diese Frage ist schnell beantwortet: nach 27 Jahren Haft wird Russell, der Adoptivbruder des Psychologen Dustin Tillman, aus der Haft entlassen, nachdem DNA-Analysen seine Unschuld am gewaltsamen Tod der Eltern ergeben haben. Dustin war von dessen Schuld überzeugt und hatte im Prozess als Belastungszeuge ausgesagt. Annähernd gleichzeitig fordert Aqil, ehemalige Polizist und einer seiner Patienten, seine Mithilfe im Fall eines Serienmörders, der an bestimmten Daten junge Männer in abgelegenen Gewässern ertränkt. Wer hat die Tillman-Eltern getötet, und gibt es den Serienkiller wirklich? Das sind die beiden Fragen, die Dustin umtreiben und sein durchschnittliches Leben komplett aus den Fugen geraten lassen.

Die Story hört sich nun nicht wirklich spektakulär an. So oder so ähnlich hat man das schon zigmal gelesen. Was aber nun Chaon daraus macht ist außergewöhnlich. Nicht nur, dass er seine Leser auf eine Reise in die Vergangenheit schickt, kennt man ja auch zur Genüge, nein, da hat er wesentlich mehr auf Lager.

Dustin, seine beiden Söhne Aaron und Dennis, seine an Krebs gestorbene Frau, die beiden Cousinen Kate und Wave und natürlich Russell „Rusty“, jeder von ihnen hat seine eigene Stimme und seine individuelle Sicht auf die Ereignisse, wobei Chaon diese unterschiedlichen Reflexionen willkürlich zwischen den verschiedenen Personen und Zeiten, nämlich Herbst 1983 und Frühjahr 2014 hin und her springen lässt. Und dann gibt es noch bestimmte Situationen, in denen er parallel erzählt, die Sichtweisen verschiedener Personen auf das gleiche Ereignis in parallelen Spalten anordnet, die sich teilweise über mehrere Spalten und Seiten ziehen, was den Leser verunsichern und schlussendlich dazu zwingen mag, seine Annahmen zu hinterfragen.

Was alle Figuren eint, ist dieses Gefühl der Einsamkeit, des Verlorenseins. Und jeder von ihnen hat seine eigene Methode entwickelt, damit umzugehen. Die einen flüchten sich in Drogen, die anderen in die Spiritualität, die nächsten versuchen ihren Platz in der Normalität zu finden. Es gelingt, oder auch nicht. Und am Ende zeigt sich, dass auch die individuelle Realität nur eine verstörende Form der Fiktion ist. Lesen!

Veröffentlicht am 10.11.2018

Isaiah, der Sherlock aus der Hood, ist zurück

Stille Feinde
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"Stille Feinde" ist nach "I.Q." der zweite Thriller des amerikanischen Autors Joe Ide, der in South Central L.A. aufgewachsen ist, einer Gegend, die derjenigen ähnelt, in der sein Protagonist „I.Q.“ Isaiah ...

"Stille Feinde" ist nach "I.Q." der zweite Thriller des amerikanischen Autors Joe Ide, der in South Central L.A. aufgewachsen ist, einer Gegend, die derjenigen ähnelt, in der sein Protagonist „I.Q.“ Isaiah Quintabe mit Deduktion und Intelligenz im Stil des Meisterdetektivs Sherlock Holmes Verbrechen aufklärt.

Isaiah, 26 Jahre alt, Afroamerikaner, hat noch immer mit dem Tod seines Bruder Marcus zu kämpfen - und hier setzt der Prolog ein. Marcus kam angeblich bei einem Hit-and-Run, einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht, vor sechs Jahren ums Leben, ein Ereignis, dessen Bilder sich unvergesslich in Isaiahs Gedächtnis eingebrannt haben. Als er zufällig auf einem Schrottplatz das Unfallfahrzeug entdeckt und näher untersucht, kommt er zu dem Ergebnis, dass es ein als Unfall getarnter Mord war.

Schnitt, und dann die Gegenwart: Isaiah verdient sich seinen Lebensunterhalt als Privatdetektiv, hat aber in der Regel nur Kleinscheiß-Fälle. Und doch gerät er ins Visier der Locos Surenos 13, einer üblen Gang, deren Mitglieder nur durch das unvermutete Eingreifen ihres Bosses davon abgehalten werden, ihn halb tot zu prügeln.

Und dann ist da noch Sarita, die ehemalige Freundin seines Bruders, die ihn um einen Gefallen bittet. Ihre Halbschwester Janice und deren Freund Benny sind in ernsten Schwierigkeiten. Die beiden sind spielsüchtig und haben sich bei Leo, einem Kredithai Geld geliehen, das sie nicht zurückzahlen können. Und dass dieser Leo sich nicht verarschen lässt, wird spätestens dann deutlich, als er sich Benny schnappt, mit diesem zu einer Müllkippe in die Wüste fährt und ihn dann in die Grube stößt. Zumindest Sarita gilt es zu retten, und so machen sich IQ und sein Kumpel Dodson (sic!) gemeinsam auf dem Weg gen Nevada…

Szenenwechsel, Nebenhandlungen, jede Menge Action und unterschiedliche Locations bringen von Beginn an Abwechslung und Tempo in die Story, sodass die Lektüre zu keinem Zeitpunkt Längen hat oder langweilt. Die Eckdaten des Plots werden schon am Anfang gesetzt und versprechen eine spannende Story. Ide (und seine geniale Übersetzerin Conny Lösch) verstehen es meisterhaft, die Szenerien anschaulich zu beschreiben und einen Film vor den Augen des Lesers anzustoßen. Klar, Ide kennt dieses Neighborhoods und auch die Typen, die dort rumhängen. Ob South Central LA oder Long Beach, das macht keinen großen Unterschied.

Großes Kino und tolle Reihe mit einem ungewöhnlichen Protagonisten, das ich mit Sicherheit weiterverfolgen werde!

Veröffentlicht am 10.11.2018

...und keinen Trost für niemand

Tiefenscharf
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Das Grenzgebiet zwischen Oberfranken und Tschechien, ein Mekka für Zigarettenschmuggler und einer der Hauptumschlagplätze für Crystal Meth. Auf die Schnelle einen ordentlichen Batzen Geld verdienen und ...

Das Grenzgebiet zwischen Oberfranken und Tschechien, ein Mekka für Zigarettenschmuggler und einer der Hauptumschlagplätze für Crystal Meth. Auf die Schnelle einen ordentlichen Batzen Geld verdienen und gleichzeitig der Langeweile des Alltags entkommen, diese Aussicht verleitet dann doch den einen oder anderen dazu, scheinbar kalkulierte Risiken auf sich zu nehmen und im Geschäft mitzumischen.

So auch Max Thoss, dessen Karriere als Drogenkurier, oder wie er es nennt Sales Manager, ein jähes Ende findet, als er in einer Winternacht in eine Polizeikontrolle gerät und in Panik sein 20.000 Euro Päckchen aus dem Fenster wirft, nicht wissend, dass er sich damit in eine verhängnisvolle Gewaltspirale begibt, die mit einem erschlagenen Flaschensammler und zwei erschossenen Polizisten endet. So schnell wird es dann wohl doch nichts mit Neuseeland…

Geplatzte Träume, davon kann auch Sascha ein Lied singen. Studierter Geisteswissenschaftler, der sich früher mit „der systemkritischen Analyse von Texten zur alternativen Metaphysik“ beschäftigt hat und nun als schlechtbezahlter Video-Journalist Berichte über Wasserpistolen-Attentäter und zu Brei gefahrene Unfallopfer Primetime tauglich aufbereiten muss. Den täglichen Frust ersäuft er in Alkohol. Hilft aber auch nicht weiter sondern schafft nur noch mehr Probleme: Unfall, Auto kaputt, Führerschein weg, Job verloren. Und in der Klinik wartet seine Freundin mit dem Neugeborenen…

Diese Leben sind trostlos wie die Umgebung im Grenzgebiet mit den Billig-Bäckern, den Häuserruinen und zweckentfremdeten Turnhallen. Null Perspektive, kein Trost für niemand. Die männlichen Protagonisten sind allesamt gefangen in nicht existierenden Lebensentwürfen. Überschätzen sich, hangeln sich mit den falschen Entscheidungen von Tag zu Tag. Scheitern ist vorprogrammiert, und am Ende gibt es für niemanden Trost.

Und dennoch, einen kleinen Hoffnungsfunken gibt es. Vielleicht gelingt es Kira, Max‘ Freundin, am Ende doch, diesem Leben zu entkommen: „Sie steigt in den nächsten Fernbus. Die Richtung ist ihr egal. Hauptsache :weg.“

Nicht gezuckert, unbarmherzig ausgeleuchtet, schwärzer als schwarz –so geht „Deutscher Polar“.

Veröffentlicht am 10.11.2018

Eine kritische und äußerst spannende Zukunftsvision

New York 2140
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Da sie dem Klimawandel keine besondere Beachtung schenken, sind die USA aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Welche Konsequenzen die kontinuierliche Erderwärmung auch für die Vereinigten Staaten ...

Da sie dem Klimawandel keine besondere Beachtung schenken, sind die USA aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Welche Konsequenzen die kontinuierliche Erderwärmung auch für die Vereinigten Staaten haben könnte, scheint in Washington offenbar niemand auf dem Schirm zu haben. Zumindest genießt dieser Fakt keine besondere Priorität. Klima ist Nebensache, im Mittelpunkt des Interesses stehen ausschließlich monetäre Interessen. Soweit die Realität.

Kommen wir zur Fiktion. In seinem Science-Fiction Roman „New York 2140“ führt uns der amerikanische Autor Kim Stanley Robinson vor Augen, was passieren könnte, wenn der Meeresspiegel unkontrolliert ansteigt. New York, wie wir es kennen, liegt zum großen Teil unter Wasser. Zwei große Flutwellen haben dafür gesorgt, dass sich das Leben in der Metropole drastisch verändert hat, ein „Supervenedig“ ist entstanden, in dem die Bewohner ihren Alltag an die geänderten Bedingungen anpassen müssen. Fortbewegung ist nur noch per Boot möglich, die Lebensräume konzentrieren sich auf Wolkenkratzer, die noch nicht komplett überspült wurden. Das tägliche Leben wird weitestgehend genossenschaftlich organisiert, die Versorgung mit Lebensmitteln erfolgt über den Anbau auf den Dachterrassen. Mahlzeiten werden gemeinsam zubereitet und verzehrt, es gibt mehr Miteinander als vor der Flut. Dennoch, die Welt ist zwar neu, aber nicht uneingeschränkt schöner. Es gibt noch immer Menschen, die unterhalb der Wasserlinie leben und für ihren Unterhalt in den toxischen Gewässern sorgen müssen. „Wasserratten“, obdachlose Kinder, die zum Überleben auf das Wohlwollen ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Und langsam aber sicher kriechen auch die Spekulanten wieder aus ihren Löchern. Wie Franklin, aalglatter Investmentbanker, der sich über persönliche Beziehungen Informationen über bevorstehende Gentrifizierungen innerhalb der Metropole verschafft. Er ist ein Bewohner des Met Life Tower, auf den Robinson sein besonderes Augenmerk richtet.

Der Autor lässt wechselweise insgesamt acht Personen zu Wort kommen: Mutt und Jeff, Programmierer ohne festen Wohnsitz, die spurlos verschwinden. Gen, eine Inspektorin beim NYPD, die mit den Ermittlungen zu diesem Fall betraut wird. Franklin, der bereits erwähnte Banker mit dem besonderen Interesse an Immobilienpreisen in den überfluteten Gebieten. Stefan und Roberto, zwei Jungs ohne Familie, die einen Schatz in der Bronx heben wollen. Amelia, die Videobloggerin, mit ihren Reportagen aus einem Zeppelin die Menschen für Umweltthemen sensibilisieren möchte. Charlotte, Sozialarbeiterin mit Schwerpunkt Einwanderer und im Verwaltungsrat des Met Life Tower vertreten. Vlad, Hausmeister, der sich im Tower um die anfallenden Arbeiten kümmert. Und schließlich der „Bürger“ mit seinen Kommentaren zur Historie von New York sowie der Gegenwart.

Es ist eine kritische und äußerst spannende Zukunftsvision, die Robinson in „New York 2140“ entwirft, denn die verschiedenen Sichtweisen der Protagonisten sorgen für eine immense Themenvielfalt, aus der sich im Laufe der Lektüre immer stärker die Zusammenhänge bzw. Einflüsse zwischen Wirtschaftslage und Klimaveränderung herauskristallisieren. Lesen!

Veröffentlicht am 10.11.2018

Das Attentat von Brighton

High Dive
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Am 12. Oktober 1984 detoniert im Grand, einem Hotel in Brighton, mitten in der Nacht eine Bombe. 5 Menschen werden getötet, 31 Personen verletzt. Zum Zeitpunkt des Anschlags befinden sich sowohl die Premierministerin ...

Am 12. Oktober 1984 detoniert im Grand, einem Hotel in Brighton, mitten in der Nacht eine Bombe. 5 Menschen werden getötet, 31 Personen verletzt. Zum Zeitpunkt des Anschlags befinden sich sowohl die Premierministerin Margaret Thatcher als auch die Mitglieder des Kabinetts in diesem Hotel, da dort der Parteitag der Konservativen abgehalten werden soll. Deren Politik der Ungerechtigkeit hat dafür gesorgt, dass das Land im Aufruhr ist: Nordirland strebt nach Unabhängigkeit, in den Kohlerevieren streiken die Bergarbeiter – und in beiden Fällen schlägt die Tory-Regierung mit Gewalt zurück. Diese gesellschaftspolitische Situation bildet den Hintergrund für Jonathan Lees Roman „High Dive“, in dem er Fakten und Fiktion zu einer spannenden Story rund um das Thema „Brighton Bomb“ zusammenführt.

Vier Wochen vor dem Anschlag. Die Vorbereitungen für den hohen Besuch im Grand laufen auf Hochtouren, wenngleich auch der normale Hotelalltag von dem Personal bewältigt werden muss. Die einen Gäste reisen ab, die anderen checken ein. So auch Roy Walsh (aka Patrick Magee), der drei Tage im Grand logieren und in seiner Badezimmerwand eine Sprengladung platzieren wird, die von Dan, einem jungen Bombenbauer der IRA hergestellt wurde.

Dan, Walshs Komplize, ist eine der drei zentralen Figuren in diesem Roman, aus deren Perspektive abwechselnd die Ereignisse geschildert werden. Des Weiteren Philip „Moose“ Finch, ehemaliger Spitzensportler mit gesundheitsbedingten Einschränkungen, nun als Hotelmanager tätig, sowie dessen Tochter Freya, Rezeptionistin, die gerade die Schule beendet hat und noch auf der Suche nach der neuen Richtung in ihrem Leben ist plus das übrige Hotelpersonal in Nebenrollen. Lee wechselt nicht nur gekonnt zwischen diesen Protagonisten sondern auch zwischen Belfast und Brighton, den beiden für die Story wichtigen Städten hin und her, was das Interesse des Lesers fesselt und die Spannung bis zum Schluss hoch hält.

„High Dive“ ist ein politischer Roman der leisen Töne, der nachdenklich macht und jedem Leser empfohlen wird, der an zeitgeschichtlichen Themen interessiert ist!

Zwei kurze Ergänzungen: Patrick Magee wurde zwei Jahre später zu einer Haftstrafe von 8 mal lebenslänglich, mindestens aber 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Entlassung aus dem Maze Prison erfolgte nach 14 Jahren Haft im Rahmen des Karfreitagsabkommens.
Der Bombenanschlag in Brighton wird auch in Adrian McKintys drittem Band der Sean-Duffy-Reihe „Die verlorenen Schwestern“ behandelt (ebenfalls eine sehr empfehlenswerte Lektüre).