3,5 Sterne: Gelungener, innovativ erzählter Roman - warum ich trotzdem ein bisschen enttäuscht bin
Verdammt perfekt und furchtbar glücklich Die Rezension enthält leichte Spoiler!
Inhalt
Ottila McGregor hat immer noch an der Trauer um ihren Vater zu knabbern, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer psychisch kranken Schwester ...
Die Rezension enthält leichte Spoiler!
Inhalt
Ottila McGregor hat immer noch an der Trauer um ihren Vater zu knabbern, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer psychisch kranken Schwester gegenüber in der Jugend nicht immer sehr freundlich verhalten hat, hält sie nachts wach. Zudem hat Ottila ein Alkoholproblem, ist in eine ungesunde Affäre mit ihrem Chef verwickelt und hat das Gefühl, dass ihr Leben außer Kontrolle gerät. Doch damit soll von nun an Schluss sein. Ottila sucht sich eine Therapeutin, die sie bei ihrem nicht ganz einfachen Vorhaben unterstützt, endlich eines zu werden: verdammt perfekt und furchtbar glücklich…
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blumenbar
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Ottila McGregor)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: + / - Tiere werden ohne Reflexion verspeist, manchmal schien es mir sogar so, als würde bei all dem lockeren Geplänkel über Tieropfer vergessen, dass es sich hierbei um fühlende Lebewesen handelt. Das hat mir nicht gerade gefallen. Zudem wird ein Opferritual zusammengefasst, bei dem zwei Ziegenböcke und ein Hund getötet werden. Einmal wird sogar gesagt, dass der einzige Grund, dass Ottila und Thales keine Opferung durchführen, nur sei, dass es illegal ist. Zudem werden die Lammschlachtungen zu Ostern als lustig dargestellt und Murmeln angepriesen, die Stinkkäfer enthalten. Weil auch in der Kindheit der Protagonistin wieder eine Katze alleine gehalten wurde, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.
Warum dieses Buch?
Wer mich kennt, weiß, dass mich Anneliese Mackintoshs intensiver Erzählband „So bin ich nicht“ vor wenigen Jahren regelrecht umgehauen hat. Ich war wahnsinnig begeistert und schwor mir damals, das nächste Werk der Autorin zu lesen, egal, worum es gehen würde. Diesen Plan habe ich natürlich (wie man an dieser Rezension sehen kann) in die Tat umgesetzt.
Meine Meinung
Einstieg (+)
Den Einstieg fand ich auch dieses Mal sehr stark, da ich mich sofort an „So bin ich nicht“ erinnert fühlte, als ich die betrunkenen, gnadenlos ehrlichen SMS las, die von der Protagonistin an Silvester verschickt wurden. Meine Erwartungen stiegen weiter, als ich den interessanten Aufbau des Buches bemerkte: Die Autorin kreiert eine zusammenhängende Erzählung (und zeichnet ein Gesamtbild von Ottilas chaotischem Leben), die aus vielen kleinen Schnipseln besteht. Das ungewöhnliche, innovative und abwechslungsreiche Leseerlebnis setzt sich zum Beispiel aus SMS, Therapeutengesprächen, Zitaten, Flyern, Listen, Briefen, Tagebucheinträgen, Gästebucheinträgen, Totenscheinen, einem selbstgemachten Scrapbook, Blog-Einträgen und einem Übungsbuch für AlkholikerInnen auf Entzug zusammen – ein sehr interessanter Aufbau, der niemals langweilig oder vorhersehbar wird.
„Morgens probiere ich immer irgendwas zu machen, das mir guttut. Eine Banane essen, meditieren, Fotos von Leberzirrhose googeln. Manchmal schreie ich auch in mein Kissen.“ E-Book, Position 215
Schreibstil (+/-)
Der Schreibstil ist durch die vielen verschiedenen Beiträge verschiedener Menschen nicht einheitlich, die Sprache wird stets auf die verschiedenen Charaktere und ihre spezifischen Sprechweisen angepasst (zum Beispiel werden Orthographie und Stil verändert), was den Eindruck von Authentizität erzeugt. An den Kapiteln, die aus Ottilas Sicht geschrieben sind, gibt es eigentlich nicht viel auszusetzen. Die Sprache ist einfach, dabei jedoch niemals lieblos, flüssig, angenehm lesbar. Auch gibt es wieder manche Formulierungen, die mich entweder schlucken, nachdenklich werden oder schmunzeln haben lassen. Jedoch fehlte mir dieses Mal diese unverwechselbare Intensität, die mich am Vorgängerwerk so begeistern und emotional mitnehmen konnte. Meiner Meinung nach liegen der Autorin kürzere, verdichtete Werke mehr, weil sie da jedes Wort viel bewusster zu setzen scheint. Wow-Momente waren jedenfalls dieses Mal sehr selten.
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)
Auch dieses Mal zeigt Anneliese Mackinstosh keine Scheu vor schwierigen, ernsten und traurigen Themen und geht wieder in die Tiefe, wenn es um Alkoholismus, Krebs, Sterben, Trauer, psychische Krankheiten, selbstverletzendes Verhalten, Suizid, toxische Beziehungen und Gewalt gegen Frauen geht. Erneut konnte mich die Autorin mit ihrem ehrlichen und gleichzeitig sensiblen Umgang mit diesen Aspekten überzeugen, auch wenn sie mich nicht so emotional mitnehmen und treffen konnte wie mit ihrem Erstling. Das liegt möglicherweise am insgesamt lockereren Ton und einem Humor, der sich leichter zeigt als im Vergleichswerk. Jedoch könnte das Buch für labile Menschen, die gerade selbst mit einer schwierigen Phase oder Depressionen kämpfen, trotzdem schwer zu verdauen sein – daher nähert euch diesem Werk am besten mit Vorsicht. Das Ende fand ich gelungen, es wird mir aber nicht lange im Gedächtnis bleiben. Für mich war das Debüt der Autorin damals sehr nah an der Perfektion und meine Erwartungen an dieses Buch waren dementsprechend sehr hoch. Ich weiß, dass die Autorin es noch besser kann und dass man hier durchaus noch emotional viel mehr herausholen können hätte. Deshalb bin ich hier wohl strenger als ich es bei einem anderen Buch wäre und – ja, leider – auch ein kleines bisschen enttäuscht.
„Es gab zwar eine vernünftige Form der Trauer, die ich ausleben konnte. […] Aber es gibt noch eine andere Sorte Trauer, eine unbezähmbare, die immer wieder in mir hochkocht. Eine Trauer, die faucht und beißt. Eine Trauer, die sich an der gesamten Menschheit rächen will.“ E-Book, Position 4689
Protagonistin (♥)
Erneut gelingt es der Autorin, eine Protagonistin zu erschaffen, die man schnell ins Herz schließt. Ottila ist liebevoll ausgearbeitet, eine komplexe, komplizierte Person mit vielen authentischen Schwächen und Stärken und einer schwierigen Vergangenheit. Sie macht im Laufe der Geschichte eine glaubwürdige Entwicklung durch. Ihre Ehrlichkeit ist entwaffnend und schonungslos, ihr Humor oft düster, ihre Versuche, sich zu verändern, und ihr wiederholtes Scheitern dabei ließen mich mitfühlen und mitleiden. Ottila kennt keine Tabus, breitet ihre Fehler und kleinen, charmanten Verrücktheiten vor den LeserInnen aus, ohne sie jemals zu beschönigen oder sich zu rechtfertigen. Vielmehr präsentiert sie sich einfach, wie sie ist, und überlässt es dann uns, zu urteilen. Eine Situation, die sich sehr ungewöhnlich anfühlt! Ottila hat mich mit ihrer impulsiven, leicht verrückten, unbedarften Art ein wenig an Lucy in „Fische“ von Melissa Broder erinnert. Solche ungewöhnlichen Protagonistinnen finde ich einfach wunderbar!
„Meine Zunge wurde ein bisschen taub, und ich wusste, dass ich schon ziemlich betrunken war, weil ich die Augen weiter aufriss als üblich. Das war immer ein sicheres Zeichen. Keine Ahnung, warum ich das machte. Vielleicht ein Flirtversuch mit dem Leben.“ E-Book, Position 1296
(Neben)Figuren & Liebesgeschichte (♥)
Was die Nebenfiguren betrifft, gibt es hier nur Lob auszusprechen. Besonders beeindruckt hat mich die glaubwürdige Zeichnung der psychisch kranken Schwester Mina, die so viele Facetten von ihr einfängt, ihre schwierigen Verhaltensweisen beschreibt und sie dabei niemals unsympathisch oder gar monströs oder klischeehaft erscheinen lässt. Mir gefällt auch, wie hier oft mit Vorurteilen gebrochen wird (auch wenn die psychiatrische Anstalt teilweise auf mich doch sehr altmodisch, stereotypisch und nicht mehr zeitgemäß wirkte). Auch die Mutter, die immer wieder unerwartete Familiengeheimnisse enthüllt, langsam dem Alkohol verfällt und mit ihrem Leben und ihrer Trauer kämpft, empfand ich als sehr dreidimensional.
Die Liebesgeschichte strotzt vielleicht nicht unbedingt vor Chemie und kribbelnden Momenten, aber ich finde sie authentisch und gelungen: Endlich mal keine Insta-Love, sondern die Zuneigung entwickelt sich langsam, ist nicht perfekt, sondern einfach echt und gesund und dabei sehr schön zu lesen.
„Aber die Pfleger lassen sich nicht täuschen, genauso wenig wie ich: Minas Blick ist zwar ruhig, aber ihr Kopf ist hellwach, tüftelt immer neue Möglichkeiten aus, sich umzubringen, und fragt sich, ob sie je den Mut haben wird, es durchzuziehen.“ E-Book, Position 1698
Spannung & Atmosphäre (+/-)
Auch wenn dieses Buch eine lockerere, positivere, weniger deprimierende Grundstimmung aufweist, so gibt es dennoch auch melancholische Momente, die es zu einer nicht immer leicht verdaulichen Lektüre machen. Obwohl ich neugierig war, wie es mit Ottila weitergeht, und trotz des interessanten Aufbaus hatte das Buch meiner Meinung nach ein paar Längen, genügend Spannung war für mich trotz mancher unerwarteten Wendung nicht immer vorhanden, manche Beschreibungen und Vorkommnisse fand ich im Vergleich zum Vorgängerband auch einfach ein bisschen banal und nicht so mitreißend.
Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)
Das Buch enthält sehr viele starke, interessante Frauenfiguren, was mir sehr gut gefallen hat. Die bisexuelle Protagonistin selbst kümmert sich nicht um gesellschaftliche Erwartungen, ist gebildet und eine Feministin, die in der Ehe eine frauenfeindliche, veraltete Institution sieht, die für Frauen nur Nachteile hat. Ihr Partner Thales ist ein moderner, sensibler Mann, der eine gleichberechtigte Beziehung mit Ottila lebt, ebenfalls feministisch eingestellt ist und zum Beispiel auch sehr gerne kocht. Das Buch verstärkt keine schädlichen Gender-Stereotypen, sondern bricht mit ihnen, wenn zum Beispiel die Mutter mit der Tochter einen Angelausflug macht oder mit Mitte 50 ihre Liebe für Paintball entdeckt. Die zwei Stellen, an denen frauenfeindliche Ausdrücke verwendet werden (1x Miststück, 1x Schla+++), kann ich verzeihen, obwohl sie natürlich trotzdem angesprochen werden sollen. So ist dieses Buch, was diesen Aspekt betrifft, sicher nicht perfekt, aber durchaus nah dran.
„Erstens wäre ich als Rapunzel völlig fehlbesetzt, allein schon, weil mein Haar so kurz und splissig ist. Und selbst wenn ich üppige, kräftige blonde Locken hätte, würde ich sie abschneiden und mich selbst aus dem Fenster abseilen, vielen Dank. Ich brauche keinen Man, der mich rettet.“ E-Book, Position 1057
Mein Fazit
Mit ihrem ersten Roman hat Anneliese Mackintosh eine gelungene Geschichte vorgelegt, die sich nicht nur durch die außergewöhnliche, innovative Erzählweise (ganz viele Schnipsel setzen sich zu einer zusammenhängenden Geschichte zusammen) auszeichnet, sondern sich auch durch die humorvolle und gleichzeitig tiefgehende und sensible Behandlung ernster und trauriger Themen wie Trauer, Alkoholismus und psychische Krankheiten von der Masse abhebt. Der Schreibstil zeigt sich einfach und angenehm (dabei niemals lieblos) und hat mich einige Male schmunzeln, nachdenklich werden oder schlucken lassen. Die Protagonistin ist so schonungslos ehrlich, kompliziert und liebevoll ausgearbeitet, dass ich sie sofort ins Herz schließen musste und auch die Nebenfiguren und die Liebesgeschichte wirken sehr „echt“. Trotz dieser positiven Punkte bin ich ein bisschen enttäuscht vom Buch, weil ich weiß, die Autorin kann es noch viel besser. Manche Schilderungen empfand ich als etwas banal, es gab ein paar Längen und obwohl „Verdammt perfekt und furchtbar glücklich“ durchaus einige sehr gelungene Momente aufweist, so fehlt ihm die unverwechselbare Intensität des Vorgängerwerkes („So bin ich nicht“). Ich habe mir so viel von diesem Buch erhofft, wollte erneut emotional mitgerissen werden, Worte lesen, die sich anfühlen wie ein Schlag in die Magengrube, so in das Buch verwickelt werden, dass ich mich fast darin verliere. Doch auch wenn die Geschichte gut ist, so steht sie wie die kleine, weniger talentierte Schwester im Schatten des tatsächlich „verdammt perfekten“ Debüts, "So bin ich nicht".
Leseempfehlung: Fans des Debüts sollten sich diesen Roman natürlich trotzdem nicht entgehen lassen, alle anderen sollten dem Buch einfach eine Chance geben. Wer „So bin ich nicht“ übrigens noch nicht kennt – es sei euch hiermit wärmstens und überschwänglich ans Herz gelegt.
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3,5 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2-3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Liebesgeschichte: 4 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!
Insgesamt:
❀❀❀,5 Lilien
Dieses Buch bekommt von mir 3,5 nicht ganz zufriedene Lilien!