Der Handlungsrahmen ist einfach erzählt: Ellen und Sylvio sind verheiratet, Sylvi ist die quasi erwachsene gemeinsame Tochter. Für einen Seitensprung von Sylvio revanchierte sich Ellen, ihr (Ex-)Liebhaber lebt jetzt mit dessen (Ex-)Geliebter zusammen.
Das Buch beschäftigt sich mit der Klärung dieser Handlung, den Motiven, Beweggründen, Motiven, Auswirkungen,…
In „Ohne einander“ schreibt Walser in drei Kapiteln aus der Sicht von drei seiner Hauptpersonen, Ellen, Syli und Sylvio, und stellt dabei die teil-überlappende Handlung aus unterschiedlichen Perspektiven dar, teils setzt er die Handlung zeitlich voranschreitend fort.
Ich hatte das Buch vor langen Jahren erworben und beiseite gelegt, ich war damals schlicht zu jung für dieses Buch – und ohne jegliche „Walser-Erfahrung“.
Mit inzwischen vier von mir gelesenen Werken empfehle ich aus ganz persönlicher Sicht den (Neu-)„Einstieg“ mit „Ein fliehendes Pferd“ – eine (naturgemäß kurze) Novelle; tatsächlich ist Walser nicht ganz einfach zu lesen, wenn man Walser nicht kennt, ihn als nicht „Walser-vorbelasteter“ Leser liest. Andere empfehlen hier „Ehen in Philippsburg“, das jedoch vorerst nur auf meiner Wunschliste steht.
Zum Schneller-Lesen für Walser-Kenner; ich stelle kurz den Vorteil der vorbereitenden Lektüre dar: Walser nutzt gerne typische Stilmittel und hat bestimmte wiederkehrende Themen, beide können sich als etwas anstrengend darstellen, wenn man quasi unvorbereitet darauf stößt (Exemplar und Zitate in alter Rechtschreibung), hier nur einige:
Freude macht mir Walser mit seiner Neigung zu Wortschöpfungen oder Wort-Neu-Zusammenstellungen: Von harmlos S. 12 „Tulpennulpen“, S. 20 „Liberalist, Bestialist“ (analog zu den vorigen Nationalist, Atheist usw.), S. 22 „Nichtnachgeben“, S. 26 „Zweitagebartgesicht“ mit „Zweitagestand“ usw. bis hin zu S. 185 „Restlosverschmolzenheitsphilosophie“.
Bei wenigen Autoren finde ich ähnlich häufig Sätze zum Anstreichen oder Herausschreiben wie bei Walser, er ist einfach genial darin, in einem einzigen Satz (manchmal mit dem gängigen Nach-Satz dazu) eine universelle Aussage zu treffen oder auch mindestens nur eine wunderschöne Universal-Aussage zu einer Handlung oder einer Person im Buch:
S. 32 „Ein Alkoholiker ist eine ungeheure Steigerung dessen, was ein Mann ohnehin schon ist.“
S. 37 „Die vollkommene Niedertracht kommt nur vor, wo eine Frau gegen eine Frau agiert.“
S. 40 „Ach, jeder Mann ist ein Monologist!“
Über Ernest, Ellens Liebhaber:
S. 39 Ellens Aussage: „Wenn er [Ernest] Ellen etwas Schönes sagen wollte, redete er ja auch nur von sich.“
S. 45 „Er [Ernest] ist nie krank, aber dauernd in Behandlung.“
Über die 19jährige Tochter Sylvi:
S. 130 Ernest zu Syvli: „Sie sind nicht zu Hause in Ihrem Körper. Noch nicht.“
oder, aus Sylvis Sicht:
S. 138f. „Sie rannte dem Leben nach. Würde es nie einholen.“
Es gibt wiederkehrende Typen von Satzbau bei Walser. Eine Version ist: Ein „klassischer“ Satzbau mit Subjekt-Prädikat-Objekt, dem folgt ein Satz, dem das Verb fehlt, der auch hätte mittels eines Komma angeschlossen werden können, teils nur ein Wort.
In „Ohne einander“
z.B. S. 12, als Ellens Liebhaber Ernest zu ihr nach Hause kommen möchte: „Nach fast vier Jahren habe er wohl das Recht, ihr Kinder kennenzulernen. Den Mann lieber nicht. Aber der sei doch ohnehin nie da. Aber Sylvi und Alf. Seit Jahren rede Ellen von Sylvi und Alf. Das meiste in diesen Jahren sei unterblieben wegen Sylvi und Alf.“
Dieses Stilmittel wirkt auf den Leser drängend, die Handlung vorantreibend, unruhig, atemlos. Da die Sätze einfach bleiben, lassen sie sich meist einfach lesen – taucht das Stilmittel gehäuft auf, kann es genauso passieren, dass man als Leser einfach daran hängen bleibt wie an einem Stolperstein. Geduld!
Demgegenüber stehen kunstvolle Satzgebilde, mäandrierend, ich füge ein Beispiel ein unter dem nächsten Punkt, Themen Walsers.
Eines der wiederkehrenden Themen ist die Ablehnung des Kulturbetriebs, die Auseinandersetzung mit der medialen Öffentlichkeit (man möge nachlesen zu den Auseinandersetzungen mit Hans Magnus Enzensberger oder gar mit Marcel Reich-Ranicki):
S. 62/63: „Nur der Schwächling braucht Macht. Nur der Schwächling strebt nach Macht. …
Und er vertraue darauf, daß einer Ellen … nach mehr als zwanzig Jahren Kulturbetriebserfahrung der tobende, der auftrumpfende, der alle anderen niedermachende Schwächling nicht ganz fremd sei, denn reiner als im Kulturbetrieb manifestiere es sich nirgends, daß Schwäche, also Machtgier, also ethische Entkräftung den Psychofilz jedes Agierenden liefern. Das Allererstaunlichste: daß eine zuschauende Öffentlichkeit so tut, als glaube sie, diesem Betrieb gehe es um etwas anderes als um sich selbst.“
Die Gründe liefert er nach:
S. 74 „Einfach so böse, wie jeder andauernd gern wäre, aber er kann es sich nicht leisten, ist ja verheiratet, fest angestellt, muß sich rentenwürdig benehmen. Das hält er nur aus, wenn er die täglich in ihm produzierte Wut in den Bosheitsquanten ablassen kann, die ihm DAS [Anm. d. Verfasserin: Das Magazin, für das Ellen schreibt …oder vermutlich jegliches andere Medium] verordnet.“
Das Thema bleibt präsent im Roman, auch als die Perspektive zum Ehemann, zu Sylvio, wechselt:
S. 176 „Hielt er [Sylvio] doch die kritische Grundhaltung der Produzenten öffentlicher Meinung für Heuchelei. Selbstgerechtigkeit und Heuchelei, das war das Fundament der Meinungsproduktion. Je heuchlerischer, um so krasser kritisch beziehungsweise je krasser kritisch, um so heuchlerischer. Das sei ein unauflöslicher Interdependenzknoten zur Verhinderung einer Einsicht ins eigene Tun. Denn: je krasser kritisch, desto besser das eigene Gewissen, desto weniger Anlaß, Neigung, Fähigkeit zur Selbstüberprüfung. Die öffentliche Meinung als die neueste Kirche, der letzte Gott“.
Definitiv ist Walser ein Meister der Worte, ihres Gebrauchs, des Spracheinsatzes – das gestehen ihm gemeinhin auch alle Kritiker zu. Kritik erfolgt hier zumeist bezüglich seiner eindeutig vorhandenen Tendenz zum Überbordenden hierbei, wodurch dann die eigentliche Erzählung auch durchaus in den Hintergrund treten kann (die Empfehlung zum Einstieg über „Ein fliehendes Pferd“ rührt aus einer Zurückhaltung Walsers in dieser Novelle bei genau diesem möglichen Kritikpunkt, wohingegen die typischen Stilmittel und Themen brillieren dürfen. Ich hatte die Novelle eingeschoben, als ich zur Halbzeit der Lektüre von „Ein sterbender Mann“ verwirrt und zweigeteilt zu meiner Einschätzung war).
Die Walserschen Protagonisten erweisen sich (auch in diesem Roman) als zutiefst verunsichert, ihre auf das Gegenüber gerichteten Handlungen haben selten etwas zu tun mit der Person ihres Gegenüber, vielmehr mit der eigenen Wahrnehmung, der Illusion, die diese Person bei ihnen hervorruft.
S. 41 „Er [Ellens Liebhaber Ernest] rede nur soviel, weil er nicht aufhören könne, ihr ihre [Ellens] Wirkung auf ihn zu schildern. Er gebe zu, daß er sie dadurch mitreißen wolle. Da er schon nicht im Stande sei, sie zu begeistern, sie hinzureißen, wolle er eben dadurch, daß er sie ihre Wirkung auf ihn erleben lasse, sie von sich selber hinreißen lassen.
Obwohl sie Angst hatte und vorsichtig sein wollte, war sie dann doch hingerissen gewesen. Von ihm. Vielleicht doch von ihrer Wirkung auf ihn.“
S. 83 (aus Sicht Ellens) „Er [ihr Liebhaber Ernest] ist eine Aussicht. Die einzige. Nur weil er eine Aussicht ist, liebst du ihn. Nur ein Mann kann auf die Idee verfallen, man liebe ihn um seinetwillen.“
S. 119 (im Kapitel Sylvi; über ihren Vater) „ Dieser Schwätzer! Dieser Dekorateur! Dieser Schaumschläger, Wortkonditor, Lügenbold!“
Mein Fazit? Gewappnet mit einem rudimentären Vorwissen über Walser lässt sich dieser Roman schlicht und einfach genießen, sowohl hinsichtlich des Sprachgebrauchs als der Bonmots. Faszinierend, dass sich eine Rezension samt Inhaltsüberblick an diesen entlanghangeln kann! Ausschweifender als „Ein fliehendes Pferd“, dafür mit mehr Sprachschätzen, jedoch deutlich zielstrebiger und am Leser orientierter als „Ein sterbender Mann“, darf man sich als Leser durchaus verstören lassen von Erkenntnissen darüber, wie furchtbar verlogen - auch gegenüber sich selbst Menschen in beruflichen und privaten Beziehungen interagieren – und kommt dabei vielleicht auch auf die eine oder andere unangenehme Gemeinsamkeit mit sich selbst.