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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.12.2018

Leseempfehlung

Good Night Stories for Rebel Girls 2
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Es ist ein ganz wunderbares Buch, der zweite Teil des Werkes „Good Night Stories For Rebel Girls“ von Elena Favilli und Francesca Cavallo“, sowohl inhaltlich als auch gestalterisch. Hundert neue und spannende ...

Es ist ein ganz wunderbares Buch, der zweite Teil des Werkes „Good Night Stories For Rebel Girls“ von Elena Favilli und Francesca Cavallo“, sowohl inhaltlich als auch gestalterisch. Hundert neue und spannende Geschichten berühmter und weniger berühmter Frauen aus aller Welt sind wie bereits im ersten Band versammelt, und es wird nicht langweilig, im Gegenteil.
Die Mischung macht es, bei der nach dem Alphabet geordnet einhundert lebende und nicht mehr lebende Frauen aus ganz unterschiedlichen Berufen und völlig verschiedenem Berühmtheitsgrad auf jeweils einer Doppelseite des Buches vorgestellt werden. Der Text ist kein langweiliger Steckbrief sondern strotzt Leben, ähnelt eher einem Erzählband als einem Sachbuch, und bereits nach der ersten Geschichte steckt man tief drin im Buch. Fast filmreif spulen sich die Frauenschicksale vor dem Leser ab, Geschichten über Erstarken oder auch über Scheitern, immer äußerst ungewöhnlich und einzigartig, allesamt grandios erzählt und nie langweilig. Die Botschaft kommt an, nämlich dass ohne Kampf nichts entstehen kann, Durchhaltevermögen und Glaube an sich selbst ebenso wichtig sind wie der Mut, Neues auszuprobieren, niemals plakativ und platt sondern stets mit Augenzwinkern und gut verpackt vermittelt.

Die bibliophile Gestaltung mit Grafiken und Bildern zu jeder Frau, aufwändigem Lettering und extra starkem und schönen Papier gibt dem Buch einen ganz besonderen Wert als langjähriges Lesebuch für verschiedenste Generationen, es ist einfach schön anzufassen, schön anzusehen und von in meinen Augen großartigem und sehr zeitgemäß aufbereitetem Inhalt.
Von mir gibt seine klare Leseempfehlung mit fünf Sternen.

Veröffentlicht am 08.10.2018

Warmherziges Sittengemälde

Die Gesichter
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In seinem neuem Roman „Die Gesichter“ lotet der Autor Tom Rachman eine aufregende Vater-Sohn Beziehung mit viel psychologischem Spürsinn aus, wirft dabei einen warmherzig-kritischen Blick auf einen Ausnahmekünstler ...

In seinem neuem Roman „Die Gesichter“ lotet der Autor Tom Rachman eine aufregende Vater-Sohn Beziehung mit viel psychologischem Spürsinn aus, wirft dabei einen warmherzig-kritischen Blick auf einen Ausnahmekünstler mit dem ihn umgebenden Kunstapparat und schafft mit Leichtigkeit und wie nebenbei eine spannungsgeladene, äußerst lesenswerte und wirklich grandiose Geschichte.

Bear Bavinsky, gefeierter Ausnahmekünstler, schillernde und exzessive Gestalt, Vater vieler Kinder und Mann zahlreicher Frauen, ist der leuchtende Mittelpunkt im Leben seines Lieblings-Sohnes Pinch. Bear malt wie besessenen mit großem Erfolg, verbrennt viele seiner Bilder, die ihn nicht zufrieden stellen, lebt Beziehungen zu seinen Frauen und Kindern immer solange, wie sie nicht kompliziert werden. Sein erklärter Lieblingssohn bewundert ihn und eifert ihm nach, doch mit einer einzigen Bemerkung über ein Gemälde von Pinch zerstört Bear alle Hoffnungen seines Sohnes auf ein Künstlerleben. Desillusioniert gibt Pinch das Malen für lange Zeit auf, träumt aber immer davon, seinem Vater menschlich und künstlerisch nahe zu sein. Und auch wenn es ihm gelingt, aus dem großen Kreis seiner Halbgeschwister derjenige zu bleiben, den der Vater zu seinem Lieblingskind und Nachlassverwalter bestimmt, steht er lange Zeit im übergroßen Schatten seines Vaters hintenan. Letztlich schlägt er sich als Lehrer an einer zweitklassigen Sprachschule in London durchs Leben. Nach dem Tod seines Vaters trifft Pinch eine ungeheuerliche Entscheidung und erreicht auf völlig überraschende Weise endlich das eigene innere Leuchten.

Die äußerst komplexe Vater-Sohn-Beziehung steht im Mittelpunkt der Geschichte. Bear als unglaublicher Charakter, talentiert und übermächtig, hält zwar in Bezug auf sein Leben und das seines Sohnes die Fäden in der Hand, ist allerdings als Familienmensch und Vater ein totaler Versager. Pinch, lange Jahre in seinem Schatten stehend und sprichwörtlich von seinen Tischabfällen lebend, lechzt immer wieder nach der Anerkennung von Bear, will dieser großen warmen Sonne um jeden Preis nahe sein, auch nachdem Bear sich neuen Frauen und Familien zuwendet. Es ist erstaunlich tiefsinnig beschrieben, was Pinch zu diesem Zweck auf sich nimmt, wie wenig er eigenes Licht ausstrahlt und wie lange er ohne es wirklich zu merken eigene Interessen komplett hintenan stellt. Umso erstaunlicher und für mich auf sehr überraschende und skurrile Art geschieht seine Emanzipation gegenüber dem mächtigen Vater nach dessen Tod.

Auch Bear muss um Anerkennung kämpfen auf künstlerischem Gebiet. Und das ist das zweite äußerst spannende Thema, dem sich der Autor zuwendet: der Kunstmarkt mit vielen Licht- und Schattenseiten, kapitalistischen Denkweisen versus wahrer Leidenschaft, Vermarktung, Spekulation und unzähligen skurrilen Galeristen, Sammlern, Journalisten. Was macht einen Künstler aus, genügt Talent für Erfolg oder braucht er Aufmerksamkeit durch Skandale und Ausschweifungen? Welche Hebel kann man manipulativ in Bewegung setzen?

Es ist grandios, wie warmherzig Tom Rachman seine Figuren beschreibt, wie nahe er den Leser an sie heran lässt, wie miteifernd und mitfühlend man die Geschichte dadurch verfolgt. Wortgewaltig und emotionsgeladen sind die zwischenmenschlichen Konflikte, manchmal skurril und oft mit erstaunlichem Witz geschrieben. Tief berührend ist das Schicksal von Pinch, der zeitlebens um Anerkennung buhlt. Tom Rachman kann großartig schreiben und hat eine wirklich gute, anspruchsvolle, emotionsgeladene, spannende und erstaunlich moralische Geschichte zu erzählen, wenn man sich ganz darauf einlässt.

Veröffentlicht am 08.10.2018

Coming of age auf britisch

Weit weg von Verona
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In ihrem Erstling „Weit weg von Verona“ trifft die gefeierte britische Autorin Jane Gardam den Ton einer altklugen und launigen 13jährigen einfach perfekt. Skurril und aberwitzig, trocken und „very British“ ...

In ihrem Erstling „Weit weg von Verona“ trifft die gefeierte britische Autorin Jane Gardam den Ton einer altklugen und launigen 13jährigen einfach perfekt. Skurril und aberwitzig, trocken und „very British“ folgt man auf verdrehten Gedanken und Wegen der Jessica Vye in Cleveland Sands und Cleveland Spa an der nordöstlichen Küste Englands, grandios übersetzt von Isabel Bogdan.
Es ist eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Zentrum der Geschichte ist die 13jährige Jessica, die sich in der Schule langweilt und aus Prinzip immer die Wahrheit sagt. Letzteres macht sie nach eigener Einschätzung ziemlich unbeliebt. Sie lebt an der ostenglischen Küste zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, als Luftangriffe der Deutschen das Land heimsuchten. Ihr Vater, ehemals Housemaster einer Schule, verdingt sich nunmehr als Hilfsgeistlicher und schreibt philosophische Zeitungsartikel. Die Mutter ist Hausfrau, eine etwas schnoddrige, und der kleine Bruder ist die Nervensäge der Recht unkonventionellen Familie.
Jessica möchte Schriftstellerin werden, spricht gerne wie Shakespeare in Blankversen und versucht alle Klassiker der örtlichen Bibliothek zu lesen - in alphabetischer Reihenfolge.
Ermutigt wird sie von einem Schriftsteller, der an Jessicas Schule sprach als sie neun Jahre alt war, gebremst von ihrer missmutigen Englischlehrerin Miss Dobbs, die in ihren Bemühungen nur die Flausen einer Heranwachsenden sieht.
Mitten im Lesen, Schreiben, in ihrer ersten Liebe und den Luftangriffen, bei ihren alltäglichen Verrücktheiten mit Freundinnen oder mit der Familie sucht Jessica ihren Weg, erzählt schnoddrig und mäandernd von ihren Erlebnissen und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern.

Das Buch besitzt eine sprachliche Spitzfindigkeit und treibende Dynamik, die beim Lesen große Freude macht. Jane Gardams erster Roman zeigt sehr deutlich, warum sie für ihre Trilogie „Old Fith“ so gefeiert wurde. Einfach eine schöne Geschichte erzählt das Buch hier, unterhält auf höchstem Niveau und ist nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung rundum gelungen.

Veröffentlicht am 02.09.2018

Kalt und Bizarr

Die Hochhausspringerin
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Die Geschichte in einer bizarren und optimierten Welt, dystopisch und doch nicht allzu fern unserer digitalisierten Gegenwart, in der Brainhacking und Gehirnoptimierung bereits existieren, erzählt die ...

Die Geschichte in einer bizarren und optimierten Welt, dystopisch und doch nicht allzu fern unserer digitalisierten Gegenwart, in der Brainhacking und Gehirnoptimierung bereits existieren, erzählt die Autorin Julia von Lucadou in ihrem beeindruckendem Debüt „Die Hochhausspringerin“.

Totale Transparenz, Perfektionismus, Optimierung prägen das Leben der jungen Riva, eine Sportlerin und ein Star im Hochhausspringen, der ausbrechen möchte aus dem vergitterten Leben. Hitomi, eine Überwacherin weit weg von Riva, soll sie zurückholen ins perfekte gläserne Leben, dazu bewegen wieder zu trainieren und gefügig machen. Beiden Frauen droht im Falle von Hitomis Scheitern die Existenzvernichtung, der Abstieg und die Ausweisung aus dem leuchtenden Lebenszentrum in die Peripherien, ohne Bezug zur übrigen Gesellschaft, ein Leben in Schmutz, sich selbst überlassen und ohne Möglichkeit des Dienstes an der Gesellschaft.
In einer scheinbar perfekten, klinisch reinen, technisierten Gesellschaft, in der Entspannung und Ausgeglichenheit ebenso Pflicht sind wie das perfekte Funktionieren, um dienen zu können, ist das wohl das schlimmste Abseits, in das ihre Mitglieder geraten können.

Julia von Lucadou stellt auf sehr diffizile Weise die Menschlichkeit in einer perfekten Gesellschaft in Frage, unterwirft ihre Charaktere einer Prüfung, was bleibt wenn man all den Glanz, den Ruhm und die obligatorische Optimierung von Körper und Geist abkratzt. Sie wandelt dabei gekonnt auf dem schmalen Pfad von Begehrlichkeiten und Auflehnung, von verlangter Ausgeglichenheit und verhaltenem Zögern, setzt ihre Figuren existenziellen Entscheidungsfragen aus, und all das in einer glitzernden,völlig bizarren, detailliert gruseligen schönen neuen Welt a la „Big Brother“ oder „1984“.

Die Sprache fügt sich nahezu perfekt in das Geschehen ein. Knapp und kalt mit hackenden Sätzen liest sich der Roman mit zukunftsträchtigen Wortschöpfungen, die man aus dem normalen Sprachgebrauch (Gottseidank) nicht kennt.
Spannend entwickelt sich die Geschichte, mit hinreichendem Background zu den Figuren und einigen Überraschungen halte ich diesen Roman für äußerst gelungen, beängstigend, schockierend und aufrüttelnd, wenn man sich vor Augen führt, wie nahe wir schon an der hier beschriebenen optimierten Gesellschaft leben.

  • Einzelne Kategorien
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  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Atmosphäre
  • Idee
Veröffentlicht am 11.06.2018

Brandbeschleuniger

Kleine Feuer überall
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Leerstellen interessieren die Autorin Celeste Ng in ihrem neuem Werk „Kleine Feuer überall“. Zurückgelassen von Personen, die verschwinden und Lücken hinterlassen, wie in diesem Fall die Außenseiterin ...

Leerstellen interessieren die Autorin Celeste Ng in ihrem neuem Werk „Kleine Feuer überall“. Zurückgelassen von Personen, die verschwinden und Lücken hinterlassen, wie in diesem Fall die Außenseiterin Izzy, die jüngste Tochter und Teil der Vorzeigefamilie Richardson im sauber gefegten Cleveland-Vorort Shaker Heights. Oder auch die Paradiesvögel und Lebenskünstler Pearl und ihre Mutter Mia, die von Mrs Richardson aus Nächstenliebe in deren kleinem Reihenhaus eingemietet wohnen.
Der Entwurf eines Familienpsychogrammes mit tiefem Blick hinter die Kulissen der blankgeputzten und auf den ersten Blick beneidenswerten und perfekten Vorort-Familie Richardson mit auf den zweiten Blick gar nicht so glatten und glücklichen Figuren besticht durch großes Einfühlungsvermögen und zeigt zerrissene Seelen, die nach Heilung suchen.
Es ist ein ausgesprochenes Vergnügen, sich von Celeste Ng vom Weg abbringen zu lassen und ihr ins Dickicht zu folgen, wobei man das Gefühl hat, als Leser selbst nur ganz knapp dem Abgrund entkommen zu sein.

Die Geschichte beginnt mit dem Ende, nämlich dem brennenden Haus der Familie Richardson, mit einer fassungslosen Mrs Richardson auf dem Rasen, die gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter und ihrem Sohn dem Untergang ihres glanzvollen Heimes zusehen. An alle Regeln des wohlhabenden Shaker Heights hat sich Mrs Richardson ihr Leben lang gehalten, ob das Verstecken der Mülltonnen hinter dem Gebäude, den farblich passenden Anstrich des Hauses oder das Alltagsleben der Bewohner betreffend, weshalb sie und ihr Ehemann auch so gut in diese perfekte und exklusive Umgebung passen. Und dann legt ausgerechnet ihre jüngste missratene Tochter Isabel ihren schönen Lebensplan in Schutt und Asche, indem sie das Elternhaus anzündet und verschwindet - gleich zwei Lücken hinterlassend.
Der Stein kam ins Rollen mit dem Einzug der mittellosen Künstlerin Mia Warren und ihrer Tochter Pearl, an der Mrs Richardson als großmütige Vermieterin ihre Sozialkompetenz unter Beweis stellen will. Beim aufeinander Zubewegen werden die Gegensätze zwischen den beiden Familien immer deutlicher, und zum Entsetzen von Mrs Richardson, die über alles Kontrolle ausüben muss, fühlen sich ihre drei perfekten und verwöhnten Kinder zur geheimnisvollen Mia und ihrer Tochter mit ihrer unkomplizierten Lebenseinstellung hingezogen. Mrs Richardson gräbt und stößt auf Mias gut gehütetes Geheimnis und die Situation eskaliert.

Äußerst geschickt gelingt es der Autorin, die Gefühle ihrer Figuren zu transportieren, die zunächst unter einer Milchglasschicht schlummernd mit großer Kraft zutage treten. Die perfekte Familie Richardson zerbröselt unter ihren fähigen Blicken und verliert ihren arrangierten Zauberglanz, wird menschlich und wenig später abgründig. Und Mia zieht nach der Aufdeckung ihres Geheimnisses wieder als Vagabund mit ihrer Tochter weiter, wie schon so oft, mit nichts als einen mit ihren Habseligkeiten vollgestopftem Golf. Flucht wo Bleiben versprochen war.
Als Leser geht man fassungslos den Weg der Demontage beider Familien mit, hilflos und ohne Häme zeigt Celeste Ng den Abgrund schon mehrfach aus der Ferne, bevor sie ihre Charaktere allesamt hineinstürzen lässt. Bravo dafür!

In meinen Augen völlig zu recht wurde auch dieser zweite Roman der Autorin nach ihrem glanzvollen und preisgekrönten Debüt beim Erscheinen in den USA gefeiert, denn ihre Art, den Leser höchst gekonnt und wie eine Zauberin nahe an ihre Figuren heranzuführen ist außergewöhnlich fesselnd, spannend und zugleich von großer Sorgfalt und Vorsicht und Empathie für alle ihre Charaktere geprägt.