Dass die amerikanische Autorin Ashley Herring Blake tolle Familiengeschichten schreiben kann, hat sie bereits mit ihrem ersten Roman “Liebe ist wie Drachensteigen” unter Beweis gestellt. “Eine Handvoll Lila” ist ihr zweites und neuestes Buch, das übers Erwachsenwerden, über die Liebe zwischen zwei Mädchen und eine komplizierte Familiensituation berichtet. Berührend und besonders sensibel erzählt. Ein Feuerwerk der Emotionen! Für Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Cape Katherine. In einem kleinen (fiktiven) Örtchen in Neuengland. Noch ein kleines Kind war Grace, als ihr Vater, an den sie sich kaum mehr erinnern kann, in Afghanistan starb. Seitdem lebt sie mit ihrer Mutter mal hier, mal dort. Je nachdem mit welchem Mann diese gerade liiert ist: “Ich habe schon lange den Überblick verloren, mit wie vielen Typen Mom in den seitdem vierzehn Jahren “zusammen war”. Und die durch die Bank weg alle die Ehre hatten, ungefähr zehn Minuten lang “Der Richtige” zu sein.” (Zitat aus “Eine Handvoll Lila” S.10) Jetzt ist Grace gerade von einem zweiwöchigen Klavier-Workshop aus Boston zurückgekehrt und schon hat ihre Mutter wieder deAshley Herring Blake - Eine Handvoll Lilan Wohnort gewechselt. Sie wohnen nun bei Pete und seinem Sohn Julian. Neben einem Leuchtturm. “Ich habe diesen Leuchtturm immer geliebt. Als ich sechs oder sieben war, kam er mir magisch vor. Allerdings verliert das Leben jedes Mal ein wenig an Zauber, wenn man seiner eigenen Mutter die Haare zurückhält, während sie Wodka auskotzt. Und das musste ich oft.” (Zitat S.18) Denn Graces Mutter ist nicht wie andere Mütter. Und Grace musste schon früh lernen Verantwortung zu übernehmen: “Ich bin schon vor langer Zeit erwachsen geworden, damals, als ich das erste Mal ins Wohnzimmer kam und sie bewusstlos mit einer Flasche Wodka auf der Couch fand. Das war ich acht. Und es war mein Geburtstag.” (Zitat S.51) Bereits mit jungen Jahren hat Grace einen Nebenjob angenommen, um zu verhindern, dass ihnen der Strom abgestellt wird. Denn der Onlineverkauf von selbstgemachten Schmuck, den ihre Mutter herstellt, wirft nicht gerade viel ab. Und wenn ihre Erzeugerin mal wieder aus der Wohnung geworfen wurde oder ihre neueste Beziehung in die Brüche ging, kann es schon mal sein, dass Grace sie mitten aus einer Kneipe zerren und zum Ausnüchtern nach Hause bringen muss. Daher lässt sie — außer ihren besten Freund Luca — auch niemanden an sich heran. “Eine Zeit lang war ich ein ziemlich normales, nettes Mädchen. Ich hatte sogar eine Handvoll Freunde hier und da, aber bei dem ganzen Auf und Ab in meinem Leben war es einfacher, meine Welt so klein wie möglicAshley Herring Blake - Eine Handvoll Lilah zu halten. Weniger Erklärungen. Weniger Lügen, um zu verbergen, warum ich schon wieder umgezogen war. […] Mom ist nicht immer eine Katastrophe. Sie hat auch ihre guten Tage. Gute Monate sogar. Ich weiß bloß nie, wann ein guter Tag sich plötzlich in ein totales Desaster verwandelt.” (Zitat S.39) Als Grace die junge Eva kennenlernt — ein Mädchen, das Lucas Familie bei sich aufgenommen hat, weil ihre Mutter vor Kurzem gestorben ist — will sie auch Eva eigentlich auf Abstand halten und ihr so wenig wie möglich über sich erzählen. Doch Eva ist irgendwie anders. Faszinierend. Und sie steht auf Mädchen. So wie Grace, die neben einer Beziehung mit einem Jungen, ebenfalls schon mal in ein Mädchen verliebt war. “Ihr Blick wandert zu mir, und ich merke, dass ich wieder starre. Kein Wunder bei ihrem Gesicht, vertraut und neu zugleich. Und schön. Ich zwinge mich wegzusehen.” (Zitat S.47ff) Aber auch Graces Mutter hat Eva zu ihrem persönlichen “Projekt” auserkoren und will sie unbedingt von der Trauer um ihre verstorbene Mutter befreien: “Und jetzt sitzt sie hier und ist drauf und dran, sich ein Bein auszureißen und Geld auszugeben, das wir nicht haben, und das alles für ein Mädchen, das sie kaum kennt. Plötzlich schrumpft diese Welt auf die Größe einer Erbse und ich bin zu klein darin. Zu klein für meine Mutter.” (Zitat S.95) Das erzeugt äußerst widersprüchliche Gefühle bei Grace…
Ashley Herring Blake - Eine Handvoll Lila“Eine Handvoll Lila” wartet mit einem faszinierenden Cover auf. Doch in dem Buch steckt viel mehr als eine Geschichte über die Musik, wie die Abbildung suggeriert. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das mit einer labilen Mutter und in äußerst zerrütteten Verhältnissen aufwachsen muss. Die Musik und das Spielen auf dem Klavier ist für Grace wie eine Zuflucht, wie ein kleines Zuhause, das sie von Zeit zu Zeit aufsuchen muss. Ihr bester Freund hat ihr geholfen ein Demovideo in einem richtigen Tonstudio aufzunehmen, das sie an eine Musikhochschule gesandt hat. Und die Manhattan School of Music, bei der man sich nicht einfach bewerben kann, sondern bei der man so gut sein muss, dass man eingeladen werden muss, hat ihr tatsächlich einen Termin für ein Vorspielen geschickt. Doch Graces Wunsch nach einer großen Zukunft steht immer wieder in Konflikt mit dem Zustand ihrer Mutter. Kann sie sie überhaupt alleine lassen? Oder bekommt sie dann gar nichts mehr auf die Reihe? “Eine Handvoll Lila” ist ein vielschichtiges Buch, eines, das — komplett aus Graces Sicht in der Ich-Perspektive erzählt — besonders feinfühlig auf seine Charaktere eingeht. Das zeigt, wie schwierig das Erwachsenwerden sein kann, wenn man dazu gezwungen wird zu früh und zu viel Verantwortung zu übernehmen. Für Grace ist das Loslösen von der Mutter ist ein schmerzvoller Prozess, auf dem der Leser sie in vielen emotAshley Herring Blake - Eine Handvoll Lilaionalen Momenten begleiten darf. Einer ist besonders bezeichnend für das (zum Teil fast manische) Verhalten ihrer Mutter: “Es war kein Platz?” Meine Stimme wird zu einem Kreischen. “Ach du Scheiße”, murmelt Luca. “Wir mussten auch Petes und Jays Sachen unterbringen. Aber keine Sorge. Ich hab einen guten Preis dafür bekommen.” Ich muss beinahe kotzen. “Du hast es verkauft? Du hast mein Klavier verkauft? Ich muss in sechs Wochen vorspielen.” (Zitat S.57) Es ist eine Achterbahn der Gefühle für die Protagonistin; der ständige Eindruck, dass die nächste Katastrophe früher oder später über sie hereinbrechen wird. Dass sie bald wieder ihre Zelte abbrechen und zum nächsten Liebhaber ihrer Mutter ziehen werden. Dass Grace wieder enttäuscht und verletzt werden wird, so wie jedes Mal. “Früher hat sie oft ihre Handflächen an meine gepresst, jede unserer sich berührenden Fingerspitzen geküsst und bei jedem Kuss einen albernen Wunsch ausgesprochen. Ich habe immer die Größe unserer Hände verglichen und sehnsüchtig auf den Tag gewartet, an dem meine genauso groß sein würden wie ihre. Ich dachte, je älter ich werde, umso älter wird sie und umso weniger Sorgen müsste ich mir um sie machen.” (Zitat S.8) Sehr gut gewählt für die Beziehung von Grace und ihrer Mutter zueinander ist der Titel des Buches, der sich auf den lila farbigen Nagellack bezieht, den sie beide verwenden. “Es ist schon Jahre her, dass wir zusammen auf der Coach gekuschelt und unsere Nägel lackiert haben. […] Aber ungefäAshley Herring Blake - Eine Handvoll Lilahr, als ich zwölf wurde und Mom meinte, ich sei alt genug, um von ihren gelegentlichen One-Night-Stands zu hören, etwas, das ein Mädchen, das noch nicht mal seine erste Periode hatte, nun wirklich nicht zu wissen brauchte, hatte ich genug von diesem Ritual.” (Zitat S.62ff) Seitdem lackieren sie sich ihre Nägel nicht mehr gemeinsam, aber immer noch in lila. Auch wenn Grace ihre Nägel mittlerweile — als eine Art Akt der Rebellion — in unterschiedlichen Lilatönen bemalt. Sie hängt an ihrer Mutter, liebt sie, aber leidet gleichzeitig unter ihr. Durch das Zusammenkommen und die zarte Liebe, die sich zwischen Eva und ihr entwickelt, muss Grace erstmals ihr gesamtes Leben überdenken und sich die Frage stellen, ob sie auch bereit ist einen eigenen, einen neuen Weg zu gehen. Mir hat “Eine Handvoll Lila” nicht nur sprachlich, sondern vor allem inhaltlich sehr gut gefallen. Man kommt in die Geschichte unheimlich gut hinein und die Charaktere sind authentisch, greifbar und zugleich so komplex, dass sie eben manchmal auch nicht greifbar und in Kategorien zu pressen sind. Diese Tiefgründigkeit hat mir besonders gut gefallen. Das Ende des Buches: an Dramatik und Gefühl kaum zu überbieten!
Fazit: Eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer Familientragödie — schillernd schön und schmerzvoll echt.