Die Schatten der Vergangenheit
Die unsterbliche Familie SalzDie unsterbliche Familie Salz erzählt die Geschichte ebendieser entlang hangelnd an der Geschichte Deutschlands von 1914 bis 2015. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Motiv der Schatten durch die ...
Die unsterbliche Familie Salz erzählt die Geschichte ebendieser entlang hangelnd an der Geschichte Deutschlands von 1914 bis 2015. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Motiv der Schatten durch die gesamte Handlung: die spätere Matriarchin der Familie, Großmutter Lola, lernt als neunjährige mit ihrem Schatten zu kommunizieren, dem sie einen Namen gibt und so den abwesenden Vater erträgt, die Krankheit der Mutter – Schattenlose fürchtet sie besonders als Männer, nach den schrecklichen Erlebnissen mit ihrer Schwester im Zweiten Weltkrieg, als sie schon erwachsen ist. Schatten erzählen ihr die Wahrheit und ohne Schatten stirbt man – ihre Ängste gibt sie nach den Schrecken der Kriegsjahre weiter an ihre Kinder, besonders an die Tochter. Und während der Schatten einerseits als Schutz wirkt, lasten doch gleichzeitig die Schatten der Vergangenheit, der eigenen und der der Vorfahren, schwer auf dem Personal des Romans. „Sie alle handelten bloß getrieben von der Furcht, allein zu sein“ S. 373
Was mich zunehmend beeindruckte an dieser Familiengeschichte, die im Wechsel aus der Sicht verschiedener Familienmitglieder geschrieben ist, ist, dass die verschiedene Sicht auch einhergeht mit einem verschiedenen Stil: so berichtet zum Beispiel Lola, die Großmutter, als Ich-Erzählerin im direkten Dialog mit dem Leser aus ihrer Kindheit bis Jugend. Auch der spätere Ehemann Alfons berichtet als Ich-Erzähler, weiß jedoch gleichzeitig alles, was seiner Frau Lola und den beiden Kindern, Kurt und Aveline „Ava“ widerfährt – die Darstellung ist unterteilt durch Ortsangaben und kurze zusammenfassende Überschriften zum Inhalt im Stil von „Wo xy passierte“, eher in Form eines persönlichen Berichts. Auf mich wirkten die Kapitel unterschiedlich bindend als Leser: Während ich dem Plauderstil der alten Frau aus ihrem Krankenbett gern folgte und auch das Gefühl hatte, gut in die Zeit hinein versetzt zu werden, fremdelte ich eher mit Alfons‘ Kapitel: zu sehr sprangen mir die Erlebnisse gerade der ersten Jahre im Zweiten Weltkrieg, wirkten auf mich wie eine bloße Aufzählung: Bombenalarm, Schließung der Theater – weiter, Einberufung, Flucht vor den Bomben, Notquartier – weiter. Die vorher aufgebaute Beziehung zu den Personen ging mir fast verloren, kam erst zum Ende des Kapitels wieder und mit dem folgenden aus der Sicht von Tochter Avelina – diesmal als Du-Erzähler (ein Ich-Erzähler, der sich selbst duzt). Das Buch schließt (nun, fast…) gar mit einem Kapitel, das als Word-Dokument gelten soll.
Die Erzählung läuft weitgehend chronologisch, bis auf das erste kurze Kapitel aus der Sicht von Emma Salz, der Enkelin, das 2015 angesiedelt ist, und die Geschichte einleitet sowie mit dem (vor-)letzten Kapitel eine Art Klammer um die Kapitel bildet. Dazu gibt es teils eine Art Vorgriff, wenn die jeweilige Perspektive auf eine zukünftige Konsequenz oder Handlung vorgreift – das geschieht weniger im Sinne eines übergeordneten allwissenden Erzählers, vielmehr wird weitestgehend der Eindruck heraufbeschworen, der jeweiligen Hauptperson des Kapitels beim Erzählen zuzuhören. Selten habe ich einen dergestalt meisterlichen Umgang schon allein mit der Form gelesen – der Inhalt steht dem mitnichten nach. Was wirklich geschehen ist, darf sich der Leser gelegentlich über die Seiten hin zusammenreimen – wenn es denn so eine einfache klare Wirklichkeit gibt, geben kann.
Autor Christopher Kloeble schafft es, die vielen Personen der verschiedenen Generationen der Familie Salz so einzuführen, dass ich sie mühelos ein- und zuordnen kann, da er ihnen jeweils einzeln Zeit und Raum lässt. Sie alle, begonnen mit der Matriarchin Lola, haben diesen bereits erwähnten besonderen Bezug zu den Schatten – als Leser erfährt man viel über familienbezogene und historisch entstandene Verantwortlichkeit und Schuld, Liebe und Abhängigkeit, Verschweigen und Verleugnen. „…wir verstehen etwas und immer mehr. Aber eigentlich haben wir nichts verstanden. Wir glauben, Zusammenhänge zu erkennen, uns zu entwickeln, besser zu sein als jemals zuvor – und tappen damit in die gefährlichste aller Fallen: Wir verwechseln Glauben mit Wissen. Wir haben vergessen, dass wir einmal wussten, dass wir nichts wussten.“ S. 409
Dieses Buch hat mich zum Nachdenken gebracht, mich verstört, verzaubert und ergriffen – und immer wieder überrascht mit einer neuen Wendung. Ich empfehle es nachhaltig, auch wenn es vielleicht zwischendurch etwas Geduld benötigt.