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Veröffentlicht am 06.01.2019

Ein Buch wie ein Rausch!

Bis ans Ende, Marie
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Ein Buch wie ein Rausch, ein Trip durch eine Persönlichkeit, mit der etwas nicht stimmt, ohne dass man wüsste, was genau. Wie ein Donnerwetter prasseln die Gedanken unserer namenlosen Ich-Erzählerin auf ...

Ein Buch wie ein Rausch, ein Trip durch eine Persönlichkeit, mit der etwas nicht stimmt, ohne dass man wüsste, was genau. Wie ein Donnerwetter prasseln die Gedanken unserer namenlosen Ich-Erzählerin auf den Leser ein, vermischen sich mit Dialogfetzen Maries, alles wirkt surreal, wie ein Traum, in dem es keinen klaren Fokus gibt. Die Beziehung zur Familie scheint zerrüttet, der Vater hat ein ungesundes Verhältnis zu Medikamenten und man kann die Überlegung anstellen, dass dieser Medikamentenmissbrauch möglicherweise auf unsere Protagonistin abgefärbt, sie beeinflusst hat – steht sie womöglich selbst unter dem Einfluss von Medikamenten oder haben diese nachhaltig ihre Persönlichkeit verändert, sodass sie keinen klaren Gedanken fassen kann? Das Verhältnis zu ihrer Mutter war auch schonmal besser, sie kommt einfach nicht darüber hinweg, dass die Erzählerin sich von ihrem ach so perfekten Freund getrennt hat. Er, der schicke Jurastudent, mit seinen perfekten Eltern und seinem perfekten Leben, und sie, die in diese Form hereingedrückt werden soll, aber sich nicht länger verbiegen will. Und dann ist da Marie. Marie, die sie mit auf die wildesten Partys nimmt, Marie, die sich mit allerlei Männer herumtreibt, die so anders ist als sie selbst. Unsere Erzählerin möchte wie sie sein, steht zwischen dem perfekten Leben und dem Maries, wird zerrissen von den Möglichkeiten, von dieser toxischen Freundschaft und kommt mit alledem nicht mehr klar. Die Ereignisse werden immer turbulenter und am Ende steht das Chaos.

Ich liege in einem Raum mit zwanzig anderen Menschen, in einem Hüttenschlafsack, Marie legt den Arm um mich, sie will mich zurückziehen in den Schlaf, sie will mich hineinziehen in den See aus Schnaps und Bier, sie taucht mich unter, unter Wasser treiben die Körper der Männer, ihrer Frauen und Kinder, treiben Telefone ohne Empfang, Wohnungsschlüssel.

Wie hat es mir gefallen?
Beim Beenden der Lektüre von Barbara Riegers „Bis ans Ende, Marie“ wusste ich bereits, dass es mir schwer fallen würde, eine Besprechung zu diesem Buch zu verfassen. Dennoch möchte ich hier meine Leseeindrücke versuchen zusammenzufassen. Dieses Buch ist wie nichts, was ich zuvor gelesen habe. Die Erzählsprache ist nichts für schwache Nerven und mitunter sehr, sehr anstrengend. Wir begeben uns in einen Verstand, der irgendwie kaputt ist, dem etwas zu fehlen scheint, um „normal“ zu funktionieren und seine Gedanken zu sortieren. Und auch wenn im Buch viele Dinge passieren und es auch eine Handlung gibt, steht doch immer die Freundschaft (wenn man es denn so nennen kann) von Marie und der Erzählerin im Vordergrund. Nichts anderes erscheint relevant, es gibt nur Marie. Zu Beginn des Buches denkt man noch, es handele sich um eine etwas abstrusere Geschichte zwischen zwei Freundinnen, doch nach und nach merkt man, dass diese toxische Beziehung nicht nur das Leben der Erzählerin zerstört, sondern auch das der anderen merklich tangiert und zerrüttet. Und obwohl ich den Schreib- und Erzählstil ungemütlich fand, muss ich sagen, dass mir diese Geschichte schon ziemlich gefallen hat. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich das Ende (und somit das gesamte Buch) verstanden habe, aber dennoch war es sehr spannend zu lesen und hatte eine recht große Sogwirkung. Wer mutig ist und sich an ungewöhnliche Literatur herantraut, sollte möglicherweise mal einen genaueren Blick auf Barbara Riegers Roman werfen.

Veröffentlicht am 06.01.2019

Spannendes Finale der »Consider« Dilogie – Actionreich, gefühlvoll und intelligent!

Consider (2). Der Tribut
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Nachdem mir der erste Band von Kristy Acevedos Dilogie, „Consider. Das Portal“ ausgesprochen gut gefallen und es zudem auf einem Cliffhanger geendet hat, war die Wartezeit bis zum zweiten und finalen Band ...

Nachdem mir der erste Band von Kristy Acevedos Dilogie, „Consider. Das Portal“ ausgesprochen gut gefallen und es zudem auf einem Cliffhanger geendet hat, war die Wartezeit bis zum zweiten und finalen Band viel zu lang! Als „Consider. Der Tribut“ dann endlich erschien, musste ich es direkt verschlingen. Das Buch setzt direkt dort an, wo der erste Band aufhört – nämlich dann, wenn Alex durch das Portal schreitet. Jetzt erfahren wir endlich, was auf der anderen Seite wartet und ob sie ihre Lieben wiederfinden wird. Wie der Klappentext schon andeutet, erscheint die Welt, wo alle gelandet sind, perfekt, fast schon zu gut, um wahr zu sein. Es gibt Holo-Räume, in denen VR-Spiele gespielt werden können, gegen die unsere sehr alt aussehen, sein Zimmer kann man sich einrichten, wie man möchte – Holo-Technologie sei Dank ist das neue Sofa oder die Hängematte sofort da und kann auf Wunsch immer wieder verändert werden. Der persönliche Hologramm-Diener erfüllt jeden Wunsch sofort. Doch nach und nach fallen Alex Dinge auf, die kein anderer wahrzunehmen scheint, und plötzlich verkünden die Hologramme („reale“ Menschen scheint es auf dem Planeten nicht zu geben), dass alle Menschen von der Erde einen Tribut leisten müssen, damit sie weiterhin die Annehmlichkeiten von Solbiluna-8 genießen zu dürfen. Ein Leben in Freiheit und ohne Arbeit. Allerdings ist der geforderte Beitrag für Alex mehr als inakzeptabel…

"Kleine Akte der Rebellion. So werden wir gewinnen. Jedes Utopia hat seine Schwachstelle."

Kristy Acevedos „Consider. Der Tribut“ hat mich way past my bedtime wachgehalten, denn ich musste es wirklich in einem Rutsch lesen. Und es war einfach unheimlich spannend, endlich eine Auflösung zu bekommen und zu erfahren, was sich hinter dem Portal verbirgt. Ich habe mit einigem gerechnet, Theorien erdacht – Außerirdische, eine zerstörte Welt, der sofortige Tod (auch wenn das nicht sehr Story-förderlich gewesen wäre) – und bekam etwas völlig anderes. Alex landet in einer Welt, die technologisch unendlich viel fortgeschrittener ist als wir, die aber außer ein paar Vögeln keine Lebewesen zu beherbergen scheint. Die Menschen von der Erde, die durch die verschiedenen Portale „angereist“ sind, werden in verschiedenen Wohnsiedlungen untergebracht und ein jeder bekommt einen persönlichen holografischen Diener zur Seite gestellt, der für Fragen bereit steht und auch dafür sorgt, dass jeder der Menschen wohlbehalten in seinem neuen Zuhause ankommt und sich wohlfühlt. Bevor Alex jedoch richtig „ankommt“, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer besten Freundin und ihrem Freund, Dominick. Als sie die beiden gefunden hat, erwartet sie eine demütigende Szene, denn es scheint so, als wären sich die beiden unverhofft näher gekommen. Und das Drama nimmt seinen Lauf. Tatsächlich hat mir dieser Aspekt der Story wieder mal am wenigsten gefallen, jedoch wurde Alex‘ Krankheit, ihre Angststörung, vertieft: In der Zukunft gibt es eine Technologie, die ähnlich wie eine Dusche funktioniert, jedoch mit Lichtwellen funktioniert und beruhigend wirkt. Alex schließt sich im Verlauf der Geschichte immer öfter dort ein, da ihre Tabletten von der Erde nicht ausreichen und sich ihr Krankheitsbild verschlimmert.

Weiterlesen: https://killmonotony.de/rezension/kristy-acevedo-consider-der-tribut

Veröffentlicht am 04.11.2018

Spannender Wissenschaftsthriller rund um Ethik und Forschung, Epigenetik und nichts weniger als die Zukunft der menschlichen Spezies.

Das Alphabet der Schöpfung
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Wenn ihr meinen Blog schon länger verfolgt, wisst ihr, dass ich eigentlich keine Thriller lese. Zu dick, zu unspannend, alles bei den Haaren herbeigezogen – das waren meine bisherigen Erfahrungen mit diesem ...

Wenn ihr meinen Blog schon länger verfolgt, wisst ihr, dass ich eigentlich keine Thriller lese. Zu dick, zu unspannend, alles bei den Haaren herbeigezogen – das waren meine bisherigen Erfahrungen mit diesem Genre. Zugegeben, einige interessante Titel habe ich schon gelesen, allerdings waren die mir immer zu gruselig. Doch in meiner aktuellen Lesewut zum Thema Tod und Seele kam mir I. L. Callis‘ Thriller „Das Alphabet der Schöpfung“ gerade recht, denn es geht um nicht weniger als um die Erschaffung von synthetischem Leben, Genveränderungen und die Zukunft der Spezies „Mensch“. Klingt ziemlich hochtrabend? Vielleicht, aber genau das macht diesen Thriller so spannend! Wir lernen Protagonisten Alex an einem normalen Tag bei seiner Arbeit kennen. Er arbeitet als freiberuflicher Journalist und Texter für das MAGAZIN. Doch wirklich Freiheit bei dem, was er schreibt, hat er nicht, und so wird sein bereits fertiger Report zum Elend in Afrika durch eine Tourismus-Spalte mit traumschönen Bildern ersetzt. Glücklicherweise erhält er zeitgleich einen Anruf von seinem alten Freund Max, der einen Gentechnik-Konzern leitet, und erhält das Angebot seines Lebens: Er soll die Arbeit von Phoenix, so der Name des Giganten, in einem Buch zusammenfassen. Klingt spannend, denkt Alex, willigt ein und findet sich bald in einem Alptraum wieder. Die Mitarbeiter von Phoenix scheinen zwar auf den ersten Blick alle sympathisch, doch ihm wird ein Aufpasser an die Seite gestellt, der ihn rund um die Uhr verfolgt und jeden seiner Schritte überwacht, und bereits am ersten Tag flüstert ihm eine Kollegin die Worte „Wir müssen reden. Phoenix verheimlicht etwas.“ ins Ohr und setzt damit eine Reihe von Ereignissen in Gang, mit denen Alex so nicht gerechnet hätte.

"Phoenix – der Wiedergeborene. Der mythische Vogel, der am Ende seines Lebens verbrennt oder stirbt und aus der Asche oder dem verwesenden Leib wieder aufersteht. Warum hatte Max ausgerechnet diesen Namen gewählt?"

Dass ich nochmal einen Thriller lese, hätte ich ja nicht gedacht, deshalb bin ich umso glücklicher, I. L. Callis‘ „Das Alphabet der Schöpfung“ gelesen zu haben. Da ich Thrillern gegenüber skeptisch eingestellt bin (wo ist nur mein Lesen außerhalb der Komfortzone Spirit hin?), bin ich nicht komplett neutral an den Text herangegangen, sondern mit einer Erwartungshaltung, dass mir dieses Genre doch eigentlich nicht zusagt. Doch I. L. Callis hat es geschafft, mich vom Gegenteil überzeugen: Während die Charaktere nicht immer ausgefleischt waren und selbst unser Protagonist Alex nicht der Sympathischste ist, hat mich die Story doch sofort in ihren Bann gezogen. Das Unternehmen Phoenix und dessen Forschung ist auch auf Seite 400 noch interessant und glaubwürdig. Auch haben mir die vielen ethischen Aspekte gefallen, die die Charaktere regelmäßig in Grundsatzdiskussionen (bzw. die Ablehnung ebensolcher) stürzen; zu Beginn seiner Recherchen ist Alex fassungslos, was bei Phoenix hinter verschlossenen Türen geschieht. Am Rande erfahren wir noch von zwei Kindern, die sich zu einem Ausflug ins Moor begeben haben, doch nur eines kehrt zurück. Wenige Tage später setzt eine Forensikerin, deren Schicksal wir auch begleiten, alles daran, die Leiche eines im Moor gefundenen Kindes zu identifizieren, und stößt dabei auf DNA-Spuren, die nichts ähneln, was menschlich oder tierisch ist. Und langsam scheinen sich die verschiedenen Erzählstränge zusammenzufügen.

Weiterlesen: https://killmonotony.de/rezension/thriller-time-das-alphabet-der-schoepfung

Veröffentlicht am 04.11.2018

Welche Methoden hat die Wissenschaft parat, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen? Frédéric Beigbeder geht dieser Frage mit seinem Roman »Endlos leben« auf den Grund.

Endlos leben
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Ich hatte das Glück, Frédéric Beigbeder auf der Frankfurter Buchmesse bei einem Interview am F.A.Z.-Stand zu sehen, in dem er von seinem neuen Buch „Endlos leben“ erzählte. Zu diesem Zeitpunkt wartete ...

Ich hatte das Glück, Frédéric Beigbeder auf der Frankfurter Buchmesse bei einem Interview am F.A.Z.-Stand zu sehen, in dem er von seinem neuen Buch „Endlos leben“ erzählte. Zu diesem Zeitpunkt wartete ebendieses bereits daheim auf mich und nach diesem Interview musste ich sofort beginnen, es zu lesen. Beigbeder erzählte, dass es in seinem neusten Buch (eigentlich als „Roman“ betitelt) um die Frage seiner Tochter geht: „Papa, stimmt es, jeder mal stirbt?“ Da er feige sei, habe er dies mit folgendem Satz beantwortet: „Bisher war das so, aber jetzt wird sich etwas daran ändern!“ – und so beginnt Frédéric Beigbeders Reise (oder vielmehr die seines Protagonisten/Alter Egos) um die Welt, zu den fortschrittlichsten Forschungseinrichtungen und zu berühmten Kurhäusern, um alles aufzusaugen und auszuprobieren, was man im heutigen Zeitalter gegen den Erzfeind, den Tod, unternehmen kann. Und Methoden und Forschungsansätze gibt es verdammt viele: vom Transhumanismus (Erweiterung der Lebensdauer durch Technologie) über Genveränderungen bis hin zu der Umkehrung des Altersprozesses. Frédéric Beigbeder schaut sich zusammen mit seiner Familie die verschiedenen Methoden an und fühlt der Wissenschaft gehörig auf den Zahn. Dass er sich dabei immer weiter von seiner Frau entfremdet, merkt er dabei nicht…

"Das Leben ist ein Massaker. Ein Mass murder mit 59 Millionen Toten pro Jahr. […] Es ist mir ein Rätsel, warum Terroristen sich solche Mühe geben, die Statistik aufzubessern: So viele Leute wie Mutter Natur können sie nie umbringen. Die Menschheit wird unter allgemeiner Gleichgültigkeit dezimiert. Wir akzeptieren diesen täglichen Genozid, als handele es sich um einen normalen Prozess."

Dieses Buch ist unglaublich schwer einzuschätzen. Ist es ein Roman, sind alle diese Dinge tatsächlich passiert oder gibt es lediglich kleinere Überschneidungen? Frédéric Beigbeder sagt auf der Buchmesse und auch im Vorwort zu „Endlos leben“, dass es all die erwähnten wissenschaftlichen und auch weniger wissenschaftlichen Methoden zur Lebensverlängerung tatsächlich gibt. Auch scheinen der Protagonist und er einiges gemein zu haben… Doch lassen wir diesen Aspekt einmal offen. Beigbeders „Endlos leben“ liest sich wie ein skurriler Trip durch die abgedrehtesten Neuheiten, die der Verjüngungsmarkt zu bieten hat: Bluttransfusionen mit dem Blut junger Menschen, die Übertragung des eigenen Bewusstseins auf eine Festplatte, eine ganz spezielle Ernährung, die niemandem schmeckt, aber trotzdem den Tod in Schach halten soll… Beigbeder wendet sich jedoch nicht nur der Wissenschaft zu, als Atheist besucht er auch die heiligen Stätten in Jerusalem und nimmt neben einigen Eindrücken der Kultur auch den Wunsch, zu glauben, mit auf seine weiteren Reisen.

Weiterlesen: https://killmonotony.de/rezension/endlos-leben-fakt-oder-fiktion

Veröffentlicht am 02.09.2018

Puristisch und bedrückend liegt in „Kein schönerer Ort“ eine ungesagte Katastrophe in der Luft — gekonnt inszeniert!

Kein schönerer Ort
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Als ich in der Herbstvorschau des cass Verlags diesen Titel entdeckte, war mir direkt klar: Das muss ich lesen. Der Klappentext deutet auf eine mögliche Atomkatastrophe hin, nach der die Bewohner Umizukas ...

Als ich in der Herbstvorschau des cass Verlags diesen Titel entdeckte, war mir direkt klar: Das muss ich lesen. Der Klappentext deutet auf eine mögliche Atomkatastrophe hin, nach der die Bewohner Umizukas dort leben, aber ausgesprochen wird dies nicht. „Kein schönerer Ort“ von Manichi Yoshimura erzählt aus der Perspektive eines jungen Mädchens, wie sich Ungeheuerliches abspielt, Todesfälle überspielt werden und der Zusammenhalt des Orts irgendwie erzwungen scheint. In den Schulen fehlen nach und nach immer mehr Kinder, sie klappen im Unterricht zusammen und wenige Tage später erfahren wir, dass sie gestorben sind. Der Grund dafür wird uns allerdings nicht genannt. Die unschuldige Sprache Kyoko-chans lässt uns nur langsam die Katastrophe wahrnehmen, die sich in Umizuka abgespielt haben muss. Nach dutzenden Malen, in denen Kyoko die Umizuka-Hymne gezwungenerweise und lustlos mitsingt, weil sie sich von der Gemeinschaft ihrer Klassenkameraden ausgeschlossen fühlt, wächst in ihr das Bewusstsein, dass etwas faul ist. Ihre Mutter kocht nie frisch, lässt Dosen voller Fertiggerichte importieren und achtet penibel auf jedes Staubkorn. Ist womöglich doch etwas geschehen? Aber wieso tun dann alle so, als wäre nichts gewesen?

"Am Ende tut nicht nur Umizuka, sondern das ganze Land so, als wäre nichts gewesen. Vielleicht nimmt gar […] die ganze Welt an dieser Komödie teil."

Dieser Roman hat mich gut 50 Seiten (ein Drittel!) gekostet, bis ich richtig drin war. Die Sprache und Erzählperspektive schien erst ungelenk, doch danach hat „Kein schönerer Ort“ seine schaurige Magie entfaltet. „Kein schönerer Ort“, das scheint Umizuka nach Meinung der gesamten Stadtbevölkerung tatsächlich zu sein, und obwohl die Kinder dahinsterben, bemühen sich die Älteren um Normalität. Was auch immer geschehen ist, es hat die Bewohner Umizukis zusammengeschweißt, ein übertrieben erscheinendes Gemeinschaftsgefühl hat sich entwickelt. Die Anwohner betonen immer, dass man das Gemüse und das Obst aus der Stadt bedenkenlos essen könnte, und spätestens jetzt fragt man sich als Leser, wieso sie geblieben sind. Oder werden die Bewohner Umizukas gar gezwungen, dort zu verbleiben, um andere Regionen nicht zu kontaminieren? Der Begriff „Atomkatastrophe“ steht wie ein dicker Elefant im Raum, doch niemand, wirklich niemand, spricht in Umizuka darüber — beziehungsweise wird von der Polizei mit den Worten „Alles erstunken und erlogen!“ abgeführt und nie wieder gesehen.

"Mit dem Bewusstsein des Menschen hat es so eine Bewandtnis. Beeinflusst vom Verhalten seiner Umgebung, sieht der Mensch bald nicht mehr, was er sieht. Selbst das Dreieck unmittelbar vor seinen Augen wird, wenn alle anderen behaupten, es sei ein Kreis, zum Kreis. Er fasst es nicht nur als solchen auf. Er sieht wirklich: einen Kreis."

Die Sprache von „Kein schönerer Ort“ ist für mich typisch „japanische Literatur“. Dieses Schnörkellose, Leise, fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Und trotz der Kürze dieses Romans hat Yoshimura den richtigen Ton getroffen. Der Klappentext verrät uns, dass dieses Buch zum Anlass der Reaktorkatastrophe in Fukushima geschrieben wurde, was den Eindruck der „Kontamination“ nur noch verstärkt. Mehrmals wird zudem erwähnt. dass Umizuki die Heimat ist, „die wir einmal verloren haben“ und die wieder aufgebaut wurde — das ist meiner Meinung nach der letzte Groschen, der fallen musste.

Fazit: Mit „Kein schönerer Ort“ von Manichi Yoshimura ist wieder mal ein kurzer, eigensinniger, aber auch wunderbarer Titel im cass Verlag erschienen! Die Sprache, die Geschichte, alles fügt sich toll zusammen. Lediglich der Start fiel mir etwas schwer und gegen Ende schlug die Handlung eine Richtung ein, die sich mir nicht ganz erschlossen hat. (Wer es gelesen hat, möge sich bei mir melden!) Yoshimuras Roman möchte ich jedem ans Herz legen, besonders aber allen, die die japanische Literatur bereits kennen, denn dieses Buch fügt sich nahtlos ein, obwohl es kein gleichförmiges Puzzlestück ist.

Mehr unter: https://killmonotony.de/rezension/manichi-yoshimura-kein-schoenerer-ort