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Veröffentlicht am 05.12.2018

Beeindruckende Autobiographie, intensiv und bewegend

Befreit
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„Befreit – Wie Bildung mir die Welt erschloss“ ist die Autobiographie der heute 32-jährigen Amerikanerin Tara Westover. Sie ist dahingehend ungewöhnlich, weil die Autorin in den Bergen Idahos ohne Schulbesuch ...

„Befreit – Wie Bildung mir die Welt erschloss“ ist die Autobiographie der heute 32-jährigen Amerikanerin Tara Westover. Sie ist dahingehend ungewöhnlich, weil die Autorin in den Bergen Idahos ohne Schulbesuch aufgewachsen ist und dennoch den Weg über die Universität bis hin zum Doktortitel geschafft hat. Befreit hat sie sich in dieser Zeit von den Glaubensgeboten und Leitsätzen, die hauptsächlich ihr fundamentalistisch denkender Vater ihr gesetzt hat, der von ihrer Mutter und einem Teil ihrer sechs älteren Geschwister unterstützt wird. Um einige Personen zu schützen, hat sie teilweise deren Namen geändert.

Tara wächst in einer ländlichen Umgebung auf. Ihre drei ältesten Brüder haben einige Jahre die Schule besucht, doch dann haben die Eltern beschlossen, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Es gibt keine festgelegten Lehrstunden, oft lernen die Kinder ganz nebenher durch Erklären von Alltäglichem und näherem Betrachten von Bekanntem und Unbekanntem. Taras Vater Gene betreibt einen Schrotthandel und schon früh wird sie zur Mitarbeit aufgefordert. Auch ihrer Mutter Faye ist sie behilflich im Haushalt und bei der Herstellung verschiedener Kräuterheilmittel. Im Laufe der Jahre passieren mehrere schwere Unfälle in die mindestens eins der Familienmitglieder involviert ist. Doch ein Arztbesuch ist kostspielig und Gene setzt auf die Vorsehung zur Heilung und Naturheilstoffe. Der Vater steigert sich in einige religiöse Ansichten hinein und dringt auf deren Einhaltung, notfalls auch mit Gewalt. Faye stellt sein Verhalten nicht in Frage. Erst viel später erfährt sie, dass Gene eine psychische Erkrankung hat.

Tara Westover setzt sich in ihrer Biografie kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander. Sie beschönigt nichts. Als Kind blieb ihr viel Raum, ihre Umwelt auf eigene Faust zu entdecken. Bis auf Anstandsregeln, die hauptsächlich ihre Kleidung betrafen, und religiösen Wertvorstellungen waren ihr kaum Grenzen gesetzt. Doch sie hat auch gelernt, dass jedes Familienmitglied so früh wie möglich dabei helfen muss, die Existenz zu sichern. Aus ihrer Sicht als erwachsene Frau, versucht sie die Handlungen ihrer Eltern zu verstehen, denn allein mit einer fundamentalistischen Glaubenseinstellung sind nicht alle Entscheidungen von ihnen zu begreifen. Gerade auch die Gewalt, die einer ihrer Brüder ihr gegenüber ohne das Einschreiten von Vater oder Mutter zeigt, bleibt unfassbar. Und dennoch fällt ihr die Ablösung vom Elternhaus schwer, denn hier reicht ihr Wissen für Haushalt, Kräuterherstellung und die Arbeit auf dem väterlichen Schrottplatz ohne sich mit anderen messen zu müssen. Die Gewohnheit gibt ihr auf eine gewisse Art Sicherheit. Und sich von der Liebe ihrer Eltern zu lösen, die doch da ist, aber sich nicht in der den meisten bekannten Weise äußert, fällt der Autorin schwer. Überhaupt war es für mich als Leserin nicht immer einfach, die Handlungen und Ansichten der Familienmitglieder nachzuvollziehen.

Ohne Groll blickt Tara Westover auf die vergangenen Jahre zurück. Sie definiert nicht nur die Schattenseiten, sondern teilt mit ihren Lesern viele glückliche Momente, die sie in einer gefühlvollen, ausdrucksstarken Sprache erzählt. Sie sucht den Kontakt zu Personen außerhalb der Familie und mit deren Hilfe und der Unterstützung ihrer Brüder öffnet sich ihr Blick und weitet sich ihr Verstand. Ihre Neugier auf das Leben außerhalb der Familie wächst und mit ihrer Persönlichkeit macht sie auf sich aufmerksam und nimmt immer mehr Personen für sich ein. Das gibt ihr Kraft und Stärke und ihre Unsicherheit verliert sich zunehmend. Für mich war es beruhigend, darüber zu lesen.

Tara Westovers Autobiographie ist beeindruckend. Entspräche ihre Geschichte nicht den Tatsachen hätte ich an einigen Stellen innegehalten und die Fiktion für unrealistisch erklärt. Die Schilderungen der Autorin sind intensiv und bewegend. Der Lebensweg der Autorin ist lesenswert und wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.

Veröffentlicht am 22.11.2018

Märchenhafte Erzählung mit wunderschönen Illustrationen

Der magische Adventskalender
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Auf dem Cover des Buchs „Der magische Adventskalender“ von Jan Brandt schaut aus luftiger Höhe eine Krähe auf den Jungen hinab, der einen Kasten unter dem Arm trägt und zügig seines Weges geht. In den ...

Auf dem Cover des Buchs „Der magische Adventskalender“ von Jan Brandt schaut aus luftiger Höhe eine Krähe auf den Jungen hinab, der einen Kasten unter dem Arm trägt und zügig seines Weges geht. In den 24 Kapiteln, bei denen jedes für einen Tag der Adventszeit steht, und einem Epilog erfuhr ich beim Lesen, wohin der kleine Protagonist unterwegs ist.

Noch erkennt man von dieser Stelle aus nicht die Magie des Kalenders, denn sie zeigt sich erst abschnittsweise.
Jonas heißt der kleine Protagonist der Geschichte. Er geht in die vierte Klasse und wohnt in Ravenhagen. Sein Vater ist Tischler. Seine Oma, die ihn und seine Schwester großgezogen hat, ist vor etwa einem Jahr gestorben. Am ersten Tag des Dezembers ist er morgens in betrübter Stimmung und denkt mit Schrecken daran, dass er gleich zur Schule gehen muss, denn dort hat er wenig Freunde und träumt gerne vor sich hin. Direkt vor dem Haus findet er an diesem Morgen einen hölzernen Adventskalender im Rinnstein. Die Türen sind mit Zahlen und Symbolen versehen, lassen sich aber nicht öffnen. Erst nachdem er die Zeichen zugeordnet hat, gelingt es ihm, mit Hilfe der Bewohner der Ortschaft, das jeweilige Türchen des Tages aufzumachen. Dahinter wartet eine Süßigkeit, die einen Teil eines weiteren Rätsels mit sich bringt, das Jonas über alle Tage hinweg lösen muss.

Jonas erinnert sich ungern an das vergangene Jahr als seine Großmutter gestorben ist. Ihr Zimmer im Haus steht seitdem leer und hat nicht nur räumlich eine Lücke hinterlassen. Sie war immer für ihn da, hat ihm Grenzen aufgezeigt, ihn aber auch angeleitet. Auf das bald anstehende Weihnachten hat er gar keine Lust wie eigentlich auf fast alles. Lieber bleibt er allein in seinem Zimmer. Nach außen hin wird er immer unleidlicher und alles was einmal in seinen Besitz gelangt ist gibt er nicht mehr her. Teilen ist für ihn zum Fremdwort geworden. Ganz intuitiv begreift er schnell, dass er Hilfe benötigt, um hinter das Geheimnis des Kalenders zu kommen. Diese Hilfe verlangt ihm allerdings ab, dass er nicht nur sein Zimmer verlassen, sondern dazu auch mit anderen, teils bisher von ihm gemiedenen Personen Kontakt aufnehmen muss. Die verschiedenen Situationen erfordern immer wieder auch spontane Entscheidungen von ihm, bei denen er sein Herz sprechen lässt. Unmerklich verändert sich im Laufe der Tage seine Einstellung zu vielen Dingen.

Jan Brandt schafft rund um Jonas einmalige, manchmal amüsante oder auch mal mysteriöse Figuren. Die märchenhafte Erzählung zur Adventszeit wird begleitet durch wunderschöne Illustrationen im Seitenformat von Daniel Faller zu den einzelnen Kapiteln. Durch das ganze Buch zieht sich eine unterschwellige Spannung, denn ich wollte von Beginn an wissen, ob es Jonas gelingen wird, das Rätsel des Kalenders zu lösen. Die Geschichte ist leicht und flüssig zu lesen und für jedes Alter geeignet, zum Vorlesen oder selber lesen, faszinierend und verzaubernd.

Veröffentlicht am 17.11.2018

Realität, die oft unerwarteter ist als Fiktion

Der Stammhalter
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Im Buch „Der Stammhalter“ erzählt Alexander Münninghoff die Geschichte seiner eigenen Familie, die mit seinem Großvater Joan Münninghoff beginnt, der im Jahr 1917 im lettischen Riga die zukünftige Großmutter ...

Im Buch „Der Stammhalter“ erzählt Alexander Münninghoff die Geschichte seiner eigenen Familie, die mit seinem Großvater Joan Münninghoff beginnt, der im Jahr 1917 im lettischen Riga die zukünftige Großmutter des Autors kennenlernt. Zwei Jahre später wurde die Ehe geschlossen aus der vier Kinder hervorgingen.

Der Niederländer Joan Münninghoff gründete während des ersten Weltkriegs eine Exportfirma in Dänemark und ließ sich später in Lettland nieder. Durch seine erfolgreichen Geschäfte war er wohlhabend und gelangte dadurch zu einigem Einfluss. Permanent vergrößerte er sein Unternehmen. Um die vier Kinder des Ehepaars Joan und Erica Münninghoff kümmerte sich hauptsächlich eine Gouvernante. Frans, der Erstgeborene und Vater des Autors, sollte als Stammhalter später die Geschäfte weiterführen. Mit elf Jahren wurde er auf ein Internat in die Niederlande geschickt. Doch Zeit seines Lebens hat Frans sich nie als Niederländer gesehen.

Der zweite Weltkrieg ließ Joan und seine Familie im Jahr 1940 aus Lettland in das niederländische Voorburg in der Nähe von Den Haag flüchten. Sobald es ihm möglich war, schloss Frans sich der deutschen Waffen-SS an. Arbeitete er zunächst als Dolmetscher so kämpfte er später an der vordersten Front. Für seinen Vater ist und bleibt er ein Querulant, was sich in vielen geschilderten Ereignissen zeigt. Die Geburt von Alexander im Jahr 1943 nahm das Familienoberhaupt wohlwollend zur Kenntnis und setzte kurz nach dem Krieg alles daran, das Sorgerecht für den Enkel auf die Seite seines Sohns zu bekommen als dieser sich von seiner Frau trennte.

Die wahre Geschichte der Familie Münninghoff liest sich stellenweise spannender als mancher Roman mit fiktiven Charakteren. Der Autor gibt sich zunächst als neutraler Erzähler. Anhand von Gesprächen und Schriftgut hat er das Leben seines Großvaters und Vaters gekonnt rekonstruiert und schildert sowohl bedeutende Ereignisse als auch unbedeutend erscheinende Begebenheiten, die aber ungeahnte Auswirkungen haben. Er lässt das unbeschwerte, manchmal ausgelassene Leben in Riga wiederaufleben genauso wie die schwierigen Kriegsjahre, in denen vor allem Joan manche Beziehung zum Erhalt der Normalität spielen ließ. Alexander Münninghoff erklärt Zusammenhänge soweit sie sich ihm erschließen, räumt aber eine dunkle ungeklärte Seite im Leben seines Großvaters ein, durch die er seinen Willen umsetzen konnte.

Überrascht hat mich vor allem ein Teil der Geschichte, in dem das rigorose Eingreifen des Großvaters es verhindert hat, dass der Autor vielleicht so wie ich im Kreis Heinsberg aufgewachsen wäre. Besonders hier zeigt sich die Stellung Joans als Großvater, Vater und Ehemann, der von seinen Angehörigen Treue und Ergebenheit erwartet, nichts darf den Ruf der Familienehre trüben. Ab einem bestimmten Zeitpunkt stellt Alexander Münninghoff seine Wahrnehmung der Dinge auf den Prüfstand. Er beginnt gewisse Ereignisse zu hinterfragen. Aus dem inzwischen zeitlichen Abstand heraus sieht er sein Verhältnis zu Vater und Mutter zunehmend differenzierter. Sein persönliches Schicksal lehrt die Bereitschaft zur Vergebung und der Akzeptanz der gegebenen Umstände.

Im Roman „Der Stammhalter“ hat Alexander Münninghoff sich mit seiner familiären Vergangenheit auseinandergesetzt und sie in den historischen Kontext eingebunden. Manches reale Ereignis ist dabei unerwarteter als eine Fiktion. Insgesamt eine faszinierende Geschichte, die ich gerne weiterempfehle.

Veröffentlicht am 13.11.2018

Fesselnder Thriller

Mein ist die Macht
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„Mein ist die Macht“ ist der zweite Thriller von Leon Sachs bei dem der französische Geschichtsprofessor Alex Kauffmann mit seiner Verlobten, der französischen Architektin Natalie Villeneuve, und deren ...

„Mein ist die Macht“ ist der zweite Thriller von Leon Sachs bei dem der französische Geschichtsprofessor Alex Kauffmann mit seiner Verlobten, der französischen Architektin Natalie Villeneuve, und deren Onkel, dem in Bordeaux lebenden Rabbiner Fabrice Mannarino, in Tatermittlungen einbezogen werden. Der Terror im vorliegenden Krimi bezweckt den Kampf um die Macht zur Führung mit deren Hilfe sich ein Machtinhaber die Möglichkeit erhofft, die Glaubensrichtung bestimmen zu können. Doch zuerst gilt es, die Zustimmung der Mehrheit in der Bevölkerung Deutschlands zu bekommen. Mit dem dadurch erhaltenen Vertrauen lässt sich die Macht ausbauen. Dementsprechend deutet auch der Titel bereits darauf hin, dass die im Thriller verübten Anschläge allein dem Zweck dienen, die Führung an sich zu reißen. Auf dem Cover ist ein funkensprühender Regen wie nach einer Explosion zu sehen. Furios beginnt der Krimi mit einem Bombenanschlag auf die Zentralmoschee in Köln bei der eine solche Wolke sicher gesehen worden wäre.

Der Anschlag erschüttert die Politik und die Glaubenswelt. Deren Vertreter treffen sich daraufhin innerhalb von zwei Wochen zum Abschluss eines Friedensvertrags, der einen Rat der Religionen begründen soll, auf dem Petersberg in der Nähe von Bonn. Als Rabbiner ist der über 70 Jahre alte Fabrice zwar kein hoher Würdenträger, doch er gehört zu den anwesenden jüdischen Vertretern. Ebenfalls vor Ort ist die erfolgreiche Lobbyistin Cara Allegri aus Berlin. In einem vertraulichen Gespräch teilt sie Fabrice mit, dass sie die Information darüber hat, dass am nächsten Tag ein Anschlag auf die an der Versammlung teilnehmende Tochter des US-Präsidenten geplant sein soll und sie deshalb seine Hilfe benötigt. Am nächsten Tag beobachten die beiden im Hotel einen verdächtigen Mann. Doch statt ihn stellen zu können, wird Fabrice anscheinend gelinkt und gerät selbst unter Tatverdacht. Natalie und Alex eilen ihm zu Hilfe, die sich jedoch als schwierig zu erbringen erweist. Immer tiefer dringen die beiden und Cara zu einer undurchsichtigen Verschwörung vor, die sie zunehmend selbst ins Fadenkreuz der Machtgierigen bringt.

Natürlich macht es mehr Spaß, wenn man auch die ersten Ermittlungen aus „Falsche Haut“ kennt, in die Alex, Natalie und Fabrice einbezogen waren, doch das Lesen von „Mein ist die Macht“ ist unabhängig davon möglich. Mir hat der vorliegende Thriller sogar noch etwas besser gefallen. Leon Sachs ist eine äußerst gute Konstruktion gelungen, die den Leser kaum oder keinen Vorsprung vor den Erkenntnissen der Protagonisten gibt. Erst nach und nach deckt er neue Fakten auf und gibt die Drahtzieher preis. Die Spannung ist von Beginn an vorhanden, die Spannungskurve hält sich bis zum Schluss. Leon Sachs spielt mit der Wahrheit und täuscht die Leser. Mit geschickt gesetzten Cliffhangern verließ er einige Szenen, was sie Spannung weiter steigerte. Aufgrund der mir dann fehlenden Information des weiteren Handlungsablaufs kam ich ins Grübeln darüber, ob Fabrice oder eine andere bis dahin unschuldig erscheinende Person nicht doch Täter oder Mithelfer sein könnte. Ganz nebenbei baut der Autor noch in die Beziehung von Alex und Natalie eine geheimnisvolle Problemvariante ein.

Dank der Kenntnisse von Leon Sachs über Konflikte zwischen Religionen und Politik und seiner sehr guten Recherche konnte ich einiges aus der Welt verschiedener Glaubensrichtungen erfahren, auch zur Symbolik. Der Thriller greift ein heute hochbrisantes Thema auf und führt es äußerst fesselnd aus. Gerne empfehle ich das Buch an Leser des Genres Krimi und Thriller weiter.

Veröffentlicht am 06.11.2018

Mitreißender Auftakt einer fünfteiligen Serie

Die Fotografin - Am Anfang des Weges
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„Die Fotografin – Am Anfang des Weges“ ist der erste Teil der großen Saga mit voraussichtlich fünf Bänden von Petra Durst-Benning, in der sie das Leben der Fotografin Minna Reventlow schildert. Minna, ...

„Die Fotografin – Am Anfang des Weges“ ist der erste Teil der großen Saga mit voraussichtlich fünf Bänden von Petra Durst-Benning, in der sie das Leben der Fotografin Minna Reventlow schildert. Minna, genannt Mimi, ist eine fiktive Figur, die 1879 geboren wurde und in Esslingen als Tochter eines Pfarrers und seiner Frau aufgewachsen ist. Die Haupthandlung des ersten Teils spielt im Jahr 1911. Bereits das Cover vermittelt mit seiner Aufmachung ein gewisses Flair der damaligen Zeit und so wie die junge Frau auf dem Umschlag stellte ich mir beim Lesen Mimi vor.

Josef, der Bruder von Mimis Mutter, ist Wanderfotograf und Mimis großes Vorbild. Nach einigen Jahren als Angestellte in ihrem erlernten Beruf der Fotografin entscheidet Mimi sich mit Mitte 20 dazu, ihre eigenen Ideen zur Gestaltung von Fotos umzusetzen und sich selbständig zu machen. Daher beschließt sie, sich bei verschiedenen Fotografen in ganz Deutschland zu verdingen. Der Beginn ist schwierig, aber mit der Zeit erwirbt sie sich einen guten Ruf. Eines Tages erhält sie während eines Aufenthalts in Isny die Nachricht von der Erkrankung ihres Onkels, der inzwischen seine Wanderschaft aufgegeben und sich in Laichingen auf der Schwäbischen Alb niedergelassen hat. Mimi reist vor ihrem nächsten Auftrag zu ihm. Aufgrund des Fortschritts der Krankheit ihres Onkels entscheidet sie sich, noch eine Weile länger zu bleiben um ihn zu pflegen und sein Geschäft fortzuführen. Aber die Ortsbewohner sind ihr gegenüber misstrauisch und verärgert stellt sie fest, dass die meisten sich nach der Meinung eines örtlichen Fabrikanten richten der vielen von ihnen Arbeit gibt. Mimi steht nicht in seiner Gunst. Wird sie trotzdem in Laichingen bleiben?

Der erste Band der Serie erzählt die ersten Jahre Mimis in dem für eine Frau zur damaligen Zeit eher ungewöhnlichen Beruf als Fotografin. Ihre Mutter hatte bei einem Schlüsselerlebnis, bei dem Mimi sieben Jahre alt war, geschworen, dass es Mimi nie an etwas sollte. Daran hält sie sich und lässt ihrer Tochter bei der Berufsentscheidung freie Wahl. Beim Lesen war ich dabei in meine Wohlfühlzone gerückt. Doch Petra Durst-Benning macht es ihrer Protagonistin nicht leicht. Durch ihre reisende Tätigkeit reift Mimi als Persönlichkeit. In Laichingen, einem Ort der weltweit für seine Leinenweberei bekannt ist, hat sie mit vielen Gefühlen zu kämpfen. Die Sorge um ihren Onkel bringt sie dazu, zu seinem Wohl umzudenken. Aber sie lässt sich in ihren grundsätzlichen Ansichten nicht verbiegen und nicht einschüchtern. Ihr wird deutlich, dass eine finanzielle Absicherung die Freiheit mit sich bringt, eine eigene Meinung vertreten zu können.

Die Autorin hat in ihrem Roman nicht nur liebenswerte Figuren, sondern auch unfreundliche beschrieben. Ihre Charaktere haben Ecken und Kanten, sind wandlungs- und entwicklungsfähig. Mimi wurde mir schnell sympathisch. Sie verfügt über ausreichend Selbstbewusstsein, ist aber nicht überheblich, sondern geerdet, hat Herz und Verstand. Ich bin mir sicher, dass einigen Nebenfiguren wie beispielsweise Eveline und ihrem ältesten Sohn in den weiteren Bänden noch eine größere Rolle zukommen wird.

Das Thema der Historischen Fotografie ist sehr gut recherchiert und aufbereitet. Man spürt beim Lesen die jahrelange Leidenschaft der Autorin für dieses Sachgebiet. Zur bildhaften Untermalung gibt es im Anhang einige Beispiele der Atelierfotografie und Postkartengestaltung aus dem Bestand von Petra Durst-Benning. Obwohl Figuren und Handlung fiktiv sind wirken sie überaus authentisch.

Mit „Die Fotografin – Am Anfang des Weges“ hat Petra Durst-Benning einen Roman geschrieben, der mich vom Thema her von Beginn an fasziniert hat. Obwohl im weiteren Verlauf einige spannende und berührende Ereignisse zu lesen sind, bleiben am Schluss manche Handlungsstränge offen. Daher freue ich mich schon auf die Fortsetzung. Gerne empfehle ich das Buch uneingeschränkt weiter.