“Wie das Licht von einem erloschenen Stern” von der dänischen Autorin Nicole Boyle Rødtnes ist ein Roman über ein Thema, das es so im Jugendbuch noch nie gab: Aphasie. Der Verlust von Sprache. Die Hauptfigur kann nach einem Unfall weder lesen, schreiben, noch sprechen. Ein authentisches, sehr eindringlich erzähltes Buch über ein Mädchen, das ungewollt zur Außenseiterin wird. Jetzt neu als Taschenbuch. Für Jugendliche ab 14 Jahren.
Die 17-jährige Vega ist auf einer Party gestürzt. Sie ist in ein Schwimmbecken gefallen und hat sich den Kopf angeschlagen. Ertrunken. Man musste sie wiederbeleben. “Ich kam in einem Krankenhausbett zu mir. Gehirnblutung. Sprachzentrum beschädigt. Aphasie. Die Ärzte haben immer wieder versucht, mir das zu erklären. Meine Sprache ist zerbrochen. Wenn ich den Mund öffne, kommt nur ein Wörterwirrwar heraus.” (Zitat aus “Wie das Licht von einem erloschenen Stern” S.8) Mittlerweile versteht Vega wieder, was die anderen um sie herum sagen, doch sie selbst kann — bis auf einzelne Wörter — kaum mehr sprechen. Lesen geht etwas, schreiben überhaupt nicht. Wenn ihr Freund Johan ihr eine Nachricht schreibt, kann sie diese mit Mühe entziffern, aber nicht antworten. Er kommt überhaupt immer seltener bei ihr vorbei. Wenn ihre beste Freundin Ida sie besucht, schaffen sie es vielleicht gerade so eine Stunde auf umständliche Weise miteinander zu kommunizieren, ehe Vega wieder alleine gelassen wird. Und alleine, das ist das junge Mädchen nun oft. Der Unfall hat ihr ganzes Leben verändert. Zur Schule gehen kann sie nicht mehr. Die Abiturvorbereitungen laufen ohne sie. Einmal in der Woche kommt jetzt eine Frau vorbei, die das Sozialamt bezahlt, die mit ihr übt wieder richtig sprechen zu lernen. Doch Vega macht kaum Fortschritte. “Als sie weg ist, gehe ich zum Computer, wo noch immer das Sprechtraining angezeigt wird, wie eine dunkle Gewitterwolke aus schlechtem Gewissen. Ich müsste mehr üben, aber ich bringe es einfach nicht über ich mich. Ich rolle mich auf dem Bett zusammen. Der Mittagsschlaf ist jetzt alltäglich. Er hilft mir, die Zeit herumzubringen.” (Zitat S.15) Zudem hat Vega immer öfters Albträume, in denen sie von dem Unfall träumt. Warum träumt sie auf einmal von jemanden, der ihr bei ihrem Sturz zusieht? Jemandem, der sie hineinstößt in das Schwimmbecken? War der Unfall vielleicht gar kein Unfall? Zusammen mit Theo, der ebenfalls unter Aphasie leidet, und den sie bei einem Treffen einer Selbsthilfeorganisation kennenlernt, versucht sie die Wahrheit herauszufinden…
“Wie das Licht von einem erloschenen Stern” fällt sogleich auf durch sein außergewöhnlich schön gestaltetes Cover auf. Ein wahrer Hingucker! Das Schriftbild des Titels hat es mich irgendwie gleich an “Das Schicksal ist ein mieser Verräter” von John Green denken lassen. Hierzu gibt es auch inhaltlich eine Parallele: so lernen sich Vega und Theo ebenso wie Hazel und Augustus durch eine Krankheit in einer Selbsthilfegruppe kennen. Der Titel ist sehr passend gewählt, berücksichtigt man, dass Vegas Vater seine Tochter nach einem Sternenbild benannt hat und selbst beruflich in der Astronomie tätig ist. Der Vergleich Vegas mit einem erloschenen Stern symbolisiert zudem ihr gesellschaftliches “Nichtmehrdazugehören” sehr gut.
Der Roman wird durchgehend aus der Ich-Perspektive und aus Vegas Sicht geschildert. Das Buch ist in Kapitel unterteilt und die erste Passage jedes Kapitels ist ein kursiv gedruckter Abschnitt, der in Rückblenden von dem Unfall, Vegas Erwachen im Krankenhaus und ihrer darauf folgenden Krankheitsgeschichte erzählt. Die Sprache ist einfach und liefert doch ab und zu eine Mischung aus Poesie und jugendsprachlicher Unverblümtheit:“Er hat alles getan, um mich zu retten, und jetzt… jetzt habe ich manchmal das Gefühl, es wäre besser für ihn, wenn ich nicht überlebt hätte. Dieses Gefühl ist so stark, dass es mein ganzes Inneres überflutet, und ich kann es nur verjagen, wenn Johan ganz dicht bei mir ist. Deshalb küsse ich ihn. Und aus Küssen werden Liebkosungen. Und obwohl ich gar keine Lust auf Sex habe, lasse ich mich von ihm von hinten vögeln.” (Zitat S.56). Sehr bewegend schildert Nicole Boyle Rødtnes auch die Schwierigkeiten, die mit Vegas Krankheit einhergehen. Die Verzweiflung, die das Mädchen erfüllt, die Hilflosigkeit und die Wut darüber, sich nicht verständlich machen zu können. Sehr verständlich für den Nicole Boyle Rodtnes Wie das Licht von einem erloschenen SternLeser wiederum, wird dies in folgender Szene dargestellt, als Vegas Freundin Ida ihr von einer Party erzählt, auf der sie war und auf der ein Mädchen einen sehr kurzen Rock trug: “Wie kurz war denn ihr Rock?”, fragte ich. Oder genauer gesagt, ich glaube, das gefragt zu haben, aber das Runzeln auf Idas Stirn sagt mir, dass etwas anderes aus meinem Mund gekommen ist. “Wie kost war das Fest?”, wiederhole ich, und jetzt höre auch ich, dass es nicht richtig war. “Was der Eintritt gekostet hat?”, fragt Ida. […] Ich schüttele den Kopf. “Wie kost war das Fest?”, frage ich noch einmal und versuche, es mit den Händen zu demonstrieren. […] “Wie viele da waren?” Ich schüttele den Kopf. “Auch egal”, sage ich. Die Wut hämmert hinter meiner Stirn. Blöder Drecksmund und Scheißohren, nie können sie etwas richtig machen.” (Zitat S.13) Die Autorin hatte selbst einen Aphasie-Fall in ihrer Familie, der sie dazu bewegte über dieses noch eher unbekannte Thema einen Roman zu schreiben. Das ist ihr auf sehr eindrucksvolle Weise gelungen. Die Geschichte regt auf jeden Fall zum Nachdenken an. Wie würde man selbst mit so einer Krankheit umgehen? Wie mag es für einen Menschen sein, der sich seiner Außenwelt nicht mehr richtig mitteilen kann? Und wie wichtig ist Kommunikation für die seelische Zufriedenheit? Aphasie ist eine Krankheit mit einem ungewissen Verlauf. Diese Erfahrung müssen auch Theo und Vega machen, zwischen denen sich bald eine zarte Liebe entwickelt. Jedoch lernen sie, dass man gemeinsam mit manchen Schwierigkeiten immer besser fertig wird, als alleine.