Profilbild von LadyMagdalene

LadyMagdalene

Lesejury Star
offline

LadyMagdalene ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit LadyMagdalene über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.09.2019

Was hätte dieser Mann noch alles schreiben können...

Menschen neben dem Leben
0

In diesem Roman wird das Leben verschiedener Protagonisten im Berlin der 20er Jahre beschrieben. Der Gemüsehändler Schreiber, der einen Nebenkeller an 2 Arbeitslose für 1,50 Mark die Woche als Schlafplatz ...

In diesem Roman wird das Leben verschiedener Protagonisten im Berlin der 20er Jahre beschrieben. Der Gemüsehändler Schreiber, der einen Nebenkeller an 2 Arbeitslose für 1,50 Mark die Woche als Schlafplatz vermietet; die Arbeitslosen Fundholz und Tönnchen, die sich ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen und schließlich den jungen Arbeitslosen Grissmann.
Grissmann lebt am Rande zur Illegalität, denn seine Gedanken kreisen ständig um evtl. Chancen, zu Geld zu kommen. An anderer Leute Geld, versteht sich, durchaus auch mittels Einbruch, Raub oder Erpressung.
Fundholz hingegen hat sich mit seiner desolaten Lage abgefunden. Er träumt schon länger nicht mehr davon, aus dieser prekären Situation heraus zu finden, sondern fristet sein Leben mit Betteleien. Als ob er nicht schon wenig genug hätte, füttert er auch noch Tönnchen mit durch, der durch eine psychische Beeinträchtigung nicht mehr für sich sorgen kann.
Es gibt noch so einige Mitwirkende, die ebenfalls ihr Päckchen zu tragen haben und für den Handlungsverlauf interessant sind. Trotz ihres trüben Tagesablaufs zieht es sie abends in den Fröhlichen Waidmann, um bei Pfefferminzschnaps, Musik und Tanz dem grauen Alltag für wenige Stunden zu entfliehen, was nicht immer reibungslos vonstatten geht.
Trotz aller Entbehrungen und Tiefschläge bleibt letztlich dennoch ein Hoffnungsschimmer in den Köpfen der Protagonisten, dass es irgendwann ja auch wieder bergauf gehen muss.

Ähnlich wie das bereits zuvor erschienene Buch "Der Reisende" hat mich sein Erstwerk "Menschen neben dem Leben" begeistert. Erzählt wird aus der dritten Person und das so gekonnt, dass ich immer wieder verwundert war, dass man einen solchen Schriftsteller so lange ignorieren konnte in Deutschland. Man ist innerhalb einer Seite in der grauen Zeit der Weltwirtschaftskrise und spürt förmlich die weitgehend vorhandene Hoffnungslosigkeit der Menschen. Boschwitz verrät uns die Gedankengänge der Protagonisten, als ob er selbst bereits in ähnlichen Situationen gewesen wäre. Aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt steuert alles auf einen Showdown im Waidmann hin, wo die Ereignisse sich quasi überschlagen.

Boschwitz Sprache hat absolut nichts antiquiertes an sich sondern könnte auch vor wenigen Jahren niedergeschrieben worden sein. An einigen Stellen war der Text sogar hochaktuell - bspw. wenn er von der Umweltbelastung des starken Verkehrs auf Berlins Straßen berichtet.
Dass ein so junger Mensch einen solch tiefen Blick auf die Gesellschaft werfen und dann auch noch derart eindrucksvoll formulieren kann, ist in meinen Augen herausragend. Als ob er gewusst hätte, dass ihm nicht viel Zeit zum schreiben vergönnt sein würde.
Was hätte dieser Mann noch alles schreiben können....

Veröffentlicht am 12.07.2019

Ein Buch wie ein Puzzle

All die unbewohnten Zimmer
0

In dem vorliegenden Buch von Friedrich Ani kann man, wenn man bereits Bücher von ihm gelesen hat, alte Bekannte treffen. Es sind Jakob Franck, der seinen Kollegen die meist unangenehme Aufgabe abnimmt ...

In dem vorliegenden Buch von Friedrich Ani kann man, wenn man bereits Bücher von ihm gelesen hat, alte Bekannte treffen. Es sind Jakob Franck, der seinen Kollegen die meist unangenehme Aufgabe abnimmt die Angehörigen über den Tod des Opfers zu informieren, Tabor Süden, der gar kein Polizist mehr ist, sondern für eine Detektei nach vermissten Personen sucht, Polonius Fischer ein ehemaliger Mönch der jetzt Chef des K111 (bekannt als die 12 Apostel) ist und Fariza Nasri die nach einer langjährigen Pause wieder in den Dienst zurückkehrt.
Diese vier Ermittler arbeiten zusammen und doch jeder mit den eigenen Methoden an zwei Morden, die anfänglich nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Ein Polizist wird erschlagen als er zwei Kinder verfolgt, die Obst gestohlen haben und eine Frau wird auf offener Straße scheinbar ohne Motiv erschossen.
Am Anfang gibt es offensichtliche Ermittlungsansätze und Ergebnisse, aber mit jedem Kapitel kommen neue Aspekte dazu die die Situation in neuem Licht erscheinen lassen. So als hätte man in einem Puzzle ein Teil, was so aussieht als ob es passt, aber wenn man dann versucht die Lücke zu schließen, merkt man, dass da doch ein anderes hingehört.
Am Ende des Buches hat man ein stimmiges Bild über die Abläufe der Morde, die Umstände die dazu geführt haben und ein recht überraschendes Finale.
Ganz nebenbei hat man auch noch ein gesellschaftspolitisch hochaktuelles Buch gelesen, da hier u. a. Bereiche wie Migrationspolitik, Vorurteile, Rassismus, Fluch und Segen der sozialen Netzwerke, Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland etc. geschickt mit eingeflochten werden.
Der Autor schafft es mit seinem ruhigen, intensiven Erzählstil den Lesenden in seinen Bann zu ziehen und hat mich wieder einmal total gefesselt.

Fazit: Ein sehr empfehlenswertes Buch, das wesentlich mehr ist als nur ein Krimi.

Veröffentlicht am 27.04.2019

Das Loslassen der Kriegsenkel

Das Haus meiner Eltern hat viele Räume
0

Ein Problem, das auf viele der Kriegsenkel-Generation (50er/60er Geburtsjahrgang) zukommt, wenngleich nicht auf alle: Das Elternhaus muss aufgelöst und ausgeräumt werden.
Es trifft nicht auf alle zu, ...

Ein Problem, das auf viele der Kriegsenkel-Generation (50er/60er Geburtsjahrgang) zukommt, wenngleich nicht auf alle: Das Elternhaus muss aufgelöst und ausgeräumt werden.
Es trifft nicht auf alle zu, denn längst nicht alle der Kriegskinder-Generation hatten das Glück, ein eigenes Heim zu besitzen. Viele lebten (wie meine Eltern) in einer Mietwohnung, wo es schon aus Platzgründen deutlich weniger auszuräumen gibt als in einem Haus.
Von meinen Schwiegereltern her kenne ich jedoch auch die von der Autorin Ursula Ott beschriebene Seite der Besserverdienenden und auch bereits das Problem, ihr Haus zumindest tlw. räumen zu müssen. Da es jedoch nicht mein Elternhaus war, fiel es mir recht leicht.
Bei der Lektüre dieses Sachbuches - ist es das oder doch eher eine Art Biografie eines Auszugs? - fand ich jedenfalls genügend Episoden, die mir absolut vertraut waren. Teils durchaus amüsant festzustellen und oft musste ich lachen deswegen.
Absolut interessant waren die aufschlussreichen Beobachtungen zum Thema Kriegsenkel - ein Begriff, der mir völlig neu war. Die hierzu gemachten Beobachtungen fachlich versierter Menschen (Psychologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler) fand ich allesamt schlüssig und nachvollziehbar. Nachvollziehbar schon deshalb, weil ich sie auch bei mir selbst beobachten kann.
Letztlich bietet das Buch eine Reihe hilfreicher Tipps, womit ich nicht unbedingt die im Anhang aufgeführten und immerhin über 30 Seiten umfassenden Tipps zur Weiterverwendung bzw. Entsorgung gefundener Sachen meine. Einzelne Hinweise innerhalb der biografischen Erzählung bargen für mich Schlüsselerkenntnisse: Aus einer Sammlung gleichartiger Gegenstände 1 oder 2 "warme" heraus picken und behalten, der Rest kommt weg. Wenn man, wie ich als Kriegsenkel, kaum bis gar nicht wegwerfen kann, dann muss man großzügig verschenken. Notfalls auch an Unbekannte durch auf die Straße stellen. Vor allem von den Dingen trennen, die man nur als kalt erinnert und die einem persönlich wirklich gar nichts bedeuten. Kurz nochmal anschauen, innehalten und ggf. drüber reden und dann ab dafür!
Frau Ott schreibt einen wirklich gut lesbaren Stil und da sie größtenteils von eigenen Erfahrungen schreibt, kann sich der Lesende gut darauf einlassen und sich auch mit diesem haarigen Thema auseinander setzen. Etwas schade finde ich, dass die eigentliche Erzählung lediglich 140 Seiten umfasst. Aber vielleicht wäre auch viel mehr gar nicht zu schreiben gewesen.
Fazit: Absolut empfehlenswert für Interessierte mit anstehendem Räumungsproblem bei den Eltern.

Veröffentlicht am 11.04.2019

Ein außergewöhnlicher Roman

Rückwärtswalzer
0

Lorenz ist eine Art verkrachte Existenz. Er hat nur bescheidenen Erfolg als Schauspieler, führt eine nicht gerade glückliche Fernbeziehung und weiß wieder einmal nicht, wie er seine nächste Miete bezahlen ...

Lorenz ist eine Art verkrachte Existenz. Er hat nur bescheidenen Erfolg als Schauspieler, führt eine nicht gerade glückliche Fernbeziehung und weiß wieder einmal nicht, wie er seine nächste Miete bezahlen soll. Also kommt er für einige Zeit bei Onkel und Tante unter, in der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Mirl, Wetti und Hedi sind 3 in den 40ern geborene Schwestern. Alle leben in Wien - trotz separater Wohnungen - praktisch im Haushalt von Hedi und deren Mann Willi zusammen. Als Willi eines Tages überraschend stirbt, werden die Schwestern vor ein Problem gestellt, denn Hedi hat ihrem Mann immer versprochen, dass er einmal in seiner Heimat Montenegro beerdigt werden würde. Da für eine Überführung das Geld fehlt, macht sich Lorenz mit seinen 3 Tanten und einem tiefgekühlten Onkel Willi im Panda auf den über 1000 km langen Weg nach Montenegro.

Eingangs möchte ich gleich erwähnen, dass diese Reise eigentlich nicht das Kernstück des Romans darstellt, sondern eher einen Rahmen für längst Vergangenes. Nicht jeder Roman, der von einer Reise handelt, ist ein Roadmovie.
Aktuelle Kapitel lösen sich mit Rückblenden in die Vergangenheit ab. So gleitet man immer mehr in die Geschichte der Geschwister Prischinger und Willis hinein und langsam ergibt sich ein komplexes Bild, wie alles zusammen hängt. Auch Lorenz lernt einiges über sich selbst und seine Mitmenschen.
Vea Kaiser beherrscht bravourös die Gratwanderung zwischen Ernsthaftigkeit und Groteske. Ihr Roman gleitet nie ins Comedyhafte ab sondern er sprüht vor charmantem, typisch österreichischem Witz. Die Charaktere sind so tief und liebevoll entwickelt, dass man sie förmlich vor sich sieht. Die Anerkennung in der Gesellschaft suchende Mirl, bei der immer alles herausgeputzt und 1a aussehen muss. Die recht unkomplizierte Hedi, die von allen Schwestern am meisten Schuldgefühle mit sich herum schleppt oder die etwas spezielle Wetti, für die Natur immer wichtiger war als menschliches Miteinander. Eines jedoch eint die Schwestern: ihr Familiensinn und das Zugehörigkeitsgefühl zu den 3 weiblichen Musketieren. Und Willi ist ohnehin ein Goldstück!
Vea Kaisers Schreibstil ist unglaublich locker und gekonnt. Man fühlt sich sofort mitgenommen und legt das Buch nur höchst ungern aus der Hand. Die Dialoge sind spritzig und das Geschehen - vor allem das der Vergangenheit - fesselt bis zur letzten Seite.
Für mich ist dieses Buch das bisherige Highlight des Jahres!

Veröffentlicht am 13.12.2018

Ani und seine Bücher

Der Narr und seine Maschine
0

Tabor Süden möchte verschwinden. In seinem letzten Fall wurde sein Freund und Kollege getötet und er kommt damit überhaupt nicht zurecht. Allerdings weiß er auch nicht so recht, wohin der denn wohl verschwinden ...

Tabor Süden möchte verschwinden. In seinem letzten Fall wurde sein Freund und Kollege getötet und er kommt damit überhaupt nicht zurecht. Allerdings weiß er auch nicht so recht, wohin der denn wohl verschwinden soll. So steht er lange am Bahnhof und wartet auf eine plötzliche Eingebung.
Statt der Eingebung taucht seine ehemalige Cheffin auf und möchte, dass er einen letzten Fall übernimmt. Die Suche nach dem verschwundenen Cornelius Hallig, der plötzlich genau so verschwand, wie Süden es geplant hatte. Langsam und konzentriert nimmt er die Suche auf.

Was macht sie so besonders, die Bücher des Friedrich Ani? Ich kann es nicht mal sagen. Ist es der bedächtige Verlauf der Handlung? Oder doch die extrem genaue und feine Art zu schreiben? Ist es die Beharrlichkeit, mit der er auch feinste Verstrickungen zu lösen pflegt, sodass sich am Ende eine fein gesponnene Geschichte ergibt, die so leise ist und doch so eindringlich auf seine Leser wirkt?
Bei diesem Buch gerät man in einen Schwebezustand. Man ist zugleich mit Hallig unterwegs in dessen Zeitrückblicken und im Jetzt, wo er alles daran setzt, unterzutauchen und einen letzten Plan umzusetzen. Und man ist mit Süden unterwegs, der sich mühsam sein Puzzle zusammensetzt indem er Dank Erfahrung und Blick hinter die Stirn seiner Zeugen Teilchen für Teilchen entwickelt und zusammenbringt. Und er erkennt immer mehr Parallelen zwischen sich und Hallig. Beide scheinen innerlich aus der Zeit gefallen und ohne irgendeine Hoffnung für die Zukunft zu sein.
Dieses Buch ist ganz sicher keine Kriminalgeschichte, sondern wesentlich eher ein Seelenstriptease der Protagonisten. Es ist auch kein typischer Tabor Süden Roman, sondern erinnert in seiner düsteren Art wesentlich eher an die Jakob Franck Romane.

Fazit: Wer sich darauf einlassen kann, ein Buch auch einmal langsamer zu lesen und keine Action zu erwarten, der bekommt hier ein ganz feines Häppchen zu lesen!