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Veröffentlicht am 15.11.2018

Eine wundervoll absurde Geschichte!

Wie Eulen in der Nacht
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Allgemeines:

Titel: Wie Eulen in der Nacht
Autor: Maggie Stiefvater
Verlag: Knaur (2. November 2018)
Genre: Fantasy
ASIN: B07BWD1545
ISBN-10: 3426522829
ISBN-13: 978-3426522820
Seitenzahl: 304 Seiten
Originaltitel: ...

Allgemeines:

Titel: Wie Eulen in der Nacht
Autor: Maggie Stiefvater
Verlag: Knaur (2. November 2018)
Genre: Fantasy
ASIN: B07BWD1545
ISBN-10: 3426522829
ISBN-13: 978-3426522820
Seitenzahl: 304 Seiten
Originaltitel: All the Crooked Saints
Preis: 12,99€ (Kindle-Edition)
14,99€ (Broschiert)
Link: Hier klicken!



Inhalt:
Jeder träumt von einem Wunder, aber nicht jeder ist bereit dafür.
Wem nur noch ein Wunder helfen kann, der findet stets seinen Weg in die Wüste Colorados und zur außergewöhnlichen Familie Soria. Doch die Wunder der Sorias sind unberechenbar und wer sie aus eigener Kraft nicht vollenden kann, zahlt einen hohen Preis.
Auch Daniel Soria bewirkt diese Wunder mit der Ernsthaftigkeit und Hingabe, die es braucht. Doch dann bricht er die wichtigste Regel seiner Familie: Er mischt sich in ein Wunder ein. Dadurch entfesselt er eine Magie, die seinen Tod bedeuten könnte.

Bewertung:
In ihrer Danksagung schreibt Maggie Stiefvater, dass Wunder und Geschichten manchmal dasselbe sind. Da würde ich ihr uneingeschränkt zustimmen und auch hier haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die mit ihrer düsteren und doch so hoffnungsvollen Atmosphäre, dem feinen, ironischen Humor und der tiefen Wahrheit, die unter ganz viel Unglaublichem vergraben liegt, definitiv einem Wunder nahe kommt. Nachdem ich die "Ravenboys-Reihe" und "Nach dem Sommer" der Autorin schon gelesen und geliebt habe, hatte ich natürlich recht hohe Erwartungen an die Geschichte (auch wenn ich wirklich versucht habe, es neutral anzugehen), welche jedoch rückblickend auf jeden Fall erfüllt wurden auch wenn ich die Kritikpunkte meiner Vorrezensenten durchaus nachvollziehen kann!

"Jedes Soria Wunder hatte dasselbe Ziel: den Geist zu heilen. Das hatte sich Daniel Soria n der vergangenen Nacht immer wieder vorgehalten. Seine Lage war keine Strafe, sagte er sich. Diese Lage war ein Wunder. Aber sie fühlet sich nicht wie ein Wunder an."


Das Cover ist -wie eigentlich alle Stiefvater-Romane- ein wirklicher Blickfall und einfach besonders! Als ich das englische Originalcover zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich sofort in es verliebt so wie Pete in die Wüste. Und als ich die dann deutsche Ausgabe entdeckt und gesehen habe, dass sich dieses kaum vom Original unterscheidet, war ich wirklich glücklich und wusste: das muss ich im Regal stehen haben! Mit der kräftigen türkis-blauen Hintergrundfarbe und dem komplementären Orange der Sonne sticht die Komposition schon durch ihre Farben ins Auge. Zusammen mit den verschnörkelten Rosenranken und der weißen Eule wird dann die inhaltliche Passung gewährleistet. Der weiße, prominente Titel passt ebenfalls gut, auch wenn mir der englische Titel "All the Crooked Saints" viel besser gefällt. Ich kann aber durchaus verstehen, warum der Verlag den Titel nicht direkt übersetzt hat, das würde auf Deutsch eher komisch als mystisch klingen. Mit den rosenbedruckten Leselaschen, dem grell-orangenen Buchschnitt und den Rosenranken an jedem Kapitelbeginn wird die wunderbare Gestaltung noch abgerundet!
Erster Satz: "Nach Einbruch der Dunkelheit ist ein Wunder sehr weit zu hören."
Mit diesem Satz steigen wir eine dunkle Wüstennacht im Jahr 1962 ein, in der die Luft vor Wunder und Radiowellen nur so knistert und Eulen aufgeregt herumflattern. Wir lernen die drei Soria-Cousins Beatriz, Daniel und Joaquin kennen, die Radiowellen ihres Piratensenders von einem alten Lastwagen aus in die einsame Wüste schicken, in der Pete Wyatt und Tony DiRisio gerade auf das Örtchen Bicho Raro zuhalten - Tony weil er dringend ein Wunder braucht und Pete weil ihm eben jenen Lastwagen versprochen wurde. Klingt skurril? Dann wartet ab was passiert als einer er beiden Neuankömmlingen durch sein erstes Wunder zum Riese wird, ein Mädchen beschließt, in die Wüste zu laufen und der Heilige von Bicho Raro, aus Liebe seine eigene Dunkelheit über sich bringt. Denn die Sorias bieten zwar schon seit Jahrhunderten verlorenen Seelen an, ein Wunder an ihnen zu vollziehen und ihre Dunkelheit für sie sichtbar zu machen, doch den zweiten Teil des Wunders - die Bewältigung ihrer Dunkelheit - müssen sie ganz alleine hinbekommen. Und wer sich diesem uralten Gesetz widersetzt und sich in ein fremdes Wunder einmischt, der bringt selbst eine Dunkelheit über sich. Und wenn die Sorias eines wissen dann dass mit Wundern und der Dunkelheit genauso wenig zu spaßen ist wie mit Antonia Sorias tollwütigen Hunden...


"Trägst du die Dunkelheit in dir?" "Ja", antwortete Tony. "Und willst du davon befreit werden?" (…) "Ja." Draußen begannen Eulen mit den Flügeln zu schlagen und zu schreien. Virginia-Uhus riefen. Kreischeulen schrillten. Die Schleiereulen gaben ihr metallisch klingendes Fauchen von sich. Streifenkäuzchen miauten. Brillenkäuze bellten hohl. Sperlingskäuze piepsten. Die Elfenkäuze lachten nervös. Der misstönende Lärm schwoll an, und die Luft wurde immer noch wundersamer. Daniel schlug die Augen auf. Die Dunkelheit begann hervorzutreten."


Erstmal muss ich gestehen, dass mich das Buch anfangs gar nicht so fesseln konnte. Die Geschichte plätscherte dahin, die Stimmung der 60er Jahre in Amerika wurde zwar gut transportiert, durch die vielen unterschiedliche Charaktere und die skurrilen Handlungssprünge ist es aber erstmal schwierig in die Handlung einzusteigen. Dass Maggie Stiefvater wieder bei jedem Kapitel zu der Sicht eines anderen Hauptcharakters springt, der seine Gedanken, Gefühle, Taten und Erlebnisse als personaler Er-Erzähler wiedergeben kann macht das natürlich auch nicht einfacher. Nach 3 Kapiteln war ich jedoch in der Geschichte angekommen und der Lesespaß konnte losgehen als ich den roten Faden gefunden hatte: eine eigenartige Mischung aus klassischem Urban Fantasy mit Spiritualität, Märchen, Roadnovel, Bewältigungsgeschichte und einer guten Prise Verrücktheit. Alles umrahmt von ihrem unverwechselbaren Stiefvater-Stil und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte. Auch wenn der Roman nicht gerade viele Szenen aufweist, in denen wirklich Schlag auf Schlag viel passiert, bleibt durchgängig eine brodelnde Grundspannung erhalten. Leise, pfiffige Details, das unglaublich magische Setting und nicht zuletzt der tolle Schreibstil sorgen für eine wundervolle Atmosphäre, die einen nicht mehr loslässt. Teilweise ist die Geschichte wirklich sehr skurril und abgedreht, aber genau das macht sie eben aus, sodass mir das Buch bald mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erschien und ich aufs Neue von Stiefvaters Ideenreichtum verzaubert war.


"Wunder wie etwas zu behandeln, dass der Logik gehorchte, führte dazu, dass man sie nicht mehr so unheimlich fand, und das machte sie nicht nur noch gefährlicher, sondern auch weniger heilig und daher weniger bedeutsam. Diese Überzeugung ist recht verbreitet, aber sie tut sowohl der Wissenschaft als auch der Religion keinen Gefallen. Indem wir Dinge, die wir fürchten und nicht verstehen der Religion zuweisen, und die Dinge, die wir verstehen und kontrollieren können der Wissenschaft, berauben wir die Wissenschaft ihres künstlerischen Ausdrucks und die Religion ihrer Wandlungsfähigkeit."


Der geringe Umfang und die niedrige Handlungsdichte wird neben aberwitzige Drehungen und Wendungen vor allem durch den wundervollen Schreibstil der Autorin wettgemacht. Wie schon erwähnt trägt der leicht verrückte Stil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit bildgewaltigen, beschreibenden Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. Dabei verwendet sie hier besonders viele Metaphern und schöne Sinnbildern über Dunkelheit, Einsamkeit und Ängste, womit sie wunderschöne Botschaften und Anspielungen mit einem Augenzwinkern rüberzubringen schafft. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander das vor allem eines ist: magisch!


"Es war sehr still. Niemand hätte sie gesehen, wenn die Wüste nicht gewesen wäre. Doch als die Wüste Pete Wyatt ein Liebeslied singen hörte, merkte sie auf. Als sie Pete singen hörte, ließ sie also Wind um die beiden aufwirbeln, bis die Brise wie safte Streicher klang. Sie hörte Pete singen und ließ die Luft um jeden Stein und jede Pflanze kühler werden, bis all das seine Stimme harmonisch begleitete. Sie hörte Pete singen und trieb die Heuschrecken Colorados dazu an, leise Bläser zu imitieren, und sie ließ den Boden unter Bicho Raro sanft erbeben, sodass Sand und Staub den Takt schlugen, im Rhythmus des unvollständigen Herzens in Pete Wyatts Brust."


Zu der eher düsteren Atmosphäre passt das tolle Setting des Wüstenörtchen Bicho Raro perfekt. Die kleine Ansammlung an Häusern mitten in der erbarmungslosen Wüste Colorados schreit förmlich: "Wunderlich" und mit vielen kleinen Details wird dieser sonderbare Ort lebendig. Eine Wüste, die sich verliebt, ein Kampfhahn, der endlich Frieden mit sich selbst schließt, schwarze Rosen, die sich einfach nicht züchten lassen wollen und eine Scheune, die beim 100sten Stupsen des Windes in sich zusammen gefallen ist, Radiowellen, die sich aus versehen nach Skandinavien verirren - auf solche Ideen kommt wirklich nur Maggie Stiefvater und auch nur sie bekommt es hin, die nachdenklich-melancholisch-gefärbte Atmosphäre gekonnt an den richtigen Stellen durch ihren trockenen Humor aufzulockern und mich so das ein oder andere Mal zum Grinsen zu bringen.


"Pete war auf der Stelle verliebt. Dieser befremdlichen kalten Wüste ist es gleich, ob man in ihr lebt oder stirbt, aber er verliebte sich trotzdem in sie. Er hatte nicht geahnt, dass irgendein Ort so rau und so unmittelbar sein konnte, so dicht an der Oberfläche. Sein schwaches Herz spürte die Gefahr sehr wohl, konnte jedoch nicht widerstehen. Er verliebte sich so heftig, dass selbst diese Wüste es bemerkte. (…) Und die Wüste, so wenig mitfühlend oder gar sentimental, war gerührt, und zum ersten Mal seit langer Zeit erwiderte sie eines Menschen Liebe."


Der letzte Puzzlestein sind dann die Charaktere. Diese sind hier sehr tiefgründig und mit viel Potential angelegt, werden durch den geringen Umfang der Geschichte und der aberwitzigen Zahl an verschiedenen Protagonisten zum Teil leider nur grob gestreift. Durch die total durchgedrehten Eingangsworte zu jedem Charakter, in dem wir seinen sehnlichsten Wunsch und seine tiefste Angst erfahren (unten zwei Beispiele dazu, wirklich zum totlachen). Neben der schrägen Familie Soria und all ihren Entfernten Verwandtschaftsgraden muss man sich auch die Namen und Wunder der etlichen Pilger merken, die in Bicho Raro festsitzen und auf ihr zweites Wunder warten. Da wären zum einen das entfremdete Paar Antonia und Francisco Soria, die eine immer wütend, der andere immer in seinem Gewächshaus, der immer arbeitende Michael Soria, die immer ängstliche Judith Soria und ihr Macho-Mann Eduardo Soria, Daniel und Beatriz Cousin Joaquin Soria, der mittels Funkpiraterie eine Karriere als Radio-DJ "Diablo Diablo" starten will, Daniel Soria, der heiligste Soria, der die Wunder durchführen darf und natürlich Beatriz Soria höchstselbst, die scheinbar keine Gefühle hat, gerne Gefühle von oben betrachtet, erst Angst hat wenn diese begründet und berechtigt ist und sich mit ihrem Vater nur über eine erfundene Geheimsprache unterhält.
Dazu kommt der junge Pete, der nicht als Pilger nach Bicho Raro gekommen ist, sondern vor seiner gescheiterten Karriere beim Militär und seinem Loch im Herzen flieht und sich hier einen Lastwagen durch Arbeit verdienen will.
Und natürlich die Pilger, die alle ihre Lektion zu lernen haben: Die durch eine Riesenschlange aneinandergefesselten Zwillinge, die sich zusammen schließen müssen um getrennt sein zu können, der Radio-Riese Tony, der verstehen muss, dass es gar nicht so schlimm ist, die eigene Größe dazu zu nutzten, die Stimme eines anderen hochzuhalten, damit sie ein wenig lauter zu hören ist, die weinenden Marisita, deren ewige Regenwolken verhindern, dass die Monarchfalter auf ihrem Hochzeitskleid davonfliegen muss lernen, sich selbst zu verzeihen... Wir bekommen hier viele verschiedene Arten von Lebenskrisen und Bewältigungsstrategien auf fantastische Art und Weise vorgesetzt und können als Essenz mitnehmen: jede Dunkelheit kann bekämpft werden und je schneller man sich dieser bewusst wird, desto effektiver kann man sie loswerden!


"Das wollte Judith: zwei Goldzähne, wo sie niemand sehen würde, aber sie immer wüsste, dass sie da wären. Und dies fürchtete sie: vor Arztterminen, gleich welcher Art, Formulare ausfüllen zu müssen. (…) Das wollte Eduardo: dass Sänger mitten im Lied innehielten, weil sie lachen musste.
Und dies fürchtete er: dass sich Katzen auf sein Gesicht legen und ihn im Schlaf ersticken."


Insgesamt also eine bunte Mischung, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne das ich es bemerkt habe. Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft.
Und so nimmt diese wundervolle Geschichte voller Kreativität, Dunkelheit, Wahrheit, Liebe, Heilige und Wunder ihren Lauf und gipfelt am Ende in einem epischen Finale!


"Eine Wolke von Emotionen ballte sich um das Radio in Eduardos Pick-Up: Entsetzen, Wut, Freude, Stolz und schließlich, als Eulen die Pilger zu umkreisen begannen, Sorge. Ungewirkte Wunder hingen dick in der Luft und machten die Vögel ganz verrückt. Sie kreischten und sausten durch die Luft, dass die Federn stoben. Die Pilger steckten voller zweiter Wunder und die Sorias voller erster."



Fazit:

Die Kraft des Übernatürlichen, eines Wunders wird genauso eindrücklich geschildert wie die Kraft der Liebe, des Muts und der Freundschaft, sodass diese Geschichte trotz ihrer skurrilen Handlung doch so nah an der Wirklichkeit ist, dass sie mich tief berühren und mir einiges mitgeben konnte.
Mit der düsteren und doch so hoffnungsvollen Atmosphäre, dem feinen, ironischen Humor und der tiefen Wahrheit, die unter ganz viel Unglaublichem vergraben liegt, kommt der Roman definitiv selbst einem kleinen Wunder nahe!

Veröffentlicht am 15.11.2018

Eine wundervoll absurde Geschichte!

Wie Eulen in der Nacht
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In ihrer Danksagung schreibt Maggie Stiefvater, dass Wunder und Geschichten manchmal dasselbe sind. Da würde ich ihr uneingeschränkt zustimmen und auch hier haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die ...

In ihrer Danksagung schreibt Maggie Stiefvater, dass Wunder und Geschichten manchmal dasselbe sind. Da würde ich ihr uneingeschränkt zustimmen und auch hier haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die mit ihrer düsteren und doch so hoffnungsvollen Atmosphäre, dem feinen, ironischen Humor und der tiefen Wahrheit, die unter ganz viel Unglaublichem vergraben liegt, definitiv einem Wunder nahe kommt. Nachdem ich die "Ravenboys-Reihe" und "Nach dem Sommer" der Autorin schon gelesen und geliebt habe, hatte ich natürlich recht hohe Erwartungen an die Geschichte (auch wenn ich wirklich versucht habe, es neutral anzugehen), welche jedoch rückblickend auf jeden Fall erfüllt wurden auch wenn ich die Kritikpunkte meiner Vorrezensenten durchaus nachvollziehen kann!


"Jedes Soria Wunder hatte dasselbe Ziel: den Geist zu heilen. Das hatte sich Daniel Soria n der vergangenen Nacht immer wieder vorgehalten. Seine Lage war keine Strafe, sagte er sich. Diese Lage war ein Wunder. Aber sie fühlte sich nicht wie ein Wunder an."


Das Cover ist -wie eigentlich alle Stiefvater-Romane- ein wirklicher Blickfall und einfach besonders! Als ich das englische Originalcover zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich sofort in es verliebt so wie Pete in die Wüste. Und als ich die dann deutsche Ausgabe entdeckt und gesehen habe, dass sich dieses kaum vom Original unterscheidet, war ich wirklich glücklich und wusste: das muss ich im Regal stehen haben! Mit der kräftigen türkis-blauen Hintergrundfarbe und dem komplementären Orange der Sonne sticht die Komposition schon durch ihre Farben ins Auge. Zusammen mit den verschnörkelten Rosenranken und der weißen Eule wird dann die inhaltliche Passung gewährleistet. Der weiße, prominente Titel passt ebenfalls gut, auch wenn mir der englische Titel "All the Crooked Saints" viel besser gefällt. Ich kann aber durchaus verstehen, warum der Verlag den Titel nicht direkt übersetzt hat, das würde auf Deutsch eher komisch als mystisch klingen. Mit den rosenbedruckten Leselaschen, dem grell-orangenen Buchschnitt und den Rosenranken an jedem Kapitelbeginn wird die wunderbare Gestaltung noch abgerundet!

Erster Satz: "Nach Einbruch der Dunkelheit ist ein Wunder sehr weit zu hören."

Mit diesem Satz steigen wir eine dunkle Wüstennacht im Jahr 1962 ein, in der die Luft vor Wunder und Radiowellen nur so knistert und Eulen aufgeregt herumflattern. Wir lernen die drei Soria-Cousins Beatriz, Daniel und Joaquin kennen, die Radiowellen ihres Piratensenders von einem alten Lastwagen aus in die einsame Wüste schicken, in der Pete Wyatt und Tony DiRisio gerade auf das Örtchen Bicho Raro zuhalten - Tony weil er dringend ein Wunder braucht und Pete weil ihm eben jenen Lastwagen versprochen wurde. Klingt skurril? Dann wartet ab was passiert als einer er beiden Neuankömmlingen durch sein erstes Wunder zum Riese wird, ein Mädchen beschließt, in die Wüste zu laufen und der Heilige von Bicho Raro, aus Liebe seine eigene Dunkelheit über sich bringt. Denn die Sorias bieten zwar schon seit Jahrhunderten verlorenen Seelen an, ein Wunder an ihnen zu vollziehen und ihre Dunkelheit für sie sichtbar zu machen, doch den zweiten Teil des Wunders - die Bewältigung ihrer Dunkelheit - müssen sie ganz alleine hinbekommen. Und wer sich diesem uralten Gesetz widersetzt und sich in ein fremdes Wunder einmischt, der bringt selbst eine Dunkelheit über sich. Und wenn die Sorias eines wissen dann dass mit Wundern und der Dunkelheit genauso wenig zu spaßen ist wie mit Antonia Sorias tollwütigen Hunden...


"Trägst du die Dunkelheit in dir?" "Ja", antwortete Tony. "Und willst du davon befreit werden?" (…) "Ja." Draußen begannen Eulen mit den Flügeln zu schlagen und zu schreien. Virginia-Uhus riefen. Kreischeulen schrillten. Die Schleiereulen gaben ihr metallisch klingendes Fauchen von sich. Streifenkäuzchen miauten. Brillenkäuze bellten hohl. Sperlingskäuze piepsten. Die Elfenkäuze lachten nervös. Der misstönende Lärm schwoll an, und die Luft wurde immer noch wundersamer. Daniel schlug die Augen auf. Die Dunkelheit begann hervorzutreten."


Erstmal muss ich gestehen, dass mich das Buch anfangs gar nicht so fesseln konnte. Die Geschichte plätscherte dahin, die Stimmung der 60er Jahre in Amerika wurde zwar gut transportiert, durch die vielen unterschiedliche Charaktere und die skurrilen Handlungssprünge ist es aber erstmal schwierig in die Handlung einzusteigen. Dass Maggie Stiefvater wieder bei jedem Kapitel zu der Sicht eines anderen Hauptcharakters springt, der seine Gedanken, Gefühle, Taten und Erlebnisse als personaler Er-Erzähler wiedergeben kann macht das natürlich auch nicht einfacher. Nach 3 Kapiteln war ich jedoch in der Geschichte angekommen und der Lesespaß konnte losgehen als ich den roten Faden gefunden hatte: eine eigenartige Mischung aus klassischem Urban Fantasy mit Spiritualität, Märchen, Roadnovel, Bewältigungsgeschichte und einer guten Prise Verrücktheit. Alles umrahmt von ihrem unverwechselbaren Stiefvater-Stil und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte. Auch wenn der Roman nicht gerade viele Szenen aufweist, in denen wirklich Schlag auf Schlag viel passiert, bleibt durchgängig eine brodelnde Grundspannung erhalten. Leise, pfiffige Details, das unglaublich magische Setting und nicht zuletzt der tolle Schreibstil sorgen für eine wundervolle Atmosphäre, die einen nicht mehr loslässt. Teilweise ist die Geschichte wirklich sehr skurril und abgedreht, aber genau das macht sie eben aus, sodass mir das Buch bald mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erschien und ich aufs Neue von Stiefvaters Ideenreichtum verzaubert war.


"Wunder wie etwas zu behandeln, dass der Logik gehorchte, führte dazu, dass man sie nicht mehr so unheimlich fand, und das machte sie nicht nur noch gefährlicher, sondern auch weniger heilig und daher weniger bedeutsam. Diese Überzeugung ist recht verbreitet, aber sie tut sowohl der Wissenschaft als auch der Religion keinen Gefallen. Indem wir Dinge, die wir fürchten und nicht verstehen der Religion zuweisen, und die Dinge, die wir verstehen und kontrollieren können der Wissenschaft, berauben wir die Wissenschaft ihres künstlerischen Ausdrucks und die Religion ihrer Wandlungsfähigkeit."


Der geringe Umfang und die niedrige Handlungsdichte wird neben aberwitzige Drehungen und Wendungen vor allem durch den wundervollen Schreibstil der Autorin wettgemacht. Wie schon erwähnt trägt der leicht verrückte Stil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit bildgewaltigen, beschreibenden Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. Dabei verwendet sie hier besonders viele Metaphern und schöne Sinnbildern über Dunkelheit, Einsamkeit und Ängste, womit sie wunderschöne Botschaften und Anspielungen mit einem Augenzwinkern rüberzubringen schafft. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander das vor allem eines ist: magisch!


"Es war sehr still. Niemand hätte sie gesehen, wenn die Wüste nicht gewesen wäre. Doch als die Wüste Pete Wyatt ein Liebeslied singen hörte, merkte sie auf. Als sie Pete singen hörte, ließ sie also Wind um die beiden aufwirbeln, bis die Brise wie safte Streicher klang. Sie hörte Pete singen und ließ die Luft um jeden Stein und jede Pflanze kühler werden, bis all das seine Stimme harmonisch begleitete. Sie hörte Pete singen und trieb die Heuschrecken Colorados dazu an, leise Bläser zu imitieren, und sie ließ den Boden unter Bicho Raro sanft erbeben, sodass Sand und Staub den Takt schlugen, im Rhythmus des unvollständigen Herzens in Pete Wyatts Brust."


Zu der eher düsteren Atmosphäre passt das tolle Setting des Wüstenörtchen Bicho Raro perfekt. Die kleine Ansammlung an Häusern mitten in der erbarmungslosen Wüste Colorados schreit förmlich: "Wunderlich" und mit vielen kleinen Details wird dieser sonderbare Ort lebendig. Eine Wüste, die sich verliebt, ein Kampfhahn, der endlich Frieden mit sich selbst schließt, schwarze Rosen, die sich einfach nicht züchten lassen wollen und eine Scheune, die beim 100sten Stupsen des Windes in sich zusammen gefallen ist, Radiowellen, die sich aus versehen nach Skandinavien verirren - auf solche Ideen kommt wirklich nur Maggie Stiefvater und auch nur sie bekommt es hin, die nachdenklich-melancholisch-gefärbte Atmosphäre gekonnt an den richtigen Stellen durch ihren trockenen Humor aufzulockern und mich so das ein oder andere Mal zum Grinsen zu bringen.


"Pete war auf der Stelle verliebt. Dieser befremdlichen kalten Wüste ist es gleich, ob man in ihr lebt oder stirbt, aber er verliebte sich trotzdem in sie. Er hatte nicht geahnt, dass irgendein Ort so rau und so unmittelbar sein konnte, so dicht an der Oberfläche. Sein schwaches Herz spürte die Gefahr sehr wohl, konnte jedoch nicht widerstehen. Er verliebte sich so heftig, dass selbst diese Wüste es bemerkte. (…) Und die Wüste, so wenig mitfühlend oder gar sentimental, war gerührt, und zum ersten Mal seit langer Zeit erwiderte sie eines Menschen Liebe."


Der letzte Puzzlestein sind dann die Charaktere. Diese sind hier sehr tiefgründig und mit viel Potential angelegt, werden durch den geringen Umfang der Geschichte und der aberwitzigen Zahl an verschiedenen Protagonisten zum Teil leider nur grob gestreift. Durch die total durchgedrehten Eingangsworte zu jedem Charakter, in dem wir seinen sehnlichsten Wunsch und seine tiefste Angst erfahren (unten zwei Beispiele dazu, wirklich zum totlachen). Neben der schrägen Familie Soria und all ihren Entfernten Verwandtschaftsgraden muss man sich auch die Namen und Wunder der etlichen Pilger merken, die in Bicho Raro festsitzen und auf ihr zweites Wunder warten. Da wären zum einen das entfremdete Paar Antonia und Francisco Soria, die eine immer wütend, der andere immer in seinem Gewächshaus, der immer arbeitende Michael Soria, die immer ängstliche Judith Soria und ihr Macho-Mann Eduardo Soria, Daniel und Beatriz Cousin Joaquin Soria, der mittels Funkpiraterie eine Karriere als Radio-DJ "Diablo Diablo" starten will, Daniel Soria, der heiligste Soria, der die Wunder durchführen darf und natürlich Beatriz Soria höchstselbst, die scheinbar keine Gefühle hat, gerne Gefühle von oben betrachtet, erst Angst hat wenn diese begründet und berechtigt ist und sich mit ihrem Vater nur über eine erfundene Geheimsprache unterhält.
Dazu kommt der junge Pete, der nicht als Pilger nach Bicho Raro gekommen ist, sondern vor seiner gescheiterten Karriere beim Militär und seinem Loch im Herzen flieht und sich hier einen Lastwagen durch Arbeit verdienen will.
Und natürlich die Pilger, die alle ihre Lektion zu lernen haben: Die durch eine Riesenschlange aneinandergefesselten Zwillinge, die sich zusammen schließen müssen um getrennt sein zu können, der Radio-Riese Tony, der verstehen muss, dass es gar nicht so schlimm ist, die eigene Größe dazu zu nutzten, die Stimme eines anderen hochzuhalten, damit sie ein wenig lauter zu hören ist, die weinenden Marisita, deren ewige Regenwolken verhindern, dass die Monarchfalter auf ihrem Hochzeitskleid davonfliegen muss lernen, sich selbst zu verzeihen... Wir bekommen hier viele verschiedene Arten von Lebenskrisen und Bewältigungsstrategien auf fantastische Art und Weise vorgesetzt und können als Essenz mitnehmen: jede Dunkelheit kann bekämpft werden und je schneller man sich dieser bewusst wird, desto effektiver kann man sie loswerden!


"Das wollte Judith: zwei Goldzähne, wo sie niemand sehen würde, aber sie immer wüsste, dass sie da wären. Und dies fürchtete sie: vor Arztterminen, gleich welcher Art, Formulare ausfüllen zu müssen. (…) Das wollte Eduardo: dass Sänger mitten im Lied innehielten, weil sie lachen musste.
Und dies fürchtete er: dass sich Katzen auf sein Gesicht legen und ihn im Schlaf ersticken."


Insgesamt also eine bunte Mischung, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne das ich es bemerkt habe. Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft.
Und so nimmt diese wundervolle Geschichte voller Kreativität, Dunkelheit, Wahrheit, Liebe, Heilige und Wunder ihren Lauf und gipfelt am Ende in einem epischen Finale!


"Eine Wolke von Emotionen ballte sich um das Radio in Eduardos Pick-Up: Entsetzen, Wut, Freude, Stolz und schließlich, als Eulen die Pilger zu umkreisen begannen, Sorge. Ungewirkte Wunder hingen dick in der Luft und machten die Vögel ganz verrückt. Sie kreischten und sausten durch die Luft, dass die Federn stoben. Die Pilger steckten voller zweiter Wunder und die Sorias voller erster."



Fazit:


Die Kraft des Übernatürlichen, eines Wunders wird genauso eindrücklich geschildert wie die Kraft der Liebe, des Muts und der Freundschaft, sodass diese Geschichte trotz ihrer skurrilen Handlung doch so nah an der Wirklichkeit ist, dass sie mich tief berühren und mir einiges mitgeben konnte.
Mit der düsteren und doch so hoffnungsvollen Atmosphäre, dem feinen, ironischen Humor und der tiefen Wahrheit, die unter ganz viel Unglaublichem vergraben liegt, kommt der Roman definitiv selbst einem kleinen Wunder nahe!

Veröffentlicht am 15.11.2018

Eine wundervoll absurde Geschichte!

Wie Eulen in der Nacht
1

In ihrer Danksagung schreibt Maggie Stiefvater, dass Wunder und Geschichten manchmal dasselbe sind. Da würde ich ihr uneingeschränkt zustimmen und auch hier haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die ...

In ihrer Danksagung schreibt Maggie Stiefvater, dass Wunder und Geschichten manchmal dasselbe sind. Da würde ich ihr uneingeschränkt zustimmen und auch hier haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die mit ihrer düsteren und doch so hoffnungsvollen Atmosphäre, dem feinen, ironischen Humor und der tiefen Wahrheit, die unter ganz viel Unglaublichem vergraben liegt, definitiv einem Wunder nahe kommt. Nachdem ich die "Ravenboys-Reihe" und "Nach dem Sommer" der Autorin schon gelesen und geliebt habe, hatte ich natürlich recht hohe Erwartungen an die Geschichte (auch wenn ich wirklich versucht habe, es neutral anzugehen), welche jedoch rückblickend auf jeden Fall erfüllt wurden auch wenn ich die Kritikpunkte meiner Vorrezensenten durchaus nachvollziehen kann!


"Jedes Soria Wunder hatte dasselbe Ziel: den Geist zu heilen. Das hatte sich Daniel Soria n der vergangenen Nacht immer wieder vorgehalten. Seine Lage war keine Strafe, sagte er sich. Diese Lage war ein Wunder. Aber sie fühlte sich nicht wie ein Wunder an."


Das Cover ist -wie eigentlich alle Stiefvater-Romane- ein wirklicher Blickfall und einfach besonders! Als ich das englische Originalcover zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich sofort in es verliebt so wie Pete in die Wüste. Und als ich die dann deutsche Ausgabe entdeckt und gesehen habe, dass sich dieses kaum vom Original unterscheidet, war ich wirklich glücklich und wusste: das muss ich im Regal stehen haben! Mit der kräftigen türkis-blauen Hintergrundfarbe und dem komplementären Orange der Sonne sticht die Komposition schon durch ihre Farben ins Auge. Zusammen mit den verschnörkelten Rosenranken und der weißen Eule wird dann die inhaltliche Passung gewährleistet. Der weiße, prominente Titel passt ebenfalls gut, auch wenn mir der englische Titel "All the Crooked Saints" viel besser gefällt. Ich kann aber durchaus verstehen, warum der Verlag den Titel nicht direkt übersetzt hat, das würde auf Deutsch eher komisch als mystisch klingen. Mit den rosenbedruckten Leselaschen, dem grell-orangenen Buchschnitt und den Rosenranken an jedem Kapitelbeginn wird die wunderbare Gestaltung noch abgerundet!

Erster Satz: "Nach Einbruch der Dunkelheit ist ein Wunder sehr weit zu hören."

Mit diesem Satz steigen wir eine dunkle Wüstennacht im Jahr 1962 ein, in der die Luft vor Wunder und Radiowellen nur so knistert und Eulen aufgeregt herumflattern. Wir lernen die drei Soria-Cousins Beatriz, Daniel und Joaquin kennen, die Radiowellen ihres Piratensenders von einem alten Lastwagen aus in die einsame Wüste schicken, in der Pete Wyatt und Tony DiRisio gerade auf das Örtchen Bicho Raro zuhalten - Tony weil er dringend ein Wunder braucht und Pete weil ihm eben jenen Lastwagen versprochen wurde. Klingt skurril? Dann wartet ab was passiert als einer er beiden Neuankömmlingen durch sein erstes Wunder zum Riese wird, ein Mädchen beschließt, in die Wüste zu laufen und der Heilige von Bicho Raro, aus Liebe seine eigene Dunkelheit über sich bringt. Denn die Sorias bieten zwar schon seit Jahrhunderten verlorenen Seelen an, ein Wunder an ihnen zu vollziehen und ihre Dunkelheit für sie sichtbar zu machen, doch den zweiten Teil des Wunders - die Bewältigung ihrer Dunkelheit - müssen sie ganz alleine hinbekommen. Und wer sich diesem uralten Gesetz widersetzt und sich in ein fremdes Wunder einmischt, der bringt selbst eine Dunkelheit über sich. Und wenn die Sorias eines wissen dann dass mit Wundern und der Dunkelheit genauso wenig zu spaßen ist wie mit Antonia Sorias tollwütigen Hunden...


"Trägst du die Dunkelheit in dir?" "Ja", antwortete Tony. "Und willst du davon befreit werden?" (…) "Ja." Draußen begannen Eulen mit den Flügeln zu schlagen und zu schreien. Virginia-Uhus riefen. Kreischeulen schrillten. Die Schleiereulen gaben ihr metallisch klingendes Fauchen von sich. Streifenkäuzchen miauten. Brillenkäuze bellten hohl. Sperlingskäuze piepsten. Die Elfenkäuze lachten nervös. Der misstönende Lärm schwoll an, und die Luft wurde immer noch wundersamer. Daniel schlug die Augen auf. Die Dunkelheit begann hervorzutreten."


Erstmal muss ich gestehen, dass mich das Buch anfangs gar nicht so fesseln konnte. Die Geschichte plätscherte dahin, die Stimmung der 60er Jahre in Amerika wurde zwar gut transportiert, durch die vielen unterschiedliche Charaktere und die skurrilen Handlungssprünge ist es aber erstmal schwierig in die Handlung einzusteigen. Dass Maggie Stiefvater wieder bei jedem Kapitel zu der Sicht eines anderen Hauptcharakters springt, der seine Gedanken, Gefühle, Taten und Erlebnisse als personaler Er-Erzähler wiedergeben kann macht das natürlich auch nicht einfacher. Nach 3 Kapiteln war ich jedoch in der Geschichte angekommen und der Lesespaß konnte losgehen als ich den roten Faden gefunden hatte: eine eigenartige Mischung aus klassischem Urban Fantasy mit Spiritualität, Märchen, Roadnovel, Bewältigungsgeschichte und einer guten Prise Verrücktheit. Alles umrahmt von ihrem unverwechselbaren Stiefvater-Stil und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte. Auch wenn der Roman nicht gerade viele Szenen aufweist, in denen wirklich Schlag auf Schlag viel passiert, bleibt durchgängig eine brodelnde Grundspannung erhalten. Leise, pfiffige Details, das unglaublich magische Setting und nicht zuletzt der tolle Schreibstil sorgen für eine wundervolle Atmosphäre, die einen nicht mehr loslässt. Teilweise ist die Geschichte wirklich sehr skurril und abgedreht, aber genau das macht sie eben aus, sodass mir das Buch bald mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erschien und ich aufs Neue von Stiefvaters Ideenreichtum verzaubert war.


"Wunder wie etwas zu behandeln, dass der Logik gehorchte, führte dazu, dass man sie nicht mehr so unheimlich fand, und das machte sie nicht nur noch gefährlicher, sondern auch weniger heilig und daher weniger bedeutsam. Diese Überzeugung ist recht verbreitet, aber sie tut sowohl der Wissenschaft als auch der Religion keinen Gefallen. Indem wir Dinge, die wir fürchten und nicht verstehen der Religion zuweisen, und die Dinge, die wir verstehen und kontrollieren können der Wissenschaft, berauben wir die Wissenschaft ihres künstlerischen Ausdrucks und die Religion ihrer Wandlungsfähigkeit."


Der geringe Umfang und die niedrige Handlungsdichte wird neben aberwitzige Drehungen und Wendungen vor allem durch den wundervollen Schreibstil der Autorin wettgemacht. Wie schon erwähnt trägt der leicht verrückte Stil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit bildgewaltigen, beschreibenden Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. Dabei verwendet sie hier besonders viele Metaphern und schöne Sinnbildern über Dunkelheit, Einsamkeit und Ängste, womit sie wunderschöne Botschaften und Anspielungen mit einem Augenzwinkern rüberzubringen schafft. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander das vor allem eines ist: magisch!


"Es war sehr still. Niemand hätte sie gesehen, wenn die Wüste nicht gewesen wäre. Doch als die Wüste Pete Wyatt ein Liebeslied singen hörte, merkte sie auf. Als sie Pete singen hörte, ließ sie also Wind um die beiden aufwirbeln, bis die Brise wie safte Streicher klang. Sie hörte Pete singen und ließ die Luft um jeden Stein und jede Pflanze kühler werden, bis all das seine Stimme harmonisch begleitete. Sie hörte Pete singen und trieb die Heuschrecken Colorados dazu an, leise Bläser zu imitieren, und sie ließ den Boden unter Bicho Raro sanft erbeben, sodass Sand und Staub den Takt schlugen, im Rhythmus des unvollständigen Herzens in Pete Wyatts Brust."


Zu der eher düsteren Atmosphäre passt das tolle Setting des Wüstenörtchen Bicho Raro perfekt. Die kleine Ansammlung an Häusern mitten in der erbarmungslosen Wüste Colorados schreit förmlich: "Wunderlich" und mit vielen kleinen Details wird dieser sonderbare Ort lebendig. Eine Wüste, die sich verliebt, ein Kampfhahn, der endlich Frieden mit sich selbst schließt, schwarze Rosen, die sich einfach nicht züchten lassen wollen und eine Scheune, die beim 100sten Stupsen des Windes in sich zusammen gefallen ist, Radiowellen, die sich aus versehen nach Skandinavien verirren - auf solche Ideen kommt wirklich nur Maggie Stiefvater und auch nur sie bekommt es hin, die nachdenklich-melancholisch-gefärbte Atmosphäre gekonnt an den richtigen Stellen durch ihren trockenen Humor aufzulockern und mich so das ein oder andere Mal zum Grinsen zu bringen.


"Pete war auf der Stelle verliebt. Dieser befremdlichen kalten Wüste ist es gleich, ob man in ihr lebt oder stirbt, aber er verliebte sich trotzdem in sie. Er hatte nicht geahnt, dass irgendein Ort so rau und so unmittelbar sein konnte, so dicht an der Oberfläche. Sein schwaches Herz spürte die Gefahr sehr wohl, konnte jedoch nicht widerstehen. Er verliebte sich so heftig, dass selbst diese Wüste es bemerkte. (…) Und die Wüste, so wenig mitfühlend oder gar sentimental, war gerührt, und zum ersten Mal seit langer Zeit erwiderte sie eines Menschen Liebe."


Der letzte Puzzlestein sind dann die Charaktere. Diese sind hier sehr tiefgründig und mit viel Potential angelegt, werden durch den geringen Umfang der Geschichte und der aberwitzigen Zahl an verschiedenen Protagonisten zum Teil leider nur grob gestreift. Durch die total durchgedrehten Eingangsworte zu jedem Charakter, in dem wir seinen sehnlichsten Wunsch und seine tiefste Angst erfahren (unten zwei Beispiele dazu, wirklich zum totlachen). Neben der schrägen Familie Soria und all ihren Entfernten Verwandtschaftsgraden muss man sich auch die Namen und Wunder der etlichen Pilger merken, die in Bicho Raro festsitzen und auf ihr zweites Wunder warten. Da wären zum einen das entfremdete Paar Antonia und Francisco Soria, die eine immer wütend, der andere immer in seinem Gewächshaus, der immer arbeitende Michael Soria, die immer ängstliche Judith Soria und ihr Macho-Mann Eduardo Soria, Daniel und Beatriz Cousin Joaquin Soria, der mittels Funkpiraterie eine Karriere als Radio-DJ "Diablo Diablo" starten will, Daniel Soria, der heiligste Soria, der die Wunder durchführen darf und natürlich Beatriz Soria höchstselbst, die scheinbar keine Gefühle hat, gerne Gefühle von oben betrachtet, erst Angst hat wenn diese begründet und berechtigt ist und sich mit ihrem Vater nur über eine erfundene Geheimsprache unterhält.
Dazu kommt der junge Pete, der nicht als Pilger nach Bicho Raro gekommen ist, sondern vor seiner gescheiterten Karriere beim Militär und seinem Loch im Herzen flieht und sich hier einen Lastwagen durch Arbeit verdienen will.
Und natürlich die Pilger, die alle ihre Lektion zu lernen haben: Die durch eine Riesenschlange aneinandergefesselten Zwillinge, die sich zusammen schließen müssen um getrennt sein zu können, der Radio-Riese Tony, der verstehen muss, dass es gar nicht so schlimm ist, die eigene Größe dazu zu nutzten, die Stimme eines anderen hochzuhalten, damit sie ein wenig lauter zu hören ist, die weinenden Marisita, deren ewige Regenwolken verhindern, dass die Monarchfalter auf ihrem Hochzeitskleid davonfliegen muss lernen, sich selbst zu verzeihen... Wir bekommen hier viele verschiedene Arten von Lebenskrisen und Bewältigungsstrategien auf fantastische Art und Weise vorgesetzt und können als Essenz mitnehmen: jede Dunkelheit kann bekämpft werden und je schneller man sich dieser bewusst wird, desto effektiver kann man sie loswerden!


"Das wollte Judith: zwei Goldzähne, wo sie niemand sehen würde, aber sie immer wüsste, dass sie da wären. Und dies fürchtete sie: vor Arztterminen, gleich welcher Art, Formulare ausfüllen zu müssen. (…) Das wollte Eduardo: dass Sänger mitten im Lied innehielten, weil sie lachen musste.
Und dies fürchtete er: dass sich Katzen auf sein Gesicht legen und ihn im Schlaf ersticken."


Insgesamt also eine bunte Mischung, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne das ich es bemerkt habe. Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft.
Und so nimmt diese wundervolle Geschichte voller Kreativität, Dunkelheit, Wahrheit, Liebe, Heilige und Wunder ihren Lauf und gipfelt am Ende in einem epischen Finale!


"Eine Wolke von Emotionen ballte sich um das Radio in Eduardos Pick-Up: Entsetzen, Wut, Freude, Stolz und schließlich, als Eulen die Pilger zu umkreisen begannen, Sorge. Ungewirkte Wunder hingen dick in der Luft und machten die Vögel ganz verrückt. Sie kreischten und sausten durch die Luft, dass die Federn stoben. Die Pilger steckten voller zweiter Wunder und die Sorias voller erster."



Fazit:


Die Kraft des Übernatürlichen, eines Wunders wird genauso eindrücklich geschildert wie die Kraft der Liebe, des Muts und der Freundschaft, sodass diese Geschichte trotz ihrer skurrilen Handlung doch so nah an der Wirklichkeit ist, dass sie mich tief berühren und mir einiges mitgeben konnte.
Mit der düsteren und doch so hoffnungsvollen Atmosphäre, dem feinen, ironischen Humor und der tiefen Wahrheit, die unter ganz viel Unglaublichem vergraben liegt, kommt der Roman definitiv selbst einem kleinen Wunder nahe!

Veröffentlicht am 18.10.2018

Eine intelligente, innovative Dystopie: “Tapfer kann nur sein, wer die Angst kennt.”

Renegades - Gefährlicher Freund
0

Von Marissa Meyer habe ich bislang nur Band 1 ihrer Luna-Chroniken gelesen, wusste aber sofort, als ich das Cover gesehen habe, dass ich dieses Buch lesen muss. Nach einem Blick auf das Thema - Superhelden ...

Von Marissa Meyer habe ich bislang nur Band 1 ihrer Luna-Chroniken gelesen, wusste aber sofort, als ich das Cover gesehen habe, dass ich dieses Buch lesen muss. Nach einem Blick auf das Thema - Superhelden und Superschurken - war dann alles klar. An dieser Stelle ein kurzes Dankeschön an das Bloggerportal und den Heyne Verlag für das Rezensionsexemplar!

Das Cover zieht sofort durch die düstere Ausstrahlung und das spannenden Motiv in den Bann. Umgeben von einigen Häusern der Stadt thront der Turm der Renegades, an den sich zwei kontrapunktische Gestalten lehnen: eine Frau mit Kapuze - Nachtmahr - und ein Mann in Uniform - der Wächter. Umrahmt wird das Ganze von kontrastreichen Strahlen, was dem Szenario zusammen mit der rot-blauen-Farbgebung etwas Surreales verleiht. Die zwei Gestalten scheinen durch den Turm der Renegades miteinander verbunden zu sein, schauen aber in verschiedene Richtungen, was den Inhalt auf einer Metaebene eigentlich ganz gut zusammenfasst. Die Gestaltung inklusive der spannenden Gestaltung der roten Leselaschen bekommt von mir also einen deutlichen Daumen nach oben.


Erster Satz: "Am Anfang waren wir alle Schurken"


Die Autorin beginnt ihre Geschichte mit einer kurzen Einführung in die Vergangenheit Gatlons. Kurz aber verheißungsvoll bekommen wir erklärt, wie die Verfolgung der Wunderkinder durch Ace Anarchos Zeitalter der Anarchie abgelöst wird, bevor sich blutig ein neues System etablierte: die Herrschaft der Renegades. Eine Eliteeinheit an ausgebildeten Wunderkindern, deren Aufgabe es ist, die Schurken zu bekämpfen, die Ordnung und Sicherheit des Stadtlebens aufrecht zu erhalten und allen Bürgern ein Vorbild zu sein - sagen zumindest sie. Nova Artino sieht das ganz anders. Im auf die Einführung folgenden Prolog bekommen wir eindrucksvoll geschildert, warum sie allen Grund hat, den Renegades nicht zu vertrauen - mehr noch, sie zu hassen: Als ihre Familie von Gangmitgliedern ermordet wird, sind die so angepriesenen Helden nicht da und können den garantierten Schutz nicht erfüllen. Seitdem ist sie Teil der Anarchisten, die verborgen in einem verlassenen U-Bahntunnel auf ihre Chance warten, die Renegades von ihrem Thron zu stoßen und allen Wunderkindern und Menschen Freiheit zu gewährleisten.

Die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit sorgen dafür, dass sie Nacht für Nacht nicht schläft und zusammen mit ihrer Fähigkeit, ein Gegenüber bei Berührung in sofortigen Tiefschlaf zu versetzen, verschafft ihr dies den Schurkennamen "Nachtmahr". Hinter einer Maske versteckt versucht sie gleich in der ersten Szene einen Anschlag auf den Rat der Renegades bei einer Parade zu verüben und trifft dabei auf einen neuen Antagonisten: den Wärter. Als der Anschlag fehlschlägt, die Anarchisten immer mehr unter Druck geraten und die alljährliche Qualifikation zur Aufnahme neuer Renegades ansteht fasst sie einen Entschluss, der ihr Leben verändert: sie legt die anonyme Maske Nachtmahrs ab und bewirbt sich als Insomnia bei den Renegades, wohlwissend, dass sie nicht wieder zu ihrem alten Leben zurückkehren kann. Doch erst als sie in eines der Teams aufgenommen wird, die Strukturen der Renegades immer besser kennenlernt, auf versteckte Geheimnisse stößt und sich in einen Renegade verliebt, versteht sie, wie tiefgreifend sich ihr Leben verändern wird. Denn immer mehr gerät ihr Weltbild, ihre Loyalität und ihre Überzeugungen ins Wanken und sie stellt sich die Frage, wer nun wirklich Helden und wer Schurken sind...

"Wenn er die Augen schloss, konnte er sie vor sich sehen, konnte das Funkeln ihrer Augen in der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erahnen. Ausdruckslos. Gewissenlos. Frei von Angst. (…) "Nachtmahr", flüsterte er, fast so, als würde er ihren Namen das erste Mal aussprechen.
"Wer bist du?"


Dieses Buch gleicht zwar thematisch einer typischen Dystopie ist aber gerade andersrum aufgezogen wie eine solche. Während wir normalerweise mit einer naiven, systembejahenden Protagonistin beginnen, die beginnt, Schattenseiten zu sehen, haben wir es hier von Anfang an mit einer Anarchistin zu tun, die im präsentierten Weltbild zu den "Bösen" gehört. Dadurch dass gleich in der ersten Szene versucht wird, einen Anschlag auf die Renegades zu verüben, unter dem auch die Zivilbevölkerung leidet, ist es sehr schwer, sich von Beginn an in Novas Perspektive einzufinden und eine Verbindung aufzubauen. Als dann als zweite Perspektive Adrian Everhart alias Sketch dazukommt, der als Adoptivsohn von Captain Chrom und dem Schrecklichen Baron durch und durch Renegade ist, scheint seine Weltansicht erstmal die bequemere und ich habe begonnen die Anarchisten als Schurken abzustempeln.

Doch als sich mit zunehmendem Fortschritt der Handlung immer mehr Schwächen im System der Renegades auftun und man stattdessen auch immer mehr Novas Beweggründe nachvollziehen kann, ist es nicht mehr ganz so leicht über die Charaktere zu urteilen. Mit jedem neuen Perspektivenwechsel werden wir fortan zwischen den beiden Polen hin und her geworfen und müssen bald feststellen, dass die Superhelden nicht so glanzvoll, heldenhaft und perfekt sind, wie sie behaupten, während aber auch die Anarchisten nicht so böse, gefährlich und gewalttätig sind, wie allgemein angenommen. Das fand ich sehr spannend. Ich habe selten einen Roman gelesen, der so mit den Perspektiven und Blickwinkeln spielt und den Leser ständig zwischen zwei Weltansichten pendeln lässt, die beide ihre Stärken und Schwächen haben.


"Wenn er zeichnete, gab es für sie nichts Spannenderes, als den schnellen, präzisen Bewegungen seiner Hand zu folgen. Wenn er lächelte, hielt sie unwillkürlich den Atem an, um zu sehen, ob es diese verborgenen Grübchen zum Vorschein bringen würde. Und wenn er sie ansah, musste sie seinen Blick einfach erwidern. Und wollte - vollkommen gegen jede Logik - gleichzeitig am liebsten ihr Gesicht verstecken. Das alles zusammengenommen sorgte dafür, dass seine Gegenwart für sie jedes Mal zu einer Nervenprobe wurde. Anziehungskraft, schlicht und einfach. Hormone. Das war Biologie. Und gehörte definitiv nicht zu ihrem Plan!"


Dadurch dass die beiden Protagonisten beginnen, eine sanfte Beziehung aufzubauen, ihre Ideen auszutauschen und zusätzlich noch Alter Egos haben, die nicht auffliegen dürfen, was das Ganze deutlich verkompliziert, kommt schön viel Dynamik in die Geschichte. Doch bis das angelaufen ist dauert es einige Seiten. Dadurch dass man als Leser zu Beginn sehr ratlos ist, wie man sich positionieren soll und was man von der präsentierten Welt halten soll, hat es relativ lange gedauert, bis die Geschichte mich gepackt hat. Erschwerend ist hinzugekommen, dass wir mit den Renegades und den Schurken eine Vielzahl an verschiedenen Protagonisten vorgestellt bekommen, deren Fähigkeiten, Namen und Position wir uns alle merken müssen. Um dabei nicht den Überblick zu verlieren hat mir sehr die Übersicht am Anfang des Buches geholfen. Als die Geschichte dann mal Fahrt aufgenommen hat, ist sie nicht mehr zu stoppen. Es ergibt sich eine spannende, innovative Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung. Die Liebesgeschichte nimmt dabei nicht zu viel Raum ein und ist eher ein leise anklingender Nebeneffekt.


"Heldentum hatte nichts mit dem zu tun, was man konnte. Es definierte sich über das, was man wirklich tat. Darüber, wen man rettete, wenn er gerettet werden musste. (…) Entschlossen nahm sie die Schultern zurück und betrat das Feld"


Der Schreibstil ist dabei sowohl flüssig und temporeich als auch ausführlich in der Beschreibung von Setting und Geschehen. Inspiriert ist die Geschichte natürlich von typischen Superheldengeschichten wie X-Men, Avengers, Batman, Superman oder anderem, was Marvel so zu bieten hat (Gatlon City ist definitiv eine Anspielung auf Gotham). Demnach ist die atmosphärische Stimmung dieser Stadt und der Helden/Schurken-Geschichte mit viel Düsternis und rasanten Kampfszenen deutlich daran angelehnt. Umso spannender ist es, dass die Autorin zwischendurch den Charakteren auch mal Ruhe lässt, um Geschehenes zu reflektieren oder sich aufeinander einzulassen und unsere Bilder von Protagonist und Antagonist, also von Gut und Böse immer wieder auf den Prüfstand stellt und uns dazu zwingt, die Sicht auf die Handlung neu zu überdenken. Diese dargestellten Konflikte und die Ambivalenz hat mir sehr gut gefallen!


"Die Dämmerung schlug schnell in dunkle Nacht um. Obwohl dicke Wolken am Himmel hingen, zeichnete sich im Westen ein bläulich-grauer Schimmer ab. Irgendwo hinter dem Dunst ging die Sonne unter. (…) Nova schloss die Augen. Wenn sie wirklich und wahrhaftig eine Schurkin wäre, müsste sie jetzt bei den ihren sein - um zu feiern oder zu trauern. Und wenn sie eine Superheldin wäre, würde sie jenen Renegades zu Hilfe eilen, die eingeschlossen und verletzt unter dem Schutt begraben waren. Stattdessen lauschte sie auf die Geräuschkulisse einer gequälten Stadt und tat gar nichts."


Marissa Meyer entführt uns hier in eine Großstadt, die durch Gewalt und Verbrechen stark gebeutelt ist und deren Wiederaufbau und Erholung noch immer unter dem Kampf zwischen den Renegades und den Anarchisten leidet. Reichtum und Glanz reiht sich neben Chaos und Armut; Hass und Bewunderung sind die zentralen antithetischen Emotionen, die die Bevölkerung gegenüber den Renegades aufbringen. Immer wieder erhalten wir kurze Eindrücke und Anspielungen auf die Grundbedingungen der Stadt und des Landes, erfahren etwas über das Zeitalter der Anarchie, über den Handel, die Technologie oder den Alltag der Menschen. Ein umfassendes Bild der Situation, gerade aus Sicht der Menschen, ergibt sich jedoch nicht. Dazu sind wohl auch über 600 Seiten nicht genug, um das in einem Einführungsband einer Reihe schon auf den Punkt zu bringen.

Zu den Charakteren will ich gar nicht viel sagen, um euch nicht den besonderen Reiz wegzunehmen, den die Einordnung der Charaktere auf ständig neuer Informationsbasis auf mich ausgeübt hat. Nur soviel: Marissa Meyer hat die 640 Seiten genutzt, um interessante, sich entwickelnde Protagonisten liebevoll und detailreich auszuarbeiten und dabei klarzumachen, dass auch die Superhelden ihre Schwächen haben und Sein und Schein oft nahe beieinander liegt. Von Nova können wir uns eine Scheibe von ihrem ausgeprägten Kampfgeist, ihrem Ehrgeiz, ihrer Stärke und ihrer Entschlossenheit abschneiden, während Adrian uns beibringt, dass jeder ein Held sein kann und wir das sind, was wir tun.


"Jeder hat die Möglichkeit, ein Held zu sein, wenn er es ernst meint. Das ist leicht gesagt: Ich will ein Held sein. Aber in Wahrheit sind die meisten Menschen dafür viel zu faul und selbstzufrieden. Die Renegades übernehmen die ganze Reiterei, wozu sich also die Mühe machen?"


Die Frage wer denn nur wirklich die Schurken und wer die Helden sind wird natürlich nicht beantwortet, doch ich denke dass sich am Ende herauskristallisiert das es nie wirklich "gute" oder "schlechte" Menschen gibt, sondern wenn dann nur "gute" und "schlechte" Handlungen und auch das nur bedingt. Ob man nun mit guten Absichten schlimme Dinge tut oder mit schlechten Absichten gute Dinge - letztendlich tut jeder das, was er oder sie für richtig hält und diese Handlung kann dann nicht per se bewertet werden, sondern muss in ihrem Kontext und aus ihren Motiven, Begründungen und Folgen heraus betrachtet werden. Ein Held ist also nicht der, der im Sinne der Mehrheit etwas tut, was im System für "gut" angesehen wird, sondern der mit Leidenschaft und Überzeugung das verteidigt, an was ihm etwas liegt.

Nach einem rasanten Showdown bekommen wir dann ein Ende mit einer krassen Enthüllung zwar keinen richtigen Cliffhanger vorgesetzt, aber trotzdem einen Wow-nicht-im-Ernst-Moment, der die Wartezeit bis zum Erscheinen der Übersetzung zur Fortsetzung "Archenemies", welcher bald erstmals auf Englisch erscheint, versüßt. Ich werde auf jeden Fall an dieser Geschichte dranbleiben und sehen, was uns die Zukunft in Gatlon City bringt.


“Tapfer kann nur sein, wer die Angst kennt.”


Fazit:


Eine intelligente, innovative Dystopie, die mit den Perspektiven und Blickwinkeln der Charaktere spielt und den Leser ständig zwischen zwei Weltansichten pendeln lässt. Die spannende Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung schafft einen Auftakt, den ich so schnell nicht wieder vergessen werde.

Veröffentlicht am 18.10.2018

Eine intelligente, innovative Dystopie: “Tapfer kann nur sein, wer die Angst kennt.”

Renegades - Gefährlicher Freund
0

Von Marissa Meyer habe ich bislang nur Band 1 ihrer Luna-Chroniken gelesen, wusste aber sofort, als ich das Cover gesehen habe, dass ich dieses Buch lesen muss. Nach einem Blick auf das Thema - Superhelden ...

Von Marissa Meyer habe ich bislang nur Band 1 ihrer Luna-Chroniken gelesen, wusste aber sofort, als ich das Cover gesehen habe, dass ich dieses Buch lesen muss. Nach einem Blick auf das Thema - Superhelden und Superschurken - war dann alles klar. An dieser Stelle ein kurzes Dankeschön an das Bloggerportal und den Heyne Verlag für das Rezensionsexemplar!

Das Cover zieht sofort durch die düstere Ausstrahlung und das spannenden Motiv in den Bann. Umgeben von einigen Häusern der Stadt thront der Turm der Renegades, an den sich zwei kontrapunktische Gestalten lehnen: eine Frau mit Kapuze - Nachtmahr - und ein Mann in Uniform - der Wächter. Umrahmt wird das Ganze von kontrastreichen Strahlen, was dem Szenario zusammen mit der rot-blauen-Farbgebung etwas Surreales verleiht. Die zwei Gestalten scheinen durch den Turm der Renegades miteinander verbunden zu sein, schauen aber in verschiedene Richtungen, was den Inhalt auf einer Metaebene eigentlich ganz gut zusammenfasst. Die Gestaltung inklusive der spannenden Gestaltung der roten Leselaschen bekommt von mir also einen deutlichen Daumen nach oben.

Erster Satz: "Am Anfang waren wir alle Schurken"
Die Autorin beginnt ihre Geschichte mit einer kurzen Einführung in die Vergangenheit Gatlons. Kurz aber verheißungsvoll bekommen wir erklärt, wie die Verfolgung der Wunderkinder durch Ace Anarchos Zeitalter der Anarchie abgelöst wird, bevor sich blutig ein neues System etablierte: die Herrschaft der Renegades. Eine Eliteeinheit an ausgebildeten Wunderkindern, deren Aufgabe es ist, die Schurken zu bekämpfen, die Ordnung und Sicherheit des Stadtlebens aufrecht zu erhalten und allen Bürgern ein Vorbild zu sein - sagen zumindest sie. Nova Artino sieht das ganz anders. Im auf die Einführung folgenden Prolog bekommen wir eindrucksvoll geschildert, warum sie allen Grund hat, den Renegades nicht zu vertrauen - mehr noch, sie zu hassen: Als ihre Familie von Gangmitgliedern ermordet wird, sind die so angepriesenen Helden nicht da und können den garantierten Schutz nicht erfüllen. Seitdem ist sie Teil der Anarchisten, die verborgen in einem verlassenen U-Bahntunnel auf ihre Chance warten, die Renegades von ihrem Thron zu stoßen und allen Wunderkindern und Menschen Freiheit zu gewährleisten.
Die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit sorgen dafür, dass sie Nacht für Nacht nicht schläft und zusammen mit ihrer Fähigkeit, ein Gegenüber bei Berührung in sofortigen Tiefschlaf zu versetzen, verschafft ihr dies den Schurkennamen "Nachtmahr". Hinter einer Maske versteckt versucht sie gleich in der ersten Szene einen Anschlag auf den Rat der Renegades bei einer Parade zu verüben und trifft dabei auf einen neuen Antagonisten: den Wärter. Als der Anschlag fehlschlägt, die Anarchisten immer mehr unter Druck geraten und die alljährliche Qualifikation zur Aufnahme neuer Renegades ansteht fasst sie einen Entschluss, der ihr Leben verändert: sie legt die anonyme Maske Nachtmahrs ab und bewirbt sich als Insomnia bei den Renegades, wohlwissend, dass sie nicht wieder zu ihrem alten Leben zurückkehren kann. Doch erst als sie in eines der Teams aufgenommen wird, die Strukturen der Renegades immer besser kennenlernt, auf versteckte Geheimnisse stößt und sich in einen Renegade verliebt, versteht sie, wie tiefgreifend sich ihr Leben verändern wird. Denn immer mehr gerät ihr Weltbild, ihre Loyalität und ihre Überzeugungen ins Wanken und sie stellt sich die Frage, wer nun wirklich Helden und wer Schurken sind...

"Wenn er die Augen schloss, konnte er sie vor sich sehen, konnte das Funkeln ihrer Augen in der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erahnen. Ausdruckslos. Gewissenlos. Frei von Angst. (…) "Nachtmahr", flüsterte er, fast so, als würde er ihren Namen das erste Mal aussprechen.
"Wer bist du?"


Dieses Buch gleicht zwar thematisch einer typischen Dystopie ist aber gerade andersrum aufgezogen wie eine solche. Während wir normalerweise mit einer naiven, systembejahenden Protagonistin beginnen, die beginnt, Schattenseiten zu sehen, haben wir es hier von Anfang an mit einer Anarchistin zu tun, die im präsentierten Weltbild zu den "Bösen" gehört. Dadurch dass gleich in der ersten Szene versucht wird, einen Anschlag auf die Renegades zu verüben, unter dem auch die Zivilbevölkerung leidet, ist es sehr schwer, sich von Beginn an in Novas Perspektive einzufinden und eine Verbindung aufzubauen. Als dann als zweite Perspektive Adrian Everhart alias Sketch dazukommt, der als Adoptivsohn von Captain Chrom und dem Schrecklichen Baron durch und durch Renegade ist, scheint seine Weltansicht erstmal die bequemere und ich habe begonnen die Anarchisten als Schurken abzustempeln.

Doch als sich mit zunehmendem Fortschritt der Handlung immer mehr Schwächen im System der Renegades auftun und man stattdessen auch immer mehr Novas Beweggründe nachvollziehen kann, ist es nicht mehr ganz so leicht über die Charaktere zu urteilen. Mit jedem neuen Perspektivenwechsel werden wir fortan zwischen den beiden Polen hin und her geworfen und müssen bald feststellen, dass die Superhelden nicht so glanzvoll, heldenhaft und perfekt sind, wie sie behaupten, während aber auch die Anarchisten nicht so böse, gefährlich und gewalttätig sind, wie allgemein angenommen. Das fand ich sehr spannend. Ich habe selten einen Roman gelesen, der so mit den Perspektiven und Blickwinkeln spielt und den Leser ständig zwischen zwei Weltansichten pendeln lässt, die beide ihre Stärken und Schwächen haben.


"Wenn er zeichnete, gab es für sie nichts Spannenderes, als den schnellen, präzisen Bewegungen seiner Hand zu folgen. Wenn er lächelte, hielt sie unwillkürlich den Atem an, um zu sehen, ob es diese verborgenen Grübchen zum Vorschein bringen würde. Und wenn er sie ansah, musste sie seinen Blick einfach erwidern. Und wollte - vollkommen gegen jede Logik - gleichzeitig am liebsten ihr Gesicht verstecken. Das alles zusammengenommen sorgte dafür, dass seine Gegenwart für sie jedes Mal zu einer Nervenprobe wurde. Anziehungskraft, schlicht und einfach. Hormone. Das war Biologie. Und gehörte definitiv nicht zu ihrem Plan!"


Dadurch dass die beiden Protagonisten beginnen, eine sanfte Beziehung aufzubauen, ihre Ideen auszutauschen und zusätzlich noch Alter Egos haben, die nicht auffliegen dürfen, was das Ganze deutlich verkompliziert, kommt schön viel Dynamik in die Geschichte. Doch bis das angelaufen ist dauert es einige Seiten. Dadurch dass man als Leser zu Beginn sehr ratlos ist, wie man sich positionieren soll und was man von der präsentierten Welt halten soll, hat es relativ lange gedauert, bis die Geschichte mich gepackt hat. Erschwerend ist hinzugekommen, dass wir mit den Renegades und den Schurken eine Vielzahl an verschiedenen Protagonisten vorgestellt bekommen, deren Fähigkeiten, Namen und Position wir uns alle merken müssen. Um dabei nicht den Überblick zu verlieren hat mir sehr die Übersicht am Anfang des Buches geholfen. Als die Geschichte dann mal Fahrt aufgenommen hat, ist sie nicht mehr zu stoppen. Es ergibt sich eine spannende, innovative Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung. Die Liebesgeschichte nimmt dabei nicht zu viel Raum ein und ist eher ein leise anklingender Nebeneffekt.


"Heldentum hatte nichts mit dem zu tun, was man konnte. Es definierte sich über das, was man wirklich tat. Darüber, wen man rettete, wenn er gerettet werden musste. (…) Entschlossen nahm sie die Schultern zurück und betrat das Feld"


Der Schreibstil ist dabei sowohl flüssig und temporeich als auch ausführlich in der Beschreibung von Setting und Geschehen. Inspiriert ist die Geschichte natürlich von typischen Superheldengeschichten wie X-Men, Avengers, Batman, Superman oder anderem, was Marvel so zu bieten hat (Gatlon City ist definitiv eine Anspielung auf Gotham). Demnach ist die atmosphärische Stimmung dieser Stadt und der Helden/Schurken-Geschichte mit viel Düsternis und rasanten Kampfszenen deutlich daran angelehnt. Umso spannender ist es, dass die Autorin zwischendurch den Charakteren auch mal Ruhe lässt, um Geschehenes zu reflektieren oder sich aufeinander einzulassen und unsere Bilder von Protagonist und Antagonist, also von Gut und Böse immer wieder auf den Prüfstand stellt und uns dazu zwingt, die Sicht auf die Handlung neu zu überdenken. Diese dargestellten Konflikte und die Ambivalenz hat mir sehr gut gefallen!


"Die Dämmerung schlug schnell in dunkle Nacht um. Obwohl dicke Wolken am Himmel hingen, zeichnete sich im Westen ein bläulich-grauer Schimmer ab. Irgendwo hinter dem Dunst ging die Sonne unter. (…) Nova schloss die Augen. Wenn sie wirklich und wahrhaftig eine Schurkin wäre, müsste sie jetzt bei den ihren sein - um zu feiern oder zu trauern. Und wenn sie eine Superheldin wäre, würde sie jenen Renegades zu Hilfe eilen, die eingeschlossen und verletzt unter dem Schutt begraben waren. Stattdessen lauschte sie auf die Geräuschkulisse einer gequälten Stadt und tat gar nichts."


Marissa Meyer entführt uns hier in eine Großstadt, die durch Gewalt und Verbrechen stark gebeutelt ist und deren Wiederaufbau und Erholung noch immer unter dem Kampf zwischen den Renegades und den Anarchisten leidet. Reichtum und Glanz reiht sich neben Chaos und Armut; Hass und Bewunderung sind die zentralen antithetischen Emotionen, die die Bevölkerung gegenüber den Renegades aufbringen. Immer wieder erhalten wir kurze Eindrücke und Anspielungen auf die Grundbedingungen der Stadt und des Landes, erfahren etwas über das Zeitalter der Anarchie, über den Handel, die Technologie oder den Alltag der Menschen. Ein umfassendes Bild der Situation, gerade aus Sicht der Menschen, ergibt sich jedoch nicht. Dazu sind wohl auch über 600 Seiten nicht genug, um das in einem Einführungsband einer Reihe schon auf den Punkt zu bringen.

Zu den Charakteren will ich gar nicht viel sagen, um euch nicht den besonderen Reiz wegzunehmen, den die Einordnung der Charaktere auf ständig neuer Informationsbasis auf mich ausgeübt hat. Nur soviel: Marissa Meyer hat die 640 Seiten genutzt, um interessante, sich entwickelnde Protagonisten liebevoll und detailreich auszuarbeiten und dabei klarzumachen, dass auch die Superhelden ihre Schwächen haben und Sein und Schein oft nahe beieinander liegt. Von Nova können wir uns eine Scheibe von ihrem ausgeprägten Kampfgeist, ihrem Ehrgeiz, ihrer Stärke und ihrer Entschlossenheit abschneiden, während Adrian uns beibringt, dass jeder ein Held sein kann und wir das sind, was wir tun.


"Jeder hat die Möglichkeit, ein Held zu sein, wenn er es ernst meint. Das ist leicht gesagt: Ich will ein Held sein. Aber in Wahrheit sind die meisten Menschen dafür viel zu faul und selbstzufrieden. Die Renegades übernehmen die ganze Reiterei, wozu sich also die Mühe machen?"


Die Frage wer denn nur wirklich die Schurken und wer die Helden sind wird natürlich nicht beantwortet, doch ich denke dass sich am Ende herauskristallisiert das es nie wirklich "gute" oder "schlechte" Menschen gibt, sondern wenn dann nur "gute" und "schlechte" Handlungen und auch das nur bedingt. Ob man nun mit guten Absichten schlimme Dinge tut oder mit schlechten Absichten gute Dinge - letztendlich tut jeder das, was er oder sie für richtig hält und diese Handlung kann dann nicht per se bewertet werden, sondern muss in ihrem Kontext und aus ihren Motiven, Begründungen und Folgen heraus betrachtet werden. Ein Held ist also nicht der, der im Sinne der Mehrheit etwas tut, was im System für "gut" angesehen wird, sondern der mit Leidenschaft und Überzeugung das verteidigt, an was ihm etwas liegt.

Nach einem rasanten Showdown bekommen wir dann ein Ende mit einer krassen Enthüllung zwar keinen richtigen Cliffhanger vorgesetzt, aber trotzdem einen Wow-nicht-im-Ernst-Moment, der die Wartezeit bis zum Erscheinen der Übersetzung zur Fortsetzung "Archenemies", welcher bald erstmals auf Englisch erscheint, versüßt. Ich werde auf jeden Fall an dieser Geschichte dranbleiben und sehen, was uns die Zukunft in Gatlon City bringt.


“Tapfer kann nur sein, wer die Angst kennt.”


Fazit:


Eine intelligente, innovative Dystopie, die mit den Perspektiven und Blickwinkeln der Charaktere spielt und den Leser ständig zwischen zwei Weltansichten pendeln lässt. Die spannende Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung schafft einen Auftakt, den ich so schnell nicht wieder vergessen werde.