Profilbild von Seitenseglerin

Seitenseglerin

Lesejury Star
offline

Seitenseglerin ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Seitenseglerin über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.04.2019

Berührend, erschreckend, atemlos spannend - möglicherweise das beste Jugendbuch des Jahres!

Sadie
0

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Sadies geliebte kleine Schwester wurde ermordet – damit hat Sadie alles verloren, was ihr je etwas im Leben bedeutet hat. Nun hat sie nur noch ein Ziel: ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Sadies geliebte kleine Schwester wurde ermordet – damit hat Sadie alles verloren, was ihr je etwas im Leben bedeutet hat. Nun hat sie nur noch ein Ziel: Sie will Matties Mörder finden und sich an ihm rächen. // West McCray erhält einige Monate später einen Hilferuf von May Beth, der „Ziehgroßmutter“ der beiden Mädchen. Obwohl er zu Beginn eigentlich nicht will, willigt er schließlich ein, Sadie zu suchen. Er folgt ihrer Spur von Stadt zu Stadt und wird dabei immer tiefer in ihre düstere Vergangenheit gezogen. Wird er Sadie rechtzeitig finden? Kann er sie heil zu May Beth zurückbringen?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Beltz & Gelberg
Seitenzahl: 359
Erzählweise: True-Crime-Podcast und Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt oder getötet.

Warum dieses Buch?

Da Rot nicht gerade meine Lieblingsfarbe ist, hätte ich im Laden wohl eher einen Bogen um das Buch gemacht. Doch als so viele Leser/innen so davon geschwärmt haben und ich nur Gutes darüber gehört habe, wurde ich nach und nach immer neugieriger, bis irgendwann feststand: Ich muss dieses Buch unbedingt lesen!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Ich habe absolut problemlos in die Geschichte gefunden, konnte sofort in sie eintauchen. An die originelle Erzählweise – den Podcast – musste ich mich nicht erst gewöhnen, vielmehr habe ich von der ersten Seite an beim Lesen West McCrays Stimme in meinem Ohr gehört.

"Es ist eine Geschichte über Familie, über Schwestern und das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt. Darüber, wie weit wir gehen, um unsere Liebsten zu beschützen ... und wie hoch der Preis ist, wenn es uns nicht gelingt.
Und sie beginnt, wie so viele Geschichten, mit einem toten Mädchen." Seite 5

Schreibstil & Aufbau (♥)

„Es verschwinden ständig Mädchen.“ Seite 21

Für ihre kreative Erzählweise hat die Autorin großes Lob verdient: Kapitel, in denen Sadie selbst zu Wort kommt, wechseln sich ab mit dem transkribierten True-Crime-Podcast des Journalisten West McCray, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die verschwundene Neunzehnjährige zu finden und sie heil zurückzubringen. Dabei verfolgt West immer fieberhafter ihre Spur von Stadt zu Stadt. Immer dichter scheint er ihr auf den Fersen zu sein, immer mehr scheint er aufzuholen. Schon auf den ersten Seiten kommt dieses typische „Podcast-Feeling“ auf, was an der mündlich geprägten Sprache und den sehr lebendigen, authentisch unperfekten Dialogen liegt. Auch, wenn ich am Anfang nicht immer wusste, wer gerade im Studio ist anwesend ist, so fühlte ich mich schon bald, als würde ich tatsächlich den verschiedenen Stimmen im Radio lauschen. Diese Erzählweise ist so wunderbar erfrischend und originell, dass mir das Lesen großen Spaß gemacht hat!

An dieser Stelle noch ein Vorschlag: Als Hörbuch wäre dieses Buch sicher auch ein ganz tolles Erlebnis. Wenn es möglich wäre, sich Wests Show wirklich anzuhören, wäre das die Kirsche auf der Torte und würde die Atmosphäre noch dichter werden lassen. Auch eine Verfilmung könnte ich mir übrigens sehr gut vorstellen.

Aber die Kapitel aus Sadies Sicht sind mindestens ebenso gelungen. Auch wenn sie am Beginn etwas langatmig wirkten und ich mich erst an Sadies Stimme gewöhnen musste, fand ich sie mit jeder Seite besser. Courtney Summers schreibt zwar einfach – was der Zielgruppe gefallen wird –, aber niemals oberflächlich. Im Gegenteil, ihre Worte sind eindringlich, bewegend und intensiv und beschreiben auf einfühlsame Weise die Gefühls- und Gedankenwelt einer Jugendlichen, die sich im Ausnahmezustand befindet. Beide Teile dieser Erzählweise greifen hierbei ineinander wie Zahnräder und verbinden sich zu einer großartigen Geschichte.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Sadie und Mattie sind in einem Trailerpark aufgewachsen – als Kinder einer Drogensüchtigen und in einer Stadt ohne Perspektiven. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass diese Geschichte zum Teil auch eine Milieu-Studie ist, die das harte Leben der Unterschicht im ländlichen Amerika eindrucksvoll in all seiner deprimierenden Trostlosigkeit und Tristesse beschreibt. An diesem Ort beginnt die Geschichte. Courtney Summers ist mit diesem Roman einen mutigen Weg gegangen. Sie beschäftigt sich mit menschlichen Abgründen und sehr ernsten Themen und schafft es, diese tiefgründig, einfühlsam und für Jugendliche geeignet aufzubereiten. Trotzdem werden auch Erwachsene an der Geschichte großen Gefallen finden. Themen wie Verlust, die Sehnsucht nach Liebe, zerrüttete Familien, Drogen, Alkohol und ein Leben voller Armut und Perspektivlosigkeit behandelt die Autorin in ihrem Roman. Im Mittelpunkt stehen jedoch Pädophilie, sexueller Missbrauch, das Leid der Opfer, unverzeihliche Fehler, Schuldgefühle und Rache – Themen, die eine Herausforderung für wohl jede/n Autor/in darstellen – Courtney Summers meistert sie problemlos.

„Sadie“ verlangt seinen Leser/innen einiges ab und präsentiert ihnen eine komplexe und schmerzhafte Realität: Das Böse lauert oft dort, wo man es nicht erwarten würde, Unschuldige werden verletzt, Verbrecher kommen davon und die Hauptfigur ist eine gebrochene Frau, die einen Mord plant. „Sadie“ betet Jugendlichen nicht vor, welches Verhalten gut und welches schlecht ist, sondern spielt mit den Graubereichen zwischen richtig und falsch und lässt das Publikum selbst entscheiden.

„Sadie“ ist ein Roman, der sich mit jeder Seite mehr in mein Herz geschlichen hat, ein Roman, der mich mit jedem Satz mehr fesselte, berührte, schockierte und zum Nachdenken brachte. Auch Tage nach der Lektüre hat mich die Geschichte immer noch nicht richtig losgelassen. Wohl auch wegen des relativ offenen Endes, das mich zwar unfassbar unbefriedigt und wütend zurückgelassen hat, das aber gerade deswegen so genial ist: Courntey Summers lässt Sadies Geschichte enden, wie viele ähnliche Geschichten in der realen Welt nun einmal enden und schafft damit einen Schluss, der schockiert, bewegt und lange nachhallt. Das Buch eignet sich auch perfekt als Schullektüre – allerdings würde ich dringend empfehlen, dass es im Anschluss intensiv nachbereitet wird, um die Heranwachsenden mit ihren Gefühlen nicht allein zu lassen, um moralische Fragen zu diskutieren und deutlich zu machen, dass Selbstjustiz niemals der richtige Weg sein kann. Und um mit ihnen über Missbrauch und sexualisierte Gewalt zu sprechen und auf Hilfsangebote und Anlaufstellen zu verweisen.

„‘Menschen ändern sich nicht. Sie lernen nur, besser zu verheimlichen, wer sie wirklich sind.‘“ Seite 80

Protagonistin und Figuren (♥)

Der Verlag schreibt, dass Courtney Summers Bücher sich durch eigensinnige, kompromisslose Frauenfiguren auszeichnen – und genau so könnte Sadie beschrieben werden. Sie ist eine starke, komplexe, intelligente Heldin, die sich zwar oft härter gibt, als sie eigentlich ist, die die Leser/innen aber in selten, berührenden Momenten aber auch ihre verletzliche Seite sehen lässt. Zudem stottert sie und kann sich dadurch meist nicht so ausdrücken, wie sie möchte. Doch auch davon lässt sich Sadie nicht unterkriegen. Sie ist eine wunderbare Protagonistin, die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Auch wenn ich niemals handeln würde wie sie, konnte ich die Motive dieser trauernden, wütenden Jugendlichen, der alles genommen wurde, die nichts mehr zu verlieren hat und die gerade deshalb wie besessen an ihrem Plan festhält, den Mörder ihrer Schwester zu töten und sie damit zu rächen – auch wenn sie sich selbst dabei in große Gefahr begibt –, absolut nachvollziehen. Ihre widerstreitenden Gefühle, Ängste und Zweifel haben mich tief berührt, und die Tragik von Sadies Geschichte hat mir das Herz gebrochen.

Auch die anderen Figuren sind erstaunlich dreidimensional und liebevoll gezeichnet, obwohl die meisten Sadie nur auf einem ganz kurzen Stück ihrer Reise begleiten. Sie hat dabei das Glück, auf einige ganz tolle Menschen zu treffen. Die Figuren sind meiner Meinung nach bei einem Roman sehr wichtig – und was das betrifft, hat Courtney Summers alles richtig gemacht.

"Aber Liebe ist kompliziert, sie ist wirr. Sie kann Selbstlosigkeit hervorrufen, Egoismus, unsere größte Erfolge und unsere schlimmsten Fehler. Sie bringt uns zusammen und kann uns genauso gut auseinanderreißen." Seite 155

Spannung & Atmosphäre (♥)

Dabei schafft es die Autorin nicht nur, große Emotionen auszulösen, sondern auch atemlose, unheilvolle Spannung und eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Immer wieder hatte ich beim Lesen Gänsehaut, immer wieder konnten mich Wendungen vollkommen überraschen. Je dichter West Sadie auf den Fersen war, desto schneller habe ich gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und weil ich so gehofft habe, dass er Sadie finden und heil nach Hause bringen kann, bevor sie eine Dummheit begeht oder ihr etwas Schlimmes zustößt. Über allem liegt ein gewisser Zeitdruck: Man hat beim Lesen ständig das Gefühl, dass West die Zeit davonrennt, was einen die Seiten automatisch noch schneller umblättern lässt. Ein Treufelskreis entsteht – und ein unglaublicher Pageturner, der auch euch nicht kaltlassen wird!

Feministischer Blickwinkel (♥)

Was diesen Aspekt betrifft, gehört die Autorin mit Lob überschüttet: Sie setzt eine starke, furchtlose junge Frau ins Zentrum ihrer Geschichte, erlaubt Männern zu weinen (ohne dass sie dafür jemals verurteilt werden), adressiert LGBTQAI-Aspekte, kritisiert toxische Männlichkeit (Missbrauch, Sexismus, Gewalt gegen Frauen) und zeigt auf, wie gefährliche die Welt für junge Frauen und Kinder auch heute leider noch ist. Nirgends sind sie sicher: Nicht in fremden Autos, wenn sie trampen, nicht beim Sporttraining – nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Das stimmt übrigens: Die größte Gefahr für Frauen und Kinder geht nicht vom Fremden aus, der sie ins Auto locken will oder ihnen in einer dunklen Gasse auflauert – sondern von Freunden, Bekannten und der eigenen Familie. Danke an Courtney Summers dafür, dass sie versucht, mit diesem Buch aufzurütteln und uns zu ermahnen, ganz genau hinzusehen. Missbrauch kann nämlich jede/n treffen – auch die geliebte Nichte, den kleinen Bruder oder das eigene Kind.

Mein Fazit

„Sadie“ ist ein originell geschriebener, rundum gelungener Jugendthriller, der mich absolut begeistern konnte. Das lag unter anderem am einfachen (perfekt für die Zielgruppe geeigneten), aber unheimlich eindringlichen, einfühlsamen und intensiven Schreibstil, an der liebevollen Figurenzeichnung und an der kreativen Erzählweise, die Kapitel aus Sadies Sicht und einen True-Crime-Podcast gelungen verbindet. Mit Sadie hat die Autorin eine starke, mutige, kompromisslose und tragische Hauptfigur geschaffen, die auch ihre schwachen Momente hat, mit der ich mitfühlen und mitleiden konnte und die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Atemlose spannend, wendungsreich und atmosphärisch dicht behandelt Courtney Summers schwierige Themen wie sexuellen Missbrauch, Trauer, Schuld- und Rachegefühle tiefgründig und eindrucksvoll. Dabei gelingt es der Autorin, uns aufzurütteln und uns zu ermahnen, ganz genau hinzusehen. Missbrauch kann nämlich jede/n treffen – auch die geliebte Nichte, den kleinen Bruder oder das eigene Kind. Die Geschichte hat mich aufgewühlt, schockiert, berührt, mitgerissen und mich nach der Lektüre lange nicht losgelassen.Fazit: "Sadie" ist ein großartiges Jugendbuch, das mir das Herz gebrochen hat – möglicherweise sogar das beste des Jahres.

Empfehlung: Das Buch ist auch als Schullektüre geeignet. Im Anschluss sollte das Buch aber auf jeden Fall intensiv mit den Jugendlichen nachbesprochen werden, um sie nicht alleine mit ihren (ohne Zweifel aufgewühlten) Gefühlen zu lassen, um über Moral und Selbstjustiz zu diskutieren und um mit ihnen über Missbrauch, sexualisierte Gewalt und Hilfsangebote zu sprechen.

Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 10.03.2019

Überwältigende, bedrückende & inspirierende Biografie, die ihr euch nicht entgehen lassen solltet

Befreit
0

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Tara Westover wächst in einer Familie fundamentalistischer Mormonen auf, die weder an Bildung noch an die moderne Medizin glauben. Der paranoide Vater bereitet seine ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Tara Westover wächst in einer Familie fundamentalistischer Mormonen auf, die weder an Bildung noch an die moderne Medizin glauben. Der paranoide Vater bereitet seine Frau und Kinder jahrelang auf den Weltuntergang vor, setzt sie unglaublichen Gefahren aus und trichtert seiner Tochter immer wieder ein, wie eine „anständige“ Frau zu sein hätte. Dass es Tara Westover gelingt, aus dieser Welt auszubrechen, sich selbst genug Wissen anzueignen, um auf der Uni angenommen zu werden, und schließlich sogar zu promovieren, erscheint unglaublich. Und doch erzählt die Autorin in diesem Buch ihre wahre Lebensgeschichte…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weiblicher Sicht geschrieben (Tara Westover)
Kapitellänge: meist mittel, manchmal kurz
Tiere im Buch: -! Es werden viele Tiere ohne schlechtes Gewissen getötet, um sie zu essen, oder auch verkauft, um geschlachtet zu werden. Zusätzlich wird ein Hund auf brutale, tierquälerische Weise und vollkommen grundlos getötet. Für Tierliebhaber ist dieses Buch daher nicht ganz so einfach zu verdauen.

Warum dieses Buch?

Als angehende Lehrerin liegt mir das Thema Bildung natürlich sehr am Herzen. Daher hat mich der Klappentext sofort neugierig gemacht. In reichen Ländern wie Österreich, die ein vergleichsweise gutes Schulsystem haben, wird der Zugang zu Bildung von uns und unseren Kindern oft als selbstverständlich angesehen. Dass hier eine Frau, die hart für ihre Bildung kämpfen musste, über dieses Thema spricht und uns dabei eine vielleicht völlig neue Sichtweise präsentiert, fand ich sehr interessant. Zudem wurde das Buch 2018 von Ex-Präsident Obama als Sommerlektüre empfohlen – eine Empfehlung, die ich nicht ignorieren wollte.

Meine Meinung

Einstieg (-!)

Der Einstieg stellt meinen größten Kritikpunkt dar: Es ist mir wahnsinnig schwer gefallen, einen Zugang zur Geschichte zu finden und ganz darin einzutauchen. Über mehrere Wochen und Monate habe ich mit diesem Buch gekämpft, habe es immer wieder weggelegt und überlegt, ob ich es abbrechen soll. Erst nach 150 Seiten, durch die ich mich trotz des einnehmenden Schreibstiles quälen musste, habe ich in die Geschichte gefunden. Woran das genau lag, kann ich nicht genau beschreiben – eventuell daran, dass die Handlung am Beginn nur sehr langsam fortschreitet oder daran, dass ich mich erst an den anspruchsvollen Schreibstil gewöhnen musste. Gebt nicht vor Seite 150 auf – es lohnt sich!

„‘Was ist College?‘, fragte ich.
‚College ist eine extra Schule für Leute, die zu dumm waren, es beim ersten Mal zu lernen“, sagte Dad.“ Seite 70

Schreibstil (♥)

Tara Westover hat einen anspruchsvollen Schreibstil, dieses Buch kann also auf keinen Fall nebenbei gelesen werden. Es dauerte etwas, bis ich mich an die Sprache gewöhnt hatte, doch dann habe ich sie lieben gelernt. Die Autorin schreibt sehr flüssig und angenehm, anschaulich, poetisch und ästhetisch. Kaum zu glauben, dass es sich hier um ein Debüt handelt! Gefühle werden nuanciert und mitreißend geschildert, auch spannende Passagen werden gekonnt inszeniert. Nur selten (vor allem am Beginn) gab es langatmige Abschnitte, die es mir etwas erschwert haben, mich zu motivieren, weiterzulesen. Liebhaber_innen von qualitativ hochwertiger Literatur werden diesen Stil lieben. Mit einer eindringlichen Erzählstimme und absolut wunderbaren Beschreibungen, Vergleichen, Metaphern und sprachlichen Bildern nimmt uns Tara Westover mit auf eine Reise, die ganz und gar unglaublich erscheint und die mich auch lange nach dem Lesen nicht losgelassen hat.

„Manchmal gibt es das in einer Familie: ein Kind, das nicht hineinpasst, das aus dem Rhythmus ist, dessen Metrum auf die falsche Melodie eingestellt ist. In unserer Familie war das Tyler.“ Seite 72

Inhalt, Themen & Botschaften (♥)

Was für ein Buch! Das waren die ersten Worte, die mir durch den Kopf gingen, als ich dieses Werk zuschlug. Tara Westovers Geschichte erscheint unwirklich, unglaublich: Es passiert so viel – Schönes, aber vor allem auch Schreckliches – , dass man im ersten Moment gar nicht glauben kann, dass es sich hier um eine Biographie mit Wahrheitsanspruch handeln soll und nicht um überdrehte Fiktion. Dabei war das Buch für mich stellenweise sehr schwer zu verdauen, vor allem was die Rückschläge, die Tara wiederfuhren, die intensiven Schilderungen der Gewalt in ihrer Kindheit und die schädlichen Frauen- und Männerbilder, die ihr so tief eingeimpft wurden, dass sie sich auch lange als Erwachsene, erfolgreiche Akademikerin nicht davon befreien konnte, betrifft. Auch heute scheint die Autorin noch mit ihrer Abstammung und Vergangenheit zu kämpfen, das Thema scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Auf jeden Fall wünsche ich der Autorin alles Gute und dass sie ihren Frieden findet.

Tara Westovers Geschichte macht wütend, ist überwältigend, berührend und schockierend, und sie führt dazu, dass man seine eigenen Bildungserfahrungen in einem ganz anderen Licht sieht. Die Hindernisse, denen ich auf meinem eigenen Bildungsweg als erstes Kind einer Arbeiterfamilie, das studiert, begegnete, erscheinen geradezu lächerlich und marginal, wenn man sie mit Taras Kampf um Bildung, Selbstbestimmung und Freiheit vergleicht. Ohne Frage ist sie eine beeindruckende Frau, die Unglaubliches geleistet hat.

Gewidmet ist das Buch Tyler, Taras älterem Bruder, der ihr ein wichtiges Vorbild war und sie immer unterstützt hat. Er wirkt tatsächlich wie ein Lichtblick in einer Welt, die als Außenstehende für mich absolut unwirklich erschien. Die Autorin schreckt vor den hässlichen Seiten ihres Lebens nicht zurück und beschreibt detailliert die schrecklichen Verletzungen, die ihre Familienmitglieder und sie selbst immer wieder erleiden und die nicht ärztlich behandelt werden. Für empfindliche Mägen ist das Buch daher mit Sicherheit nicht gut geeignet. Wichtige, aber schwierige Themen wie Unterdrückung, psychische Krankheiten, häusliche Gewalt, Fanatismus, die Loslösung von der eigenen Famlilie und Minderwertigkeitskomplexe werden ebenfalls nicht ausgeklammert, sondern ehrlich, feinfühlig, authentisch und tiefgründig behandelt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für die Autorin schmerzhaft war, in ihren alten Tagebüchern zu lesen und dieses Buch zu verfassen. Doch es hat sich meiner Meinung nach gelohnt: Die vorliegende Geschichte ist einzigartig und inspirierend und ist es definitiv wert, gelesen zu werden.

Protagonistin und Figuren (♥)

„Es mag noch so klar sein, dass man einen Nervenzusammenbruch hat, nur einem selbst ist es nicht klar. ‚Mir geht’s doch gut‘, denkt man. ‚Vierundzwanzig Stunden nonstop ferngesehen gestern, na und? Ich bin nicht am Ende. Ich bin bloß faul‘.“ Seite 414

Es ist sehr leicht, mit Tara mitzufühlen. Mit jeder gelesenen Seite schließt man diese starke, niemals arrogante weibliche Protagonistin mehr ins Herz, will sie umarmen, trösten, schlicht aus dieser Familiensituation „retten“. Taras intensive Gefühle und ihre lebendige Gedankenwelt werden sehr anschaulich beschrieben, sodass es einfach war, ihre Handlungen, Ängste und Zweifel zu verstehen und ein Genuss, sie auf ihrer Reise zu begleiten.

Auch die anderen Figuren wirken lebendig und dreidimensional. Großen Respekt hat die Autorin dafür verdient, dass sie nach allem, was ihr vor allem von ihrem Bruder und ihren Eltern angetan wurde, auch die positiven Seiten ihrer Verwandten schildern und mit einem erstaunlich liebevollen Blick auf sie blicken konnte. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen wäre – wahrscheinlich nicht. Es wäre einfach gewesen, sie als böse Menschen darzustellen und sich damit die Wut von der Seele zu schreiben, doch Tara ist es gelungen, genau das nicht zu tun und ihre Familienmitglieder so ehrlich und authentisch wie möglich zu beschreiben. Das Ergebnis sind real wirkende Menschen, mit einnehmenden guten und erschreckenden negativen Seiten, die in den Graubereichen zwischen „gut“ und „böse“ zu Hause sind. Dankbar war ich beim Lesen jedem, der Tara in irgendeiner Weise geholfen hat und es gut mit ihr gemeint hat. Aus diesem Grunde gehörten Charles und Tyler zu meinen Lieblingsfiguren.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Befreit“ gelingt es leider nicht durchgehend, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Vor allem am Beginn gibt es langatmige Stellen und Spannungseinbrüche. Nach dem ersten Drittel des Buches entwickelte das Buch jedoch einen regelrechten Sog, dem ich nur schwer entfliehen konnte. Ich wollte Tara unbedingt bis zum sehr gelungenen, lange nachklingenden Ende begleiten, auch wenn bei diesem trotz der großen Leistungen der Autorin ein seltsam unbefriedigender, ernüchternder und bedrückender Unterton mitzuschwingen scheint.

„Doch Rechtfertigung hat keine Macht über Schuldgefühle. Keine noch so große gegen andere gerichtete Wut kann sie lindern, weil die Schuldgefühle nie ‚sie‘ betreffen. Sie sind die Angst vor der eigenen Erbärmlichkeit.“ Seite 440

Feministischer Blickwinkel (♥)

Es gibt zwar viele frauenfeindliche Ansichten in diesem Buch (und frauenfeindliche Ausdrücke wie z. B. Hu++), doch stets werden die negativen, schmerzhaften und schädlichen Konsequenzen von toxischer Männlichkeit dargestellt. Man merkt, was dieses Gedankengut anrichten kann und kann das Buch daher als Kritik an veralteten, misogynen Frauenbildern und religiösem Fanatismus lesen. Zudem steht eine unglaublich starke, tolle Frau im Zentrum dieser Geschichte, die als Inspiration und Vorbild dienen kann, weil sie niemals aufgegeben hat und trotz aller Widerstände ihren Weg gegangen ist – auch wenn das sehr schwer war und es sicherlich auch immer noch ist. Dafür gibt es ein Herz.

Mein Fazit

„Befreit“ ist eine unglaubliche, überwältigende, berührende, bedrückende und schockierende Geschichte, die einem oft schwer im Magen liegt und die einen nach dem Lesen nicht so schnell wieder loslässt. Es lohnt sich, durchzuhalten, auch wenn man (wie ich) nicht sofort einen Zugang zur Geschichte findet. Taras Westovers Schreibstil ist anspruchsvoll, aber trotzdem flüssig, er ist poetisch, eindringlich und voller wundervoller Vergleiche und sprachlicher Bilder. Die starke weibliche Protagonistin ist eine beeindruckende, sympathische Persönlichkeit, die einem mit jedem Kapitel mehr ans Herz wächst und mit der ich intensiv mitgefühlt und mitgelitten habe. Großen Respekt hat die Autorin dafür verdient, dass sie es schafft, ihre Familienmitglieder authentisch und mit all ihren guten und schlechten Seiten darzustellen (trotz allem, was ihr angetan wurde) und dafür, dass sie auch schwierige Themen wie Fanatismus, psychische Krankheiten, Misogynie, die Loslösung von der eigenen Familie und physische und psychische Gewalt ehrlich, feinfühlig und tiefgehend behandelt. Auch wenn es vor allem im ersten Drittel des Buches Spannungseinbrüche und langatmige Stellen gibt, so ist das Kritik auf hohem Niveau. „Befreit“ ist nämlich insgesamt eine rundum gelungene Biographie und eine beeindruckende, inspirierende Lebensgeschichte, die beim Lesen etwas mit einem macht und einen in gewisser Weise verändert zurücklässt. Deshalb: Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses gelungene Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 24.12.2018

Herzerwärmende Gutenachtgeschichte, die garantiert für süße Träume sorgt

Der Sternenmann
0

Inhalt

Der Sternenmann lebt auf einem kleinen Planeten, der ganz weit von der Erde entfernt ist. Jeden Abend verteilt er die Sterne am Himmel, damit sie in der Nacht für uns leuchten. Doch eines Tages ...

Inhalt

Der Sternenmann lebt auf einem kleinen Planeten, der ganz weit von der Erde entfernt ist. Jeden Abend verteilt er die Sterne am Himmel, damit sie in der Nacht für uns leuchten. Doch eines Tages muss der Sternenmann mit Schrecken feststellen, dass sein kleinster Stern fehlt. Wo ist er nur? Der Sternenmann macht sich mit seinen zwei Schafen und mit seinem Hund auf eine abenteuerliche Reise durch die Galaxie, um das verlorene Sternchen zu finden…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler / auktorialer Erzähler, Präsens
Perspektive: aus männlicher Perspektive
Tiere im Buch: + Es werden im Buch keine Tiere verletzt.

Warum dieses Buch?

Titel, Cover und Klappentext klangen einfach so süß, dass ich dieses Buch unbedingt lesen musste. Natürlich wieder als Vorbereitung für die zukünftigen Patenkinder, Nichten, Neffen und Co in meinem Leben. Allerdings muss ich auch zugeben, dass ich selbst immer mehr Gefallen an Kinderbüchern finde.

Meine Meinung

Geschichte (♥)

Die kindgerechte, spannende Geschichte konnte mich überzeugen und verzaubern. Auch die kleinen LeserInnen werden vom Sternenmann und seinen Abenteuern im Weltraum in den Bann gezogen werden! Man merkt, dass der Autor viel Herzblut in diese herzerwärmende Geschichte gesteckt hat, die unseren Kindern vor allem eine Botschaft mit auf den Weg geben möchte: Wir alle sind verschieden, einzigartig und besonders, und gerade das ist so wunderbar! Und auch der kleinste Stern wird von vielen Menschen dafür geliebt, wie er ist. Am Ende hätte ich den kleinen Stern gerne noch stolz vom Himmel strahlen gesehen, aber das sind Wünsche auf hohem Niveau. Max von Thun ist jedenfalls ein vielversprechender neuer Stern am Kinderbuch-Himmel, auf dessen nächstes Werk ich mich schon sehr freue!

„Auf einem winzig kleinen Planeten, in einer weit entfernten Galaxie, steht das Häuschen vom Sternenmann.“ E-Book, Seite 6

Schreibstil (+)

Auch am Schreibstil kann ich überhaupt nichts aussetzen. Er ist kindgerecht und einfach, dabei aber niemals lieblos, sondern – im Gegenteil – man merkt, wie liebevoll der Autor die Geschichte ausgearbeitet hat. Dass Max von Thun das Buch für seinen kleinen Sohn (ein ganz besonderes Zielpublikum!) geschrieben hat, merkt man jeder entzückenden Zeile an. Auf zu schwierige Wörter wird verzichtet, wodurch Kinder von 3-6 Jahren (die hin und wieder auch direkt angesprochen werden) keine Probleme haben dürften, den Text problem zu verstehen.

Figuren (♥)

Der Sternenmann (der eigentlich eher wie ein Junge wirkt, wodurch sich Kinder einfacher mit ihm identifizieren können) und seine drei Gefährten (ein Hund und zwei Schafe), die bisweilen durchaus eher menschliche Verhaltensweisen an den Tag legen, haben mich von Beginn an begeistert. Auch die Nebenfiguren (wie der Sandmann oder die Astronautin) sind gut gelungen und für ihre kurzen Rollen angemessen ausgearbeitet. Durch kleine Details wie die Sprechweise werden die Figuren charakterisiert.

Lied (♥)

Wie schon bei den „Die kleine Hummel Bommel“-Büchern ist auch hier wieder ein passender Song enthalten – ein Konzept, das mir sehr gut gefällt. So können die kleinen LeserInnen die Geschichte auch musikalisch erleben und somit tiefgehender verarbeiten. Das Lied kann übrigens gratis auf der Verlagsseite abgespielt werden – und das empfehle ich auch unbedingt! Es bildet den krönenden Abschluss dieser beruhigenden Gutenachtgeschichte, lädt durch die tiefe, ruhige Stimme, die kindgerechten Lyrics und die niedlich verzierte Melodie zum Entspannen und Schlummern ein und sorgt garantiert für süße Träume.

Illustrationen (+)

Die Illustrationen gefallen mir auch wirklich gut. Auch wenn der Hintergrund etwas gleichförmig und uninspiriert wirkt (einiges wird recycelt), so laden zahlreiche, niedliche Details dazu ein, die Bilder etwas länger und genauer zu betrachten. Nach dem Lesen hatte sogar ich als Erwachsene ein richtig warmes, schläfriges Gefühl im Bauch und war richtiggehend bettschwer.

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (+)

Der Mondmann hat dunkle Haut, hier hat der Autor also darauf geachtet, Vielfältigkeit in seinem Buch zu zeigen. Und auch wenn durchaus noch eine zusätzliche Nebenfigur weiblich sein hätte dürfen (auch z. B. eine Mondfrau wäre schließlich möglich gewesen), so bin ich insgesamt doch sehr zufrieden mit diesem Buch. Dass sich der Autor entschieden hat, die mächtige Sonne als Frau darzustellen und eine Astronautin durch das Weltall reisen zu lassen, hat mir sehr gut gefallen. So wird in diesem modernen Buch mit Rollenstereotypen gebrochen und Mädchen erhalten hier ein Vorbild, dem sie nacheifern können. Aus diesem Grunde empfehle ich das Kinderbuch auch ohne Bedenken und sehr gerne an Mädchen und Jungen weiter.

Mein Fazit

Mit dem „Sternenmann“ hat Max von Thun eine herzerwärmende Gutenachtgeschichte mit wichtiger Botschaft geschaffen, die nach dem Lesen ein wohlig warmes, schläfriges Gefühl im Bauch hinterlässt und auch die Kleinsten verzaubern wird. Die Sprache ist einfach und kindgerecht, die Illustrationen stecken voller Details, die entdeckt werden wollen, und die Figuren sind liebevoll ausgearbeitet. Die Geschichte feiert das Anderssein und zeigt, dass jeder auf seine Weise etwas ganz Besonderes ist und dafür geliebt wird. Der zugehörige, beruhigende, entzückende Song, der auf der Verlagsseite angehört werden kann, bildet den krönenden Abschluss dieses rundum gelungenen Kinderbuches, lädt zum Entspannen und Einschlummern ein und sorgt garantiert für süße Träume.

Max von Thun ist ein vielversprechender neuer Stern am Kinderbuch-Himmel, auf dessen nächstes Werk ich mich schon sehr freue!

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Geschichte: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne
Personen: 4 Sterne
Hauptperson: 5 Sterne ♥
Illustrationen: 4 Sterne
Vielfältigkeit: +
Rollenbilder: +

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch erhält von mir fünf rundum zufriedene Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 23.12.2018

Kleiner, unerwartet intensiver Roman voller moralischer Konflikte, der auf ganzer Linie überzeugt

Die Polizisten
0

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Eines heißen Sommertages meldet sich Virginie freiwillig für einen Sondereinsatz, da sie froh ist, wenn sie von ihren privaten Problemen abgelenkt wird. Die Polizistin ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Eines heißen Sommertages meldet sich Virginie freiwillig für einen Sondereinsatz, da sie froh ist, wenn sie von ihren privaten Problemen abgelenkt wird. Die Polizistin und ihre zwei Kollegen, Érik und Aristide, machen sich auf den Weg, um einen Flüchtling, dessen Asylantrag negativ beurteilt wurde, zum Flughafen zu bringen, wo er dann in seine Heimat zurückgebracht werden soll. In einem Anflug von Neugier und Rebellion öffnet Virginie auf der Fahrt das Kuvert mit den Informationen über den Mann – schnell wird klar, dass bei der Beurteilung nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein kann und dass eine Rückkehr nach Tadschikistan den sicheren Tod für den Flüchtling bedeuten würde. Die Autofahrt wird immer mehr zu einem Gewissenskonflikt, der die drei Beamten auf eine harte moralische Probe stellt...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Ullstein Buchverlage
Seitenzahl: 192
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: wechselnde Perspektiven, aus weiblicher und männlicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet.

Warum dieses Buch?

Cover und Klappentext haben mich sofort neugierig gemacht, ebenso das hochaktuelle Thema. Dieser Satz auf der Buchrückseite hat mich dann endgültig überzeugt: „Ein packend erzählter Roman, der einem ungelösten gesellschaftlichen Konflikt ein menschliches Gesicht gibt.“

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg war sehr angenehm und ist mir problemlos gelungen. Sofort fühlte ich mit der Hauptfigur, Virginie, mit und wollte wissen, wie es ihr weiterhin ergeht.

„Für einen gerade annehmbaren Lohn hat sie in den Rotlichtvierteln ihre Seelenruhe eingebüßt, nichts erstaunt sie mehr, sie weiß alles über die trostlostesten Seiten des Daseins, und immer fragt sie sich, wieso ihre Augen nicht schmutzig werden, fassungslos, dass sich nicht der kleinste Widerschein von all diesem Elend in ihnen findet.“ E-Book, Position 91

Schreibstil (♥)

Hugo Boris konnte mich mit seinem Schreibstil schon auf den ersten Seiten begeistern. Der Autor beschreibt viele traurige, ungerechte Dinge sehr nüchtern und unvoreingenommen, trotzdem hat mich das Buch emotional berührt und mitgerissen. Vielleicht wirken manche Vorfälle gerade aufgrund der sachlichen Erzählweise so schockierend und machen so wütend. Die Sprache ist durchaus anspruchsvoll: Lange Sätze, viele Hypotaxen und wunderbar treffende Vergleiche und Beobachtungen kennzeichnen den Schreibstil, auch Spuren von Humor lassen sich gelegentlich finden. Trotzdem lässt sich das Buch sehr angenehm und flüssig lesen – anschauliche Beschreibungen und die nuancierte Schilderung des Innenlebens der Figuren machten für mich die Lektüre zum Genuss.

„Sie wirkt nicht abgespannt, hat keine dicken Tränensäcke, ihr Gesicht ist spitz wie eh und je, da ist nur das ganz leichte Schielen, es wird stärker, wenn sie müde ist, weswegen man sie nicht hübsch, sondern apart findet, dieser widerspenstige Blick macht ihren Charme aus.“ E-Book, Position 77

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Mit seinen nicht ganz 200 Seiten ist „Die Polizisten“ ein relativ kurzer Roman. Von der Länge sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen, da das Buch unerwartet intensiv ist. Die Autofahrt nach Roissy, während der jeder der Beamten mit seinen eigenen Dämonen, Wünschen, Prinzipien und Moralvorstellungen kämpft, inszeniert der Autor als eindringliches, tiefgründiges Kammerspiel, das meiner Meinung nach unglaublich gut gelungen ist. Die Beschränkung auf wenige Figuren und die Enge im Wagen schaffen eine einmalige Atmosphäre und eine subtile Anspannung, die dazu führt, dass man ständig regelrecht mitfiebert, was als nächstes passieren wird. Jedes Wort der Charaktere, jeden Blick und jede Geste habe ich analysiert und gebangt, ob es ein Happy End geben wird – und wenn ja, für wen. Da jede Entscheidung lebensverändernde Konsequenzen mit sich ziehen würde und es folglich keine „einfache“ Lösung gibt, hadert man auch als Leserin mit dem Gewissen, weil man gleichzeitig die Beamten in Herz schließt und den Flüchtling in Sicherheit wissen will.

Für diesen Roman hat Hugo Boris monatelang Polizisten bei der Arbeit begleitet, und diese Erfahrung verleiht der Geschichte viel Authentizität. Unaufgeregt wird von den großen und kleinen Dramen erzählt, die den Alltag als Polizistin oder Polizist prägen. Wie belastend dieser Beruf, für den die Beamten oftmals nur wenig Anerkennung erhalten, sein kann, wird dann deutlich, wenn die Polizisten im Buch sich an ihre schlimmsten Fälle erinnern. Viele der Anekdoten entstammen dem wahren Leben. Nachdenklich macht auch die Tatsache, dass die Polizei in Frankreich der Berufsstand mit der höchsten Selbstmordrate ist.

Der Autor hat wenige, aber wichtige und hochaktuelle Themen wie Abschiebung, Abtreibung, Verantwortung und moralisch richtiges Verhalten ausgewählt und behandelt diese trotz der Kürze des Buches mit der nötigen Tiefe und Sensibilität. Die Beamten müssen schwierige Entscheidungen treffen und lernen ebenso wie die LeserInnen, dass beim Prüfen der Asylanträge gravierende Fehler passieren können, dass sich Menschen nicht so viel Mühe geben, wie sie es sollten, und dass dieses Thema wesentlich komplexer ist, als es häufig scheint. Auch wenn ich persönlich die Handlungsweisen der Figuren nicht immer hundertprozentig nachvollziehen konnte (ich selbst hätte in manchen Situationen nachdrücklicher nachgeholfen) und auch wenn mir das Ende nicht alle Wünsche erfüllt hat, so habe ich Érik, Aristide und Virginie sehr gerne auf ihrer Reise begleitet. Übrigens sei euch das Online-Interview von „Jetzt“ mit dem Autor wärmstens ans Herz gelegt: Hier zeichnet der Autor ein Bild der aktuellen Lage der Polizei in Frankreich und spricht auch darüber, warum er das Buch geschrieben hat. Übrigens ist ein Kinofilm bereits in Vorbereitung – ich freue mich darauf!

„Man hat die Drecksarbeit unterbezahlten Angestellten irgendwelcher Behörden überlassen, die damit klarklommen müssen. Die Verantwortung verteilt sich auf die Polizeipräfektur, die Wärter, das Begleitpersonal, die Grenzpolizei, die Piloten, die Hostessen und Stewards, damit jeder bequem denken kann: Ich war’s nicht, die anderen haben’s getan.“ E-Book, Position 954

Figuren (♥)

Die Hauptfiguren (Nebenfiguren spielen im Roman nur eine sehr untergeordnete Rolle) werden oft direkt charakterisiert und konnten mich durchgehend überzeugen, vor allem Virginie und Aristide fand ich wunderbar komplex und liebevoll gezeichnet. Ihre Gewissenskonflikte, Probleme, Ängste und Zweifel werden sehr intensiv und glaubwürdig dargestellt. Ich mochte beide auf Anhieb und habe sie mit jeder Seite mehr ins Herz geschlossen. Besonders gefallen hat mir auch, dass sich der Autor entschieden hat, eine starke, mutige Frau zur Heldin seines Buches zu machen. Das Erzählen aus ihrer Perspektive gelingt ihm sehr gut.

„Sie sah ihn an, wie man in einen Abgrund blickt, der einen unwiderstehlich anzieht.“ E-Book, Position 301

Spannung & Atmosphäre (♥)

Irgendwie habe ich damit gerechnet, dass das Buch belehren würde und dass es dabei vielleicht ein bisschen langatmig sein würde. Womit ich nicht gerechnet habe, war die durchgehende (An)Spannung, die sich durch die komplette Geschichte zieht. Ich habe mit den Figuren mitgefiebert, gebangt und gehofft, habe beim Lesen viel nachgedacht und ständig selbst mit meinem Gewissen gekämpft. Die Atmosphäre im Buch ist dicht und intensiv, ich möchte diese Lektüreerfahrung daher keinesfalls missen.

„Morgens beim Anziehen wählt er sein Unterhose mit dem Gedanken aus, dass er, sollte er heute dran glauben müssen, im Leichenschauhaus, auf dem Obduktionstisch eine gute Figur machen möchte. Es ist nur ein kurzes Aufflackern, aber er denkt daran. Er entscheidet sich für die Unterhose, in der er sich vor dem Gerichtsmediziner nicht zu schämen braucht.“ E-Book, Position 981

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (+)

Es gibt zwar zwei Szenen, in denen sich frauenfeindliche Sprache finden lässt (man merkt wieder einmal, dass manchen Männern in Ausnahmesituationen schnell Worte wie „kleine Schla+++“ herausrutschen, wenn Frauen nicht das tun, was sie wollen), jedoch fällt mein Urteil hier sehr milde aus. Es gibt es starke, mutige weibliche Heldin, immer wieder werden Rollenstereotype gebrochen. Ich bin insgesamt zufrieden.

Mein Fazit

Mit seinem Roman „Die Polizisten“ hat Hugo Boris ein unerwartet eindringliches, intensives Kammerspiel geschaffen, das mich absolut überzeugen konnte. Der Schreibstil ist anspruchsvoll und nüchtern, gleichzeitig aber auch sehr angenehm und anschaulich, die Geschichte nimmt einen emotional mit und lässt einen nicht kalt. Es war ein Genuss für mich, diese komplexen, liebevoll gezeichneten Figuren auf ihrer Reise voller Gewissenskonflikte zu begleiten und mit ihnen mitzufiebern, dabei über ihre Entscheidungen nachzudenken und mit meinen eigenen moralischen Prinzipien zu hadern. Der Autor beschreibt das Innenleben und die Gefühle der Charaktere nuanciert und eindrücklich und behandelt hochaktuelle Themen wie Abschiebung, Abtreibung und generell moralisch schwierige Entscheidungen mit angemessener Tiefe. Wer sich nicht nur berieseln lassen möchte, sondern bereit ist, sich auf eine Reise voller (An)Spannung und moralischer Konflikte einzulassen, dem sei dieser kleine, aber unerwartet feine Roman wärmstens ans Herz gelegt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonisten: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 31.10.2018

Rundum gelungene Fortsetzung: überzeugende Figuren, atemlose Spannung & Tiefe

Rache der Orphans
0

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Evan Smoak ist als der „Nowherre Man“ bekannt. Er hilft Menschen, die in großen Schwierigkeiten stecken und geht dabei nach einem strengen Moralkodex vor. Doch das war ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Evan Smoak ist als der „Nowherre Man“ bekannt. Er hilft Menschen, die in großen Schwierigkeiten stecken und geht dabei nach einem strengen Moralkodex vor. Doch das war nicht immer so – früher war Evan ein Auftragskiller der Regierung – dieselben Auftraggeber wollen ihn und das gefährlich Wissen, das er besitzt, nun auslöschen. Dabei machen sie auch nicht vor jenen Menschen halt, die Evan die Welt bedeuten. Als Jack, sein Ziehvater und Ausbilder, von seinen Feinden getötet wird, zählt für Evan nur noch ein Gedanke: Rache, denn dieses Mal ist es persönlich. Vor seinem Tod gelingt es Jack jedoch noch, Evan eine mysteriöse Nachricht zu hinterlassen: Er soll ein Paket abholen. Eine Mission, die ganz anders verlaufen wird, als der erfahrene Killer denkt, und die sein Leben auf den Kopf stellen wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #3 der Orphan-Reihe
Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 464
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus männlicher Perspektive (Evan Smoak), manchmal auch weibliche Perspektive, wechselnde Perspektiven
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: - Eine Ente wird als Köder benutzt und im Anschluss kaltblütig erschossen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt oder getötet. Unangebracht fand ich den Vergleich des Geräusches, das die Bremsscheiben eines Autos machen, mit dem Geräusch, das ein Huhn macht, wenn man ihm den Hals umdreht. Es sollte wohl lustig sein, aber das ging daneben, da ich Gewalt gegen Tiere absolut nicht witzig finde.

Warum dieses Buch?

Da mich der erste Band damals vollkommen begeistern konnte und bis heute einer meiner absoluten Lieblingsthriller ist, begleite ich Evan Smoak nun schon seit einigen Jahren auf seinem Weg. Der Protagonist ist einmalig, nicht nur gnadenlos effektiv und gefährlich, sondern ebenso gnadenlos sympathisch. Daher führte an diesem dritten Band natürlich kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Wie immer ist mir der Einstieg wieder sehr leicht gelungen. Sofort war ich wieder in Evans Welt, es ist mittlerweile ein bisschen so wie heimkommen – ein Gefühl, dass bei mir nur beim Lesen absoluter Lieblingsreihen aufkommt. Der spannende Prolog, in dem Evan verletzt am Steuer sitzt, von der Polizei verfolgt wird und besorgt an die Person denkt, die laut im Kofferraum gegen die Wand hämmert, macht sofort neugierig, denn natürlich will man wissen, wie Evan in diese Lage geraten konnte.

„Evan seufzte.
Jetzt hatten sich hinter ihm drei Streifenwagen mit voller Weihnachtsbeleuchtung und heulenden Sirenen auf beide Fahrbahnen verteilt und kamen immer näher.
Genau in diese Moment wurde auch das Hämmern aus dem Kofferraum lauter.“ E-Book, Position 38

Schreibstil (♥)

Auch dieses Mal gibt es am Schreibstil wieder nichts auszusetzen. Erneut schreibt Gregg Hurwitz einfach (dabei aber nicht oberflächlich), flüssig, angenehm – routiniert erzeugt er mit seinen Worten atemlose Spannung und beschreibt nuancierte Gefühle sehr intensiv, so dass man als LeserIn wieder stark emotional involviert ist. Evan Smoak lässt seine LeserInnen auch in diesem Band nicht kalt. Auch Spuren von Humor lassen sich im Buch finden. Die Erzählweise ist wieder sehr filmisch, schnell, temporeich – manche Szenenübergänge wirken wie Schnitte, das Kopfkino leuchtet in allen Farben auf und man kann die Verfilmung des Buches schon fast vor sich sehen. Man merkt definitiv, dass der Autor auch Drehbücher schreibt. (Übrigens soll die Reihe nun als Serie verfilmt werden – Vorfreude!)

„Trotz der großzügigen Dimensionen seiner Wohnung bekam Evan keine Luft mehr. Er spürte einen wilden Schmerz in seiner Brust, etwas, das er nicht einordnen konnte. Angst?“ E-Book, Position 70

Wie blutig schreibt Gregg Hurwitz?

Auch in diesem Band wird es mitunter wieder sehr blutig und brutal. Evan lässt seinen Rachegelüsten freien Lauf und zeigt nur wenig Mitleid mit seinen Feinden, die er gerne auch mal leiden lässt, bevor er sie endlich erlöst. Mir erschien Evan in diesem Band viel brutaler, gewissenloser, kälter und vielleicht sogar ein bisschen weniger liebenswürdig (den Ton Joey gegenüber fand ich teilweise unangebracht und zu schroff) als in den letzten Bänden – eine Veränderung, die mir zwar nicht wirklich gefallen hat, die jedoch aber auch irgendwie verständlich und nachvollziehbar ist (er trauert immerhin und ist wütend, macht eine schwierige Phase durch).

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Auch dieses Mal gelingt es dem Autor wieder, einen wendungsreichen, unvorhersehbaren Plot mit klassischen Thrillerelementen und ernsten Themen zu verbinden und dabei in die Tiefe zu gehen. „Rache der Orphans“ bietet nicht nur actionreiche Verfolgungsjagden und Kampfszenen, sondern ebenso wieder stille und intensive Momente, in denen Evan seine sensible Seite, sein Mitgefühl und seine Trauer zeigen darf. Erneut spielen Themen wie Kindheit, Pflichten, Opfer, die man bringen muss, die Frage, was ein glückliches Leben, was Stärke ausmacht, Verantwortung, Trauer, Rache, moralisches Handeln und Familie wieder eine wichtige Rolle. Teilweise nimmt Evan in diesem Buch erstmals die Rolle eines Vaters ein – neues Terrain für den eigentlich distanzierten Einzelgänger. Der Showdown am Ende macht neugierig auf die Fortsetzung und kann wieder mit einigen unerwarteten Wendungen und gelungenen Momenten aufwarten – Gregg Hurwirtz hat erneut ein Buch geschrieben, das das Label „Thriller“ verdient.

Etwas negativ aufgefallen ist mir erstmals das übertriebene Product Placement im Buch. Wahrscheinlich gab es das auch schon in den Vorgängerbänden, dieses Mal wurde aber meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Meiner Meinung nach hätte man nicht von jedem Wasserhahn-, Mikroskop- und Tintenrollerhersteller den Namen nennen müssen, aber bitte. Weil es sich hier um ein Buch für Erwachsene handelt, die dies kritisch evaluieren können, sehe ich diesen Punkt nicht wirklich als problematisch, finde ihn nur etwas anstrengend manchmal.

Protagonist & Figuren (♥)

Auch wenn der Protagonist dieses Mal auch Seiten von sich gezeigt hat, die mir nicht wirklich gefallen haben (Rachegelüste, Grausamkeit, Gewissenlosigkeit, kein Mitgefühl bei seinen Feinden), so ist die Figurenentwicklung doch wieder eine der größten Stärken des ganzen Buches. Evan entwickelt sich weiter, hadert immer noch mit seinem Schicksal, verzaubert immer noch mit Szenen voller Mitgefühl und beweist erneut viel Herz. Gregg Hurwitz baut bekannte Figuren weiter aus, lässt sie gänzlich neue (und teilweise wunderbar überraschende) Facetten von sich zeigen, verleiht ihnen mehr Tiefe und Glaubwürdigkeit. Aber auch neue Charaktere werden eingeführt, auch sie sind liebevoll ausgearbeitet und können wieder vollkommen überzeugen. Von diesem Schriftsteller können sich einige andere AutorInnen eine dicke Scheibe abschneiden, denn ausgezeichnet kann ein Thriller nur sein, wenn er Spannung, Tiefe und dreidimensionale Figuren vereint. Gregg Hurwitz zeigt auch dieses Mal wieder, wie das geht.

„Er lag da und starrte an die wasserfleckige Karte an der Decke, auf der die ganze Welt in all ihrer Düsternis und Vielschichtigkeit abgebildet schien.“ E-Book, Position 1467

Spannung & Atmosphäre (+)

Auch wenn die Spannung nicht durchgehend atemlos ist (auch ruhigere Momente stehen im Fokus), so konnte mich der Autor dennoch mit vielen unerwarteten Wendungen, einem interessanten Plot und vielen actionreichen, spannenden Momenten überzeugen. Es machte wieder Spaß, Evan auf seinem Weg zu begleiten, sogar ein bisschen als als im ruhigeren, langsameren zweiten Band. Den Auftakt kann „Rache der Orphans“ zwar nicht toppen, aber Gregg Hurwitz schließt mit diesem Buch nahtlos daran an und beweist einmal mehr, dass diese Reihe zu einer der besten überhaupt gehört. Insgesamt sollen fünf Bände geplant sein – ich werde mit Sicherheit bis zum Schluss dabei sein und kann es kaum erwarten, bis die Fortsetzungen erscheinen!

Geschlechterrollen (+/-)

Dieses Mal gibt es in diesem Bereich zwar wieder viel, aber nicht nur Lob von mir. Einerseits ist Evan selbst kein Sexist, sondern putzt und kocht mit Leidenschaft, bewundert manche Dame für ihre ausgefeilte Kampftechnik und fühlt sich beispielsweise auch von einer erfolgreichen Anwältin nicht eingeschüchtert. Zudem gibt es ein breites Spektrum von Frauen im Buch – mächtige, gut ausgebildete, erfolgreiche Frauen, alleinerziehende Mütter, eiskalte Killerinnen – und wichtige Themen wie Gewalt gegen Frauen werden angemessen aufgegriffen und kritisiert. Auch klassische Geschlechterstereotypen wie die Behauptung, dass Mädchen kein räumliches Vorstellungsvermögen hätten, werden widerlegt. Andererseits lässt sich hin und wieder leider auch frauenfeindliche Sprache im Buch finden, Frauen werden (selten zwar, aber immerhin) als Schlam+++, sogar Fo++++ bezeichnet, Mädchenparfüm wirke angeblich fehl am Platz neben Computern, Prostitution wird nicht genügend verurteilt, sondern Prostituierte werden sogar noch abwertend von Evan als Nu++++ bezeichnet, einmal werden zurechtgemachte Frauen als „nuttig aufgemachte Tussis“ beschrieben. Wenn der Autor in den nächsten Bänden noch ein kleines bisschen sensibler auf diesen Aspekt eingeht, bekommt er auch hier die volle Punktzahl!

„‘Es heißt doch immer, Mädchen haben kein räumliches Verständnis. Hat man offenbar vergessen, mir zu sagen.‘
‚Du hättest sowieso nicht hingehört.‘“ E-Book, Position 1730

Mein Fazit

Gregg Hurwitz liefert wieder ab und beweist einmal mehr, dass die „Orphan X“-Reihe zu den besten überhaupt gehört und dass man sie sich keinesfalls entgehen lassen sollte. Der Schreibstil ist wie gewohnt angenehm, erzeugt routiniert Spannung und beschreibt Emotionen intensiv und nuanciert – lässt die LeserInnen also niemals kalt. Inhaltlich gelingt es dem Autor wieder, einen interessanten, unvorhersehbaren Plot mit klassischen Thriller-Elementen und Tiefe zu verbinden, Themen wie Verantwortung, Familie, Trauer, Opfer, die man bringen muss, und Rache stehen dieses Mal im Mittelpunkt. Die Figurenzeichnung gehört wieder zur den größten Stärken des Buches, Evan darf neben seinen Rachegelüsten und seiner Wut auch wieder seine sensible Seite und viel Herz zeigen, altbekannte Charaktere enthüllen neue, wunderbar überraschende Facetten von sich, neue Figuren überzeugen ebenso. Auch, was die Spannung, die actionreichen Szenen, die unerwarteten Wendungen und die Spuren von Humor betrifft, die das Buch wieder durchziehen (obwohl auch wieder Zeit für ruhigere Momente ist), gibt es hier nichts auszusetzen. Kurz: Für Fans sowieso ein Muss, und wer die Reihe bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, dem möchte ich sie hiermit wärmstens ans Herz legen (unbedingt mit Band 1 beginnen!). Für mich und alle anderen Fans heißt es nun erst einmal wieder warten, bis Evans Geschichte 2019 endlich weitergeht und der Nowhere Man sich endlich wieder am Telefon meldet mit den Worten: „Brauchen Sie meine Hilfe?“

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Dialoge: 5 Sterne ♥
Protagonist: 4,5 Sterne
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4,5 Sterne
Humor: +
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4,5 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 5 verdiente Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!