Zwitter aus Lebensgeschichte, Drastik & seltsamem Autor-Erzähler im Rausch
Die Wahrheit sagenIch habe dieses Buch , nachdem ich mich durch rund zwei Drittel hindurchgequält hatte, bis zu einem etwas versöhnlicheren Schluss zwischendurch nur noch überflogen, um der Rezensionsaufgabe zu genügen ...
Ich habe dieses Buch , nachdem ich mich durch rund zwei Drittel hindurchgequält hatte, bis zu einem etwas versöhnlicheren Schluss zwischendurch nur noch überflogen, um der Rezensionsaufgabe zu genügen – und ich bedaure im Moment, so lange durchgehalten zu haben, was nur mit vielen Pausen ansatzweise zu ertragen war – ich mag keine fortgesetzten übersexualisierten Gewaltorgien um ihrer selbst willen ohne positive Aspekte.
Das vorliegende Buchverbindet folgendes:
Da wird eine Lebensgeschichte erzählt, die von Bernhard Mares, unehelich 1924 in Wien in einer Straßenbahn geborener Sohn einer mexikanischen Mutter aus wohlhabender Familie, abgelegt in einer Kirche, um die Schande zu verbergen, aufgewachsen in Tschechien – und fortan sein Lebensweg durch und in der tschechischen und europäischen Geschichte. Dieser Teil wird chronologisch erzählt, von einem allwissenden Erzähler, der über Mares als „er“ berichtet, sie führt über die Vorgeschichte bis zum Zweiten Weltkrieg inklusive SS und Konzentrationslager, in die kommunistische Frühzeit Tschechiens, durch diverse Gefängnisse.
Eingebettet sind diese fortschreitenden Episoden in solche, die aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben werden: dieser ist Schriftsteller, hat ein Alkoholproblem, heißt Josef (sic!) – und trifft zufällig auf ebendiesen Bernhard Mares, der ihm über einen längeren Zeitraum seine Lebensgeschichte erzählt.
In diesem Wechsel nun liegt für mich eine weitere Irritation begründet, denn wenn doch die gesamte Geschichte nur von Bernhard Mares an den Schriftsteller weitergegeben wird, dann gibt es keinerlei Möglichkeit, wie dieser von den Ereignissen VOR Mares‘ Geburt, von dessen Mutter, ihrer Herkunft hätte erfahren haben können. Belegt kann nur die Zeit ab der Ablage in der Kirche sein, maximal noch über Augenzeugenberichte die Geburt in der Straßenbahn. Aber nein, darüber setzt sich der Autor noch weiter hinweg, er erscheint als er selbst, zum Beispiel: „Als allwissender Erzähler stelle ich mir die Szene ungefähr so vor. Der Papst fragt seinen Sekretär: „Und was ist in diesem Fall?“ S. 69 Das mag ein gezielter Kunstgriff sein, um statt Identifikation beim Leser Reflexion durch Distanz einzufordern. Irgendwann wirkt es nur noch schräg auf mich.
Die interessant beginnende Lebensgeschichte Bernhard Mares gerät sehr bald in eine Art wilden Sog – durchsetzt von Vulgärsprache, zelebrierter Gewalt und Übersexualisierung (immerhin, eindeutig keine Verharmlosung des Zweiten Weltkrieges, gleich auf welcher Seite, von den Diktaturen des Jahrhunderts oder von Gefängnissen), irgendwie wirkt er wie eine Fliege, die in vollem Bewusstsein immer wieder in einen Insektenverdampfer fliegt - und liebend gerne über diese Erfahrung berichtet. Damit war dann auch der mögliche Sympathieträger für mich dahin. Den Ansatz, anhand des Lebens einer fiktiven Person, die durch skurile Zufälle der Geschichte genau diese über viele Jahre nachvollziehbar macht, fand ich reizvoll, die Idee des Schriftstellers mit seinen Problemen als Reflexionsfläche für die Geschichte fand ich nachvollziehbar – die Umsetzung jedoch empfinde ich als schwer zu ertragen. Ich will Bücher, die mich herausfordern, belehren, Fragen aufwerfen – das tut dieses Buch zwar, stößt mich dann aber regelmäßig durch widerwärtige Drastik ab.
Josef Formánek wird in Wikipedia als einer der erfolgreichsten Gegenwartsautoren Tschechiens geführt, das vorliegende Buch erschien dort bereits 2008. Diese Auflage ist gewissermaßen ein Experiment – der Verlag wurde vom Autor (mit ungenannten Unterstützern) selbst gegründet zur Verbreitung tschechischer Literatur, beginnend mit deutscher Übersetzung – und bislang ausschließlich mit eigenen Werken in der Planung; dieses ist sozusagen die „Erst (erstes Buch des Verlags)-Erst (erstes Buch von Formánek in deutscher Sprache)-Erst (Erstauflage des Romans)-Auflage“ in deutscher Sprache.
Beim Erscheinen war der Roman (zunächst) nur über den Verlag direkt zu beziehen, mutig anhand der wirklich ordentlich ausgestatteten Ausgabe mit festem Einband, Lesebändchen und auf vernünftigem Papier.
Als nächstes geplant ist „Das Lächeln der traurigen Männer“, in dem Formánek autobiographisch über den Alkoholentzug schreibt – ich erwähne das, weil das im Werk, auch in „Die Wahrheit sagen“, eine Rolle zu spielen scheint.
Leider wirkt dieser Roman auf mich wie im Rausch - allerdings erlebt in der Gosse. Während im Thriller selbst bei der Darstellung eines sadistischen Mörders der Autor irgendwann Mitleid mit seinem Leser hat - hier geht alles schier endlos weiter, vom erträglicheren kurzen allerersten und -letzten Teil abgesehen.