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Veröffentlicht am 15.09.2016

"When you can't move forward, look behind"

Und morgen dein Tod
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Achtung: ich rezensiere die UK-Ausgabe - kann die hier aber nicht verlinken.

Wow. Ich habe diesen Thriller an einem Abend durchgelesen – und schreibe die Rezension bewusst in deutscher Sprache, um möglichst ...

Achtung: ich rezensiere die UK-Ausgabe - kann die hier aber nicht verlinken.

Wow. Ich habe diesen Thriller an einem Abend durchgelesen – und schreibe die Rezension bewusst in deutscher Sprache, um möglichst viele Leser anzusprechen.
Zuerst die Fakten:
Die Autorin hatte zuerst als Gerichtsjournalistin gearbeitet und Sachbücher geschrieben, sogenannte „True-Crime-Stories“. Dann folgte ihr Debüt für das Genre Thriller mit “The Edge of Normal” (deutsch: „Und nachts die Angst“)– bereits mit der Heldin dieses Buches, Reeve. Ich habe dieses Debüt (noch) nicht gelesen – es war auch für die Lektüre von „Hunted“ nicht notwendig.
Was etwas verwirrend ist:
„Hunted“ ist der Titel, der in UK für den zweiten Roman genutzt wurde und liegt mir vor,
ich hänge einen Scan an, da ich die Covergestaltung sehr passend finde (um das zu verstehen, muss man das Buch dann aber schon lesen),
"What does not kill her" heißt das Buch im US-Original,
in Deutschland "Und morgen dein Tod".

„When you can’t move forward, look behind“ ist eigentlich nicht (mehr) das Problem von Reeve: Als sie noch Reggie hieß, wurde sie im Alter von 12 Jahren gekidnappt und von ihrem Entführer Daryl Wayne Flint vier lange Jahre gefangen gehalten. Vor sieben Jahren kam sie frei, Flint ist seitdem in Gewahrsam und hinter Reeve liegt eine erfolgreiche Therapie, vor ihr ein selbstbestimmtes Leben als Studentin mit etwas mehr an Ballast.
Eigentlich – denn Flint entkommt.

Die Autorin hält das gesamte Buch über die Spannung aufrecht – die Handlung ist üblicherweise in der Gegenwartsform geschrieben und wirkt dadurch sehr unmittelbar. Dazu wechselt die Perspektive des in der dritten Person geschriebenen Roman mit jedem Kapital zwischen den verschiedenen Personen, meist sind diese Kapitel nur zwei bis vier Seiten kurz, ohne dass das auf mich konfus wirkte, eher trieb es die Handlung dynamisch voran. Zur Überschrift wird jeweils der Ort genannt; die Zeitschiene ist mehrheitlich chronologisch.

Was jedem klar sein muss: Flint ist ein sadistischer Pädophiler, er hatte Reggie nicht gefangen gehalten, weil er „so nett“ ist. Die Autorin geht hiermit jedoch auf besondere Art und Weise um: ins Detail geht sie nur bei der aktuellen Handlung. Was sich in der Vergangenheit abgespielt hat, blättert sie nur ganz allmählich auf, ohne dass der Leser sich mit dem Opfer durch lange explizite Seiten hindurch quälen muss. Die Wirkung entfaltete sich für mich jedoch umso subtiler: so wird fast nebenbei erwähnt, dass Reeves Haar früher schlimm aussah oder dass sie sich häufig die linke Hand massiert – warum, das wird erst allmählich aufgelöst. Oft blieb ich an so einem Satz im Buch hängen: „Get everything ready first, decide on target later.” S. 92 wird da als Motto von einem weiteren der Akteure genannt – während ich noch „die Autorin meint doch hier nicht“ dachte, wird das wirklich volle Ausmaß erst im weiteren Verlauf deutlich. „Psycho-Thriller“ passt hier sicher gut.

Warum nun tut sich Reeve das an, involviert zu sein in die Jagd nach ihrem Peiniger? “Their conversation bothers her for the rest of the day. It dogs her around campus. It nags her on the way home. It worries her as she orders a take-out dinner from a Thai restaurant. And just after she enters her door, as she’s lifting the fragrant meal out of its papier sack, the realization sinks its claws into her chest. Her breath stops. She goes utterly still, weighing the cost of the struggle, but sees no option but surrender.” S. 80 Sie kann nicht anders: “When you can’t move forward, look behind” heißt es mehrfach im Buch.

Was ich beachtlich finde, ist der Spagat, der Carla Norton in mehrfacher Hinsicht gelingt: den Kunstgriff, unbeschreibliches nicht voyeuristisch darzustellen, indem man den Horror mehr in der Vorstellung des Lesers stattfinden lässt, ihn sich aus Andeutungen herauslesen lässt, hatte ich ja schon beschrieben. Weiteres gelingt ihr über die Perspektivwechsel, speziell zum Täter hin: sie lässt uns mit ihm auf der Lauer liegen, bis zu Momenten, wo aus seiner Jagdlust nunmehr Frust wird – eine durchaus verstörend gelungene Leseerfahrung. Die Familie Flints wird als ganz eindeutig dysfunktional dargestellt, ohne dass man das auch nur kurz als Entschuldigung für seine Handlungen akzeptieren mag, auch dieses ein großer Verdienst der Autorin. Und letztlich gelingt ihr die Auflösung aller Handlungsfäden, wobei beeindruckend dargebracht wird, inwieweit auch Zufälle mit beteiligt sind an Verschleierung oder Aufdeckung von Ereignissen, Zufälle, auch bedingt durch persönliche Eitelkeiten oder Ziele außerhalb des „großen Ganzen“. Zusammengefasst nochmals „wow“!

Der Vorgänger:
https://www.lesejury.de/carla-norton/buecher/und-nachts-die-angst/9783426513774?st=1&tab=reviews&s=2#reviews

Veröffentlicht am 15.09.2016

Empfehlung! Achtung, KEIN Thriller oder Krimi, eher …so etwas wie ein dramatisches Psychogramm?!

Dark Memories - Nichts ist je vergessen
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Das soll heißen: Leseempfehlung. Aber: bitte nicht den Klappentext lesen. Bitte nicht den Aufkleber/Einleger „Der Thriller des Jahres“ lesen. Die werden dem Buch nicht gerecht: Wer Thriller mag, wird speziell ...

Das soll heißen: Leseempfehlung. Aber: bitte nicht den Klappentext lesen. Bitte nicht den Aufkleber/Einleger „Der Thriller des Jahres“ lesen. Die werden dem Buch nicht gerecht: Wer Thriller mag, wird speziell den Beginn zwingend zu langsam, zu langatmig, zu wenig vorantreibend empfinden. Wer keine Thriller mag, wird leider leider das Buch verpassen. Aber leider leider war wieder einmal jemand bei einem Verlag der Ansicht, die Schublade „Thriller“ sei doch ganz nett – damit könne man das Buch gut verkaufen.

Laut Wikipedia gilt: „Charakteristisch für Thriller ist das Erzeugen eines Thrills, einer Spannung, die nicht nur in kurzen Passagen, sondern während des gesamten Handlungsverlaufs präsent ist, ein beständiges Spiel zwischen Anspannung und Erleichterung.“ Nein, dieses Buch fängt sehr gemächlich an. Ja, zugrunde liegt ein Verbrechen, ein wirklich brutales, abscheuliches Verbrechen – die Vergewaltigung an der sechzehnjährigen Jenny. Jetzt würden viele das Buch meiden, weil Gewalt nicht ihr Thema ist, vielleicht speziell auch sexuelle Gewalt. Der Leser bekommt hier jedoch das Thema zuerst mit einer gewissen Distanz vermittelt, das Verbrechen ist „bereits vorher“ passiert, wir sehen "nur" medizinische und polizeiliche Berichte (ja, das ist explizit – aber „Zusehen/-hören/-lesen“ ist etwas ganz anderes, zumindest für meine „Mit-Ertragens-Schwelle“).

Weiter mit Wikipedia: „In Thrillern muss sich der Held meist gegen moralische, seelische oder physische Gewalteinwirkung durch seinen Gegenspieler behaupten, während dies in Kriminalgeschichten weniger der Fall ist. Auch ist im Kriminalroman meist die Aufklärung des Verbrechens der Höhepunkt, während im Thriller erst der darauf folgende, oft sehr knappe, aber endgültige Sieg über den Widersacher den Höhepunkt darstellt, mit dem der Held sich selbst und womöglich auch andere rettet….Normalerweise wird in Thrillern viel Wert auf die Beschreibung der Handlung gelegt. Werden hingegen die Figuren und deren Psyche ebenso stark oder gar stärker betont, spricht man von einem Psychothriller. Meist ist hier ein emotionaler Konflikt zwischen mehreren Personen oder auch ein Konflikt innerhalb einer Person Thema, beispielsweise aufgrund früherer Erlebnisse. Typische Merkmale von Psychothrillern sind der Einsatz der Bewusstseinsstromtechnik, ein Erzähler oder die ausgedehnte Thematisierung einer Vorgeschichte.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Thriller Ja, meinetwegen gibt es so einen Hauch Psychothriller („so richtig“ Psychothriller wäre eher der von mir im Original gelesene und bewertete „und morgen dein Tod“ = „Hunted“ = „What does not kill her“). Und: Nein. Auch ein Krimi ist das hier nicht, vielleicht eher etwas neues, eigenes, wie bei „Fusion-Küche“. Wir sehen zu, was ein Ereignis mit Menschen macht: wie zum Beispiel Jennys Eltern mit der Tat umgehen, mit ihr, miteinander. Dabei merken wir peu à peu, dass da schon vorher bestimmte Tendenzen vorherrschten.

Aber Jenny ist eher nicht die Hauptperson. Und eigentlich geht es auch nicht um die Vergewaltigung, es geht – zuerst - darum, was die danach zuerst angestrebte Therapie an ihr auslöst – die Therapie, nach der sie alles vergessen soll. Das klappt zwar, aber andererseits doch nicht, denn sie fühlt sich nicht gut – kann das aber keiner Erinnerung als Auslöser zuordnen. Die Idee finde ich genial: Darf man das, sollte man das? Was ist wichtiger, den Täter zur Verantwortung ziehen zu können (eventuell, wenn man ihn findet, wenn er verurteilt würde) – oder dem Opfer keine Erinnerung an das Schreckliche zu lassen? Das allein hätte schon reichlich Stoff geboten, Autorin Wendy Walker belässt es aber nicht dabei; wie gesagt, Jenny ist meiner Meinung nach nicht die Hauptperson. Der Roman wird aus der Sicht des sie behandelnden studierten Mediziners, ihres Psycholgen, als Ich-Erzähler aufgespannt als ein komplexes Psychogramm: da gibt es noch Jennys Eltern, die Arbeit des Psychologen in einer Strafanstalt, seine Vor-Meinungen (gegen die „Vergessens-Pille“, für bestimmte andere Vorgehensweisen, beeinflusst durch weitere Erfahrungen).

Nein, ich möchte hier nicht weiter schreiben. Ich habe viel markiert während der Lektüre, doch jeder Ausschnitt könnte zu viel verraten, es wird so einiges in den Raum geworfen; der Psychologe schreibt eindeutig im Rückblick aus einer Perspektive, in der schon mehr klar ist, und greift dadurch häufig vor – oft, vielleicht sogar immer merkt man das – aber: die Autorin beherrscht es tatsächlich, dass NICHTS davon den Leser bis zum Ende der Geschichte wirklich weiterführt: Dieses Buch hat mich durch ein Wechselbad der Gefühle gejagt. Nie wusste ich, woran ich war. Insofern war es ein Pageturner und ich musste nach und neben der Lektüre noch viel über das Buch nachdenken. Wie manipulierbar ist die Erinnerung? Wie real sind überhaupt unsere Beziehungen, unsere Selbstbild, unsere Werte? Was richten unsere besten Absichten an? Welche Konsequenzen hat jedes Handeln, jedes Unterlassen? Was verursachen unsere Erwartungen?

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sinnlicher Genuss zwischen Pflicht und Liebe, der bewegt, statt einfache Lösungen aufzutischen

Die Eismacher
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„Wir wollen so viel an die nächste Generation weitergeben. Eis, Poesie, Werkzeug. Eine bestimmte Lebensweise. Nichts will man verloren gehen lassen, weil man sich sonst selbst infrage stellen müsste.“ ...

„Wir wollen so viel an die nächste Generation weitergeben. Eis, Poesie, Werkzeug. Eine bestimmte Lebensweise. Nichts will man verloren gehen lassen, weil man sich sonst selbst infrage stellen müsste.“ S. 349

Ernest van der Kwast schreibt vom Leben der Familie Talamini, aus dem Tal der Eismacher in der Region Venetien, Provinz Belluno, nord-westlich von Venedig. Er erzählt aus der Sicht des Ich-Erzählers Guiseppe über die Gegenwart der Familie, mit Rückblicken auf die Familiengeschichte ab dem Urgroßvater des Ich-Erzählers, der ebenfalls Guiseppe hieß. Dieser war der erste Talamini, der Speiseeis hergestellt hat. Mühselig musste er die Maschine dafür mit der Hand drehen („drehen, drehen, drehen“ ist eines der oft wiederholten Motive); das Eis zum Herunterkühlen der Zutaten hatte er selbst aus den Bergen geholt. Er war zuerst als Maronibräter nach Wien gegangen, bevor er seiner Faszination für die Eisherstellung nachgeben konnte. Seine Nachkommen folgen der Familientradition: der Vater des Ich-Erzählers, Beppi (natürlich auch ein Guiseppe), sah mit seinen zwei Söhnen die Nachfolge als gesichert an. Als Kinder sind die Brüder noch unzertrennlich, selbst, als sie sich beide in Sophia verlieben: „Luca und ich spielten beide eine absurde Variante des alten Ich-bin-nicht-verliebt-Spiels, und irgendwann konnte ein Dritter mit unserer Beute das Weite suchen. Doch dazu kam es nicht, es trat nie ein Dritter in Erscheinung.“ S. 134

Stammhalter Guiseppe entscheidet sich gegen die Familientradition: er liebt die Poesie, studiert, arbeitet im Verlag, für eine Lyrikzeitung, für Lyrikfestivals. So übernimmt der jüngere Sohn Luca das Familiengeschäft. „Er [der Bruder, Luca] arbeitete sechzehn Stunden am Tag, machte Eis, verkaufte Eis, reinigte die Maschinen und fiel am späten Abend wie ein Klotz ins Bett. Seine Welt war das Eiscafé, meine begann dort, wo die Terrasse aufhörte.“ S. 180 Es ist hart, das Leben der Eismacher, mit langen Arbeitstagen in der Fremde, Wochen ohne Wochenende oder Freizeit, auch ohne die Kinder, die der Schule wegen in Italien bleiben, im Internat oder bei Verwandten. In den Sommerferien besuchen die Kinder ihre Eltern dort, wo die ihre Cafés betreiben, in Rotterdam, wie im Buch, oder in Deutschland, Österreich oder sonst in Europa.

Der Autor beschreibt viele Welten in seinem Buch: er berichtet von Lyrik-Liebhaber Guiseppe, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Hotels in der ganzen Welt kennt, aber sich sonst oft als Fremder fühlt, weil er soviel unterwegs ist; er erzählt die Geschichte der Eisherstellung, vom harten Leben in Norditalien gegen Ende des 18. Jahrhunderts; er redet vom Bruch in der Familie. Das Buch spricht von Liebe und Verzicht, vom Umsetzen von Träumen und von Pflicht, von Tradition und Moderne, von Hoffnungen und davon, dass nicht alles gut werden muss, wenn diese sich erfüllen. Es spricht aber auch viel davon, was ist, wenn Wünsche nicht erfüllt werden: „Ich sah, weshalb mein Bruder aus Olivenöl Eis zu machen versuchte, warum er Melone mit Minze mischte, warum er bis tief in die Nacht über Rezepten brütete. Ich sah, warum Sophia manchmal bis halb elf im Bett blieb und den ganzen Tag auf die Pfützen starrte, in denen kleine Kinder mit ihren Stiefeln herumplantschten.“ S. 220

Ich bin kein Poesie-Liebhaber (das Buch schreibt lange und viel über und von Poesie wie vom Eismachen), aber ich verstehe Faszination. Ich verstehe Genuss. Im Buch sagt der Vater über Sohn Luca: „Sein Vanilleeis ist so fest und unwiderstehlich wie der Hintern von Sophia Loren.“ Dazu antwortet sein Gast, jemand aus der Lyrik-Welt von Sohn Giovanni: „Jetzt weiß ich, von wem ihr Sohn seine Liebe zur Poesie hat.“ S. 190. Beides ist sinnlich, Kunst und Genuss – allerdings sieht das speziell der Vater nicht, sieht es Bruder Luca nicht – sieht es vielleicht nicht einmal Sohn Giovanni.

Während ich im ersten Teil des Buches nur vom Erzählstil gefangen war und davon, in mehrere mir fremde Welten völlig einzutauchen, ließ mich der zweite Teil vieles überdenken. Wenn ich für die Selbstverwirklichung bin, kann das auch das Ende von Traditionen bedeuten, den Verlust von Kulturgut: viele Handwerker finden heute keine Nachfolger mehr. Wenn ich mich der Pflicht verschreibe, bin ich hingegen vielleicht irgendwann verbittert und hasse die, die sich freier entschieden oder um derentwillen ich diese Pflicht auf mich nehme. „Wir wollen so viel an die nächste Generation weitergeben. Eis, Poesie, Werkzeug. Eine bestimmte Lebensweise. Nichts will man verloren gehen lassen, weil man sich sonst selbst infrage stellen müsste.“ S. 349 Ein starkes Buch, das sich einfachen Lösungen verwehrt und lange nachhallt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Jugendroman, Dystopie: und so poetisch, dass ich es (trotzdem! nicht mein Genre!) wunderschön finde

Spiegelkind
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…das war jetzt überraschend bis unfreiwillig: ich kann dieses Buch echt gut leiden. Das ist seltsam, dann ich lese – eigentlich – keine Fantasy (das Wort Dystopie habe ich sogar erst hier kennengelernt), ...

…das war jetzt überraschend bis unfreiwillig: ich kann dieses Buch echt gut leiden. Das ist seltsam, dann ich lese – eigentlich – keine Fantasy (das Wort Dystopie habe ich sogar erst hier kennengelernt), keine Young Adult / Jugendromane (ich lese vielleicht einmal eines meiner alten Enid-Blyton-Bücher beim Umräumen) und ich hasse es wie die Pest, wenn Bücher mit einem Cliffhanger enden.
Aber ich hatte Baba Dunja gemocht – nicht alles, aber der Schreibstil war so toll – und dann hat mir hier Buchraettin so leidenschaftlich dieses Buch und das folgende empfohlen, dass ich dann kapituliert habe.


Die Geschichte ist wunderschön poetisch, leicht melancholisch, ziemlich spannend – und geschickterweise gibt es erst einmal nicht sehr viele phantastische Elemente, die sich im Leben von Juliane genannte Juli klar zeigen. Sie ist ein Teenager, 10. Klasse, die Eltern sind geschieden und wechseln sich wöchentlich damit ab, bei Juli und den zwei jüngeren Geschwistern, den Zwillingen Jaro und Kassie (Jaroslaw und Kassandra) im Haus der Familie zu wohnen. Als Juli eines Tages früher von der Schule heimkommt, ist die Mutter verschwunden, das Haus im Chaos, es ist Polizei da und dann beginnt etwas befremdliches: die Polizisten räumen auf. „Ich dachte außerdem noch, dass man nach einem Verbrechen keine Spuren vernichten darf?“ Ich sagte es leise, aber sie hatten es trotzdem gehört. Es fühlte sich an, als ob es im Zimmer schlagartig kälter geworden wäre.“ S. 12 Dann fällt auf, dass da noch etwas anderes, seltsames erwähnt wird – „die Zeit der Normalität“.


Dieses Buch handelt von einer Gesellschaftsform, in der gibt es „die Normalen“ (Julis Familie, erst einmal), die „Freaks“ und …die „Pheen“. Die verstörte Juli findet heraus, dass es mehr über ihre Mutter zu wissen gibt, als sie geahnt hatte, dass man bestimmte Fragen in der Gesellschaft nicht stellen darf und dass auch ihr Vater seine Geheimnisse hat.

Gleichzeitig erfährt sie unerwartete Freundschaft, lernt, den Mut aufzubringen, „anders“ zu sein, übernimmt Verantwortung für ihre Geschwister, lernt den Wert von Hilfsbereitschaft, begegnet Kunst,... . Ein Buch, das anhand des phantastischen Anteils die Furcht von Gesellschaften vor denen thematisiert, die anders sind, ich will das gar nicht weiter exemplifizieren, so schön poetisch tut das Alina Bronsky, so angenehm genau ohne belehrenden Ton. Leider endet das Buch im Ungewissen – aber ich habe schon den Folgeband hier liegen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Was verlangt einem Menschen mehr ab: „zu springen“, einen Neuanfang wagen – oder es sein lassen?

Britt-Marie war hier
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„Es ist schwer, nicht den Rückweg antreten zu wollen, wenn man gemerkt hat, wie schwierig ein Neuanfang ist. Es ist schwer, sein altes Leben nicht zurückhaben zu wollen, wenn man begriffen hat, was es ...

„Es ist schwer, nicht den Rückweg antreten zu wollen, wenn man gemerkt hat, wie schwierig ein Neuanfang ist. Es ist schwer, sein altes Leben nicht zurückhaben zu wollen, wenn man begriffen hat, was es einem Menschen abverlangt, die Kraft für ein neues Leben aufzubringen.“ S. 235 Diese Gedanken bewegen Britt-Marie. Was sie zu Beginn der Erzählung tut, empfindet sie nicht als Neuanfang. Sie sucht so dringend eine Arbeitsstelle, dass sie die Mitarbeiterin im Arbeitsamt geradezu belagert – was ihr einen dreiwöchigen Job in Borg einbringt, einem kleinen Ort ohne Perspektive in der Provinz. Dort trifft sie auf die skurrilen Bewohner – eine Ratte mit Faible für Snickers, Männer, die mit Bart und Kappe am Tisch sitzen, Kinder die auf einem Parkplatz Fußball spielen, besondere Familien, eine Frau im Rollstuhl ohne Namen,… Allen lässt Autor Backman ihre Würde, selbst die etwas zweischneidigeren Charaktere dürfen ihre positiven Seiten haben. Dass daraus so viel mehr als Unterhaltungsliteratur wird, liegt daran, dass das Buch so mitreißend schön und gefühlvoll ist und elementare Fragen aufwirft: wer sind wir und was macht uns aus, was ist wichtig im Leben. Da ich selbst bekennender Fußball-Hasser bin – hier geht es mehr um Begeisterung (ja, für Fußball – aber sooo toll geschrieben…). Nach meiner Erfahrung Männer-Eignung besonders als Hörbuch im Auto.

Ich finde es ganz wundervoll, dieses neueste Buch von Frederick Backman mit seinem ganz eigenen Stil, auf den man sich einlassen können muss (Backman-„Neulinge“ sind auf den ersten Seiten manchmal irritiert): Oft gibt es Wiederholungen, so führt der Autor seine Hauptfigur Britt-Marie damit ein, dass sie von sich sagt, sie verurteile niemanden oder sie habe keine Vorurteile – immer dann, wenn ihr Handeln gegenüber anderen irgendwie doch etwas anderes suggeriert. Britt-Marie wird hier gehörig an ihre Grenzen geführt werden.
Ein weiterer Trick ist es, etwas (oft mehrfach) zu erwähnen, was vielleicht erst belanglos wirkt, und dann quasi die Auflösung zu liefern, die dem Leser gerne kurz den Atem nimmt. So lesen wir über Britt-Maries Liebe zu Blumen, erfahren dann, dass sie diese gerne irgendwo aufliest - "Also rettete Britt-Marie immer wieder heimatlose Pflanzen, um es auszuhalten, sich an eine Schwester zu erinnern, der sie nicht ein einziges Mal das Leben retten konnte." S. 104. Nicht nur dieser Satz macht nachdenklich. So kontrastiert im Buch immer der Ton zwischen Humor, Ironie und Melancholie.

Das Ende hatte mich zuerst verwirrt - aber als ich in der Leserunde merkte, wieviel mehr an Diskussionen es bewirkte, war mir klar, wie richtig es genau so ist - diese Einladung zum eigenen Denken passt.

Alles mehr würde zu viel verraten. Bitte unbedingt lesen! Sonst schicke ich Bank mit ihrem Stock!