Das Schlimmste an Fat Charlies Vater war schlicht und einfach dies: Er war peinlich.
Nun sind natürlich alle Eltern peinlich. Das liegt in der Natur der Sache. Eltern sind peinlich einfach dadruch, dass sie existieren, während Kinder ab einem bestimmten Alter von Natur aus nicht anders können, als im Boden zu versinken vor Verlegenheit, Scham und Schmach, sofern sie mit ihren Eltern auch nur zusammen auf der Straße gesehen werden.
Fat Charlies Vater aber hatte all dies zu einer Kunstform erhoben, und er erfreute sich daran [...].
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INHALT:
Seit Fat Charlie Nancy denken kann, ist ihm sein Vater unfassbar peinlich. So peinlich, dass er lieber nach England gezogen ist, als mit ihm weiter das Land zu teilen. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass er selbst im Allgemeinen kein besonders charmanter und beliebter Mensch ist - im Gegensatz zu seinem Vater, dem alles zuzufliegen scheint. Bis dieser stirbt und Fat Charlie nach der Beerdigung nicht nur erfährt, dass sein Vater ein Gott war, sondern auch den Tipp erhält, auf absurde Weise einen ihm bisher vollkommen unbekannten Bruder zu kontaktieren. In angetrunkenem Zustand geht er dem nach - aber wie hätte er ahnen sollen, dass dies sein gesamtes Leben durcheinander bringen würde? Denn kurz darauf steht Spider vor der Tür, der, wie sich herausstellt, die göttlichen Fähigkeiten ihres gemeinsamen Vaters geerbt hat. Und der sich nicht nur an Charlies Verlobte heranmacht, sondern ihm auch deutlich gefährlichere Probleme bereitet...
MEINE MEINUNG:
Momentan scheint eine Hoch-Zeit zu sein für Fantasy- und Science-Fiction-Autoren, deren Bücher zu Serien verfilmt werden. Nicht nur Stephen Kings und Margaret Atwoods Stoffe werden adaptiert, auch hinter den Geschichten von Neil Gaiman ist man seit einiger Zeit vermehrt her. "American Gods" habe ich letztes Jahr begeistert geschaut, "Good Omens" gibt es in den nächsten Monaten - "Anansi Boys", lose verknüpft mit ersterem, erwartet bisher aber keine Adaption. Meine Chance also, endlich mal die Lektüre vorher zu schaffen. Und das lohnt sich: Denn es sind nicht nur die Ideen des Autors, die zu überzeugen wissen, sondern auch sein unverwechselbarer Stil voller Wortwitz, kleiner Anekdoten, Geschichten über die Götter, und skurriler Dialoge.
Und natürlich, ganz besonders, seine Charaktere. Da ist zum einen Protagonist Fat Charlie, der eigentlich gar nicht dick ist, nur blieb der Name in seiner Kindheit hängen. Er ist ein sehr weicher Kerl ohne rechtes Selbstbewusstsein und ohne den Mut, für sich einzustehen. Sein Bruder bringt zwar sein komplettes Leben durcheinander, hilft ihm aber auch, seine Schwächen zu sehen und daran zu arbeiten. Spider ist nämlich das genaue Gegenteil: Gutaussehend, arrogant und gesegnet mit göttlichen Fähigkeiten kann er Menschen ganz einfach dazu bringen, zu tun, was er will. Lange hat ihm das nichts ausgemacht - aber vielleicht entdeckt er ja doch sein Gewissen? Zusätzlich zu den beiden tauchen in der Geschichte nicht nur zwei junge Damen auf (von der ich aber nur eine interessant fand), sondern auch vier deutlich ältere, die manchmal hilfreich sind, Charlie sehr oft aber auch Steine in den Weg legen. Und dann sind da natürlich noch die Götter. Anders als in "American Gods" sind diese hier Tierwesen: Manche verschmitzt und listig, andere hasserfüllt und auf Rache sinnend. Sie nehmen gar keinen besonders großen Raum ein, wissen aber in ihren jeweiligen Momenten zu begeistern.
Im Gegensatz zu "American Gods" - oder sagen wir, der Serien-Form davon - wirkt das Umfeld der Protagonisten deutlich weniger düster. Es gibt zwar mindestens einen Antagonisten, der auch vor Gewalttaten nicht zurück schreckt, und einige der Götter hegen keine guten Absichten, inhaltlich dreht alles sich aber viel mehr um die schwierige Beziehung der Brüder zueinander und Charlies Entwicklung zu einem stärkeren Selbst. Versöhnung und Familie nehmen goße Parts der Handlung ein, wunderbar unterlegt von passendem Humor. Zwischenzeitlich hätte der Bezug auf die Götter ein bisschen größer sein können, und der permanente Wechsel zwischen Präsens und Präteritum in den Erzählungen über diese hat mich doch sehr irritiert. Dafür entschädigen allerdings die letzten 100 Seiten, auf denen sich die Ereignisse überschlagen, alle Charaktere zusammen geführt und einige Geheimnisse enthüllt werden. Zuletzt endet die Geschichte sehr zufrieden stellend - aber ich hätte dennoch Lust, noch einmal in die Welt zurück zu kehren.
FAZIT:
"Anansi Boys" spielt in derselben Welt wie auch "American Gods", die beiden hängen - nach meinem Verständnis - aber nur sehr lose zusammen. So ist es kein Problem, das eine ohne das andere zu lesen. Neil Gaimans Schreibstil ist ein Genuss und voller humorvoller Details, seine Charaktere sind liebenswert und voller Fehler. Ein wenig mehr noch hätte es sich um die Götter drehen können, aber so ist das Ganze eine überzeugende Geschichte um zwei Brüder, die ungewollt zusammen arbeiten müssen. Lesenswert! 4 Punkte.