„Ich vermisste plötzlich alles, was nicht stattgefunden hatte.“ S. 128
"Ein Schrei.
Kurz.
Durchdringend.
Ein dumpfer Knall." S. 31
Schreiben mithilfe von Zeilenwechseln. Ein Selbstmord.
Es ist für Victor, den Ich-Erzähler, das zweite Jahr der Vorbereitungsklasse für den Zugang, den Concours, auf eine der französischen Elite-Universitäten, Paris. Victor kommt aus der Provinz, der erste Student aus seiner Familie. "Ich begriff schnell, dass mir die Zugangscodes fehlten: kulturell, sprachlich und die Kleiderordnung betreffend." S. 20
Victor wollte gerade Mathieu einladen, "Vielleicht wäre es ganz nett, meinen Vorschlag anzunehmen und in den nächsten Ferien mal zusammen auszugehen. Genau. Sicher ganz amüsant. Unterhaltsam und inspirierend. Kein Stöhnen und kein Zaudern. Ich musste diese Richtung einschlagen, um das zu werden, was ich nie war - beliebt." S. 38 Er selbst ist für die Kommilitonen unsichtbar – erst nach dem Selbstmord von Mathieu, mit dem er nur beim Rauchen einige Worte wechselte, wird er für die anderen sichtbar, interessant. Jean-Philippe Blondel nutzt Satzlängen, für das Überlegen, das Zaudern, das Sich-Selbst-Bekräftigen, er nutzt Zeilensprünge, er schreibt in sehr poetischen, eindringlichen Bildern.
Victor ist ein Suchender auf ihm unbekannten Wegen, ohne viel eigene Initiative „Und außerdem bewege ich mich in einem Umfeld, das weder meine Eltern noch mein Bruder jemals kennenlernen werden … . Ich ebne mir meinen Weg.“
„Und mich hast du unterwegs aufgelesen und nimmst mich ein Stück mit?“
„Ich würde eher sagen, dass du am Steuer sitzt, oder?“ S. 76
Ich fand das Buch beim Lesen wunderbar, direkt danach und dann nochmals im Rückblick. Für mich ist das ein Text zum langsamen Lesen, zwischendurch hinlegen und hinterher darüber nachsinnen. Der Stil ist poetisch, aber leicht lesbar, den Grundton fand ich melancholisch, definitiv Winter, nicht Sommer, November, dann Februar, wie in der Handlung, melancholisch, aber nicht deprimierend. Victor ist erst unsichtbar, dann sichtbar als jemand anderes, Projektionsfläche. Dennoch bleibt er fähig, das Geschehene zu beurteilen, zum Beispiel im Gespräch mit Mathieus Vater, im für mich schönsten Satz aus dem Buch:
„Zeitweise zog er sich innerlich zurück, dann war Ebbe, und ich konnte am Strand der Sätze spazieren gehen, die wir ausgetauscht hatten, die Spuren im Sand betrachten, bevor sie weggespült wurden, den Geräuschen des Windes lauschen, das Gesagte noch einmal überdenken.“ S. 113
Ein wunderschönes Buch über die offenen Fragen des Lebens, gleichzeitig ein Buch über die Unterschiede zwischen Paris und dem Umland, soziale Zugehörigkeiten. Unter https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ein-winter-in-paris/978-3-552-06377-8/ findet sich ein Interview zum Hintergrund, danke @parden.
5 Sterne.