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Veröffentlicht am 12.01.2019

Tragikomische Geschichte

Honolulu King
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Ein großartiges Buch über die vielen Gesichter der Wahrheit, über ein ungewöhnliches Leben und über das, was uns und von uns bleibt ist der Roman „Honolulu King“ der mehrfach preisgekrönten niederländischen ...

Ein großartiges Buch über die vielen Gesichter der Wahrheit, über ein ungewöhnliches Leben und über das, was uns und von uns bleibt ist der Roman „Honolulu King“ der mehrfach preisgekrönten niederländischen Autorin Anne-Gine Goemans. Man muss sich auf das Buch einlassen, dann entfaltet sich ein äußerst interessantes und spannendes Panorama aus indonesischer Geschichte, Hawaii-Musik und einer warmherzigen Auswanderer- und Familiengeschichte.

Hardy, 80jährig, betreibt in Haarlem/Holland einen indonesischen Imbiss und trifft sich dort mit seinen alten Bandkollegen, den „Honolulu Kings“, die früher mit ihrer Hawaii-Musik einige Erfolge feiern konnten. Sie „tracken“ Tapes mit den Erinnerungen ehemaliger Javanesen, die wie Hardy in Indonesien Schreckliches erlebt hatten. Seit Hardy die Ermordung seiner Familie durch indonesische Unabhängigkeitskämpfer mit ansehen musste hasst er die Japaner, die für den Drill und deren Ausbildung verantwortlich waren. Hardy schleppt seit seiner Jugend ein großes Geheimnis wie einen Mühlstein mit sich herum, das er bei seinem Eintritt in eine Loge preisgibt. Den Freimaurern beizutreten entschließt er sich, weil er immer einsamer wird, seit seine geliebte Frau Christina hochgradig dement in einem Pflegeheim leben muss und Hardy zwar seine Band-Freunde Cok und George, seine Tochter Aswani und die Enkelin Synne um sich hat, die ihm aber alle keinen Ersatz für die schwindende Christina sind.
Hardy macht reinen Tisch, als er in seinem Baustück für die Freimaurerloge und bei seiner Familie und den Freunden sein großes Geheimnis preisgibt, das nicht nur die Logenbrüder schockiert. Er versucht, die Fäden seines Lebens in der Hand zu behalten, will verhindern, dass ihm die Dinge entgleiten. Er stellt sich dem Urteil um zu erfahren, was ihm bleibt.

Hardys Geschichte in der Gegenwart eines 80 jährigen lebt von den Rückblicken in die Vergangenheit, von Hardys Erinnerungen an die Schrecken und Gräueltaten während des Zweiten Weltkrieges in Indonesien. Aus eingestreuten Krumen ergibt sich allmählich ein äußerst interessantes und sehr persönliches Bild des Lebens dort zu dieser Zeit und ein Gefühl dafür, was Hardy als Mischling damals alles tragen und erdulden musste. Richtig bedrückend sind die auf Kassetten aufgezeichneten Interviews, die Hardy mit ehemaligen Landsleuten machte und aufbewahrt, vor diesen eindringlichen und vielfach grausamen Geschichten bietet nichts beim Lesen Schutz und man kann sich dem nicht entziehen.
Die Autorin schafft jedoch gekonnt und wunderbar einen Gegenpol durch die Hawaii-Musik, in die sich Hardy seit seiner Ankunft in Rotterdam flüchtete und die ihm Halt gab und gibt. Und auch wenn seine Fassade mittlerweile bröckelt, der harte Panzer aufweicht, bekommt man in den Szenen mit seinen Freunden Cox und George ein warmes Gefühl dafür vermittelt, wie viel Halt den drei Männern die Musik immer gegeben hat, wie eng diese sie verschweißte und wie wichtig sie nach wie vor in ihrem Leben ist. Und auch wenn ich persönlich null Bezug zu Hawaii-Musik und Steelgitarren habe gehört dies unbedingt zur Geschichte, weil die Musik Hardy am Leben erhielt.

Die Figuren dieses Romans wachsen einem schnell ans Herz. Hardy und seine Freunde sind eine äußerst liebenswerte Truppe, die nicht zuletzt zeigt, wie Freundschaft und Musik Menschen zusammen bringen und aneinander binden kann. Alle drei, insbesondere Hardy, gehören nirgends richtig dazu und haben sich gefunden und festgehalten. Völlig kitschfrei beschreibt die Autorin auch Hardys Beziehung zu seiner Enkelin, die ihm lieber in der Küche seines Toko-Imbisses hilft statt zu studieren.

Das Buch versucht sich sicherlich auch an der Aufarbeitung eines Stückes wenig rühmlicher niederländischer Geschichte als Kolonialmacht Indonesiens. Die holländischen Kolonialherren gaben damals ihre Herrschaft auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur nach blutigen Auseinandersetzungen durch Druck der Internationalen Staatengemeinschaft auf, obwohl Ihnen die Macht bereits entglitten war. Zurück blieben abgeschlachtete, misshandelte Indonesier, teils auf der Flucht weil sie wie Hardy Mischlinge und nirgends anerkannt waren.

Mein kleiner Wermutstropfen bei der äußerst anregenden und bewegenden Lektüre war lediglich die manchmal zu breit angelegte musikalische Komponente, aber da Hardy nun mal mit Hawaii-Musik überlebte nach seiner Auswanderung hat dies durchaus seine Berechtigung.
Insgesamt ist es ein sehr berührendes, hoffnungsvolles und höchst interessantes Buch, das mich zum intensiven Nachdenken und Querlesen zu indonesischer Geschichte anregte.

Veröffentlicht am 12.01.2019

Großartig und wichtig

Die Geschichte der Bienen
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"...denn um in der Natur und mit der Natur zu leben, müssen wir uns von der eigenen Natur entfernen."

Ein düsteres Zukunfts-Szenario einer Welt ohne Bienen ist der Beginn des preisgekrönten Buches "Die ...

"...denn um in der Natur und mit der Natur zu leben, müssen wir uns von der eigenen Natur entfernen."

Ein düsteres Zukunfts-Szenario einer Welt ohne Bienen ist der Beginn des preisgekrönten Buches "Die Geschichte der Bienen" der Norwegischen Autorin Maja Lunde. Mit großer Erzählkraft entfaltet sich dieses Debüt vor dem Leser, das ein anspruchsvoller und spannender Familienroman gespickt mit interessanten Sachdetails und zugleich Historienbuch und ebenso Dystopie ist.

"Die Kinder ernten die Zahlen und einige Schriftzeichen, davon abgesehen war die Schule aber nur eine Form der kontrollierten Verwahrung. Der Verwahrung und der Vorbereitung auf das Leben draußen."

Das Buch spielt in drei Zeitebenen, deren Verbindung die Bienen sind. Es setzt ein in einer Zukunft ohne Bienen mit Tao, der jungen chinesischen Arbeiterin, den Aufgabe zusammen mit tausenden anderen das Bestäuben von Obstbäumen ist und die sich für ihren kleine Sohn Wei-Wen eine bessere Zukunft erträumt. Doch plötzlich verschwindet der Junge auf unerklärliche Weise und Tao begibt sich auf die Suche nach ihm.
Im England des Jahres 1852 begleitet der Leser den gescheiterten und depressiven Biologen William. Als achtfacher Vater hatte er große Hoffnungen in seinen gescheiterten Sohn gesetzt und seine klügste Tochter Charlotte nicht beachtet. Als er mit der Erforschung der Bienenstöcke beginnt und einen perfekten Bienenstock entwirft, bekommt Williams Leben neuen Aufschwung.
Die dritte Geschichte erzählt vom Imker George in Ohio im Jahr 2007, der mitansehen muss, wie seine Bienen verschwinden und immer weniger werden. Der Sohn Tom soll den Hof mit der Imkerei übernehmen, dieser hat jedoch andere Pläne.

Maja Lunde spannt den Bogen von den Wurzeln der professionellen Imkerei Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beginn des Bienensterbens Anfang des 21. Jahrhunderts bis zu einer Welt ohne Bienen im Jahr 2098. Alle drei Geschichten dienen letztlich der Frage, wie eine Welt ohne Bienen aussehen würde und wo und wie der Anfang vom Ende begann. Sie vermittelt das Gefühl der Freude am Erfinden und Forschen für den Biologen William, die massive Hilflosigkeit und Ohnmacht von George, der seinen Bienen beim Sterben zusieht ebenso wie den Mut und die Kraft einer jungen Mutter, die ihren Sohn finden möchte und auf der Suche nach einem kleinen Hoffnungsschimmer gegen das System rebelliert.
Gleichzeitig hat die Autorin ein feines Gespür für familiäre Beziehungen von Eltern und Kindern, insbesondere die Erwartungshaltung von Vätern an ihre Söhne, die sich über die Jahrhunderte nicht geändert hat, und die Kraft der Frauen, die der Sprachlosigkeit und Enttäuschung Paroli bieten können.

"Wie verwachsene Vögel balancierten wir auf unseren Ästen, das Plastikgefäß in der einen Hand, den Federpinsel in der anderen. ...
Das kleine Plastikgefäß war gefüllt mit dem luftigen, leichten Gold der Pollen, das zu Beginn des Tages exakt abgewogen und an uns verteilt wurde, jede Arbeiterin erhielt genau die gleiche Menge. Nahezu schwerelos versuchte ich, unsichtbar kleine Mengen zu entnehmen und in den Bäumen zu verteilen."

Vieles, was wir essen, hängt von der Bestäubung durch Insekten ab, und wenn Menschen wie Vögel mit Pinsel in Bäumen hängen um Blüte für Blüte selbst zu bestäuben erinnert das nicht nur an Mao, der in China vor Jahrzehnten alle Insekten ausrotten wollte und die Blüten auf die im Buch dargestellte Weise bestäuben ließ, sondern ist für den Leser eine durchaus greifbare Version einer vom Hunger geprägten und streng kontrollierten Zukunft. Ein weltweites Bienensterben hat verheerende Folgen für uns alle, und Maja Lunde ist nicht nur eine Autorin, die einen spannenden und sehr gut recherchierten Roman zum Thema geschrieben hat, sondern auch besorgte Mutter, die aufrütteln will. Das ist ihr gelungen, und ich vergebe begeisterte fünf Sterne für das Buch.

Veröffentlicht am 12.01.2019

Begeisterndes Debüt

Der Club
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Der Roman "Der Club" von Takis Würger ist für mich eine Lese-Überraschung unter den Frühjahrsbüchern. Der Autor hat ein kleines Juwel geschaffen, und der Verlag Kein & Aber hat dem Text einen sehr passenden ...

Der Roman "Der Club" von Takis Würger ist für mich eine Lese-Überraschung unter den Frühjahrsbüchern. Der Autor hat ein kleines Juwel geschaffen, und der Verlag Kein & Aber hat dem Text einen sehr passenden bibliophilen Rahmen gegeben.

"Die Einsamkeit war ein Loch, das ich in meinem ganzen Körper spürte, als wäre von mir nur die Hülle eines Menschen übrig geblieben."

Hans Stichler, ein Junge aus einfachen Verhältnissen, bekommt die Chance, an der Universität Cambridge zu studieren. Als Kind hatte er die Mutter durch Krankheit und später den Vater durch einen Unfall verloren. Er war ein Außenseiter unter den anderen Kindern, als er angeregt durch seinen Vater mit dem Boxen begann und darin eine Stütze für sich findet.

"Wenn ich heute an diese Zeit zurück denke glaube ich, dass mir andere Menschen erst erträglich wurden, als ich anfing, mich mit ihnen zu schlagen."

Später, im Internat unter Mönchen, ist das Boxen für Hans die einzige Möglichkeit, dem harten Alltag und der Einsamkeit zu entfliehen. Kurz vor dem Abitur bietet ihm seine Tante Alex, eine Professorin in Cambridge, endlich die ersehnte Möglichkeit, bei ihr zu sein, getarnt als Stipendiat an ihrem College. Er soll ihr helfen, hinter die perfekte Fassade des elitären Pitt-Club zu blicken, dessen Eintrittskarte das Boxen ist. Hans weiß zunächst nicht, warum er Nachforschungen anstellt, doch je mehr sich zwischen altehrwürdigen Mauern, angefüllt mit Chesterfield-Möbeln, Trophäen und Kristall ereignet, umso mehr wünscht er sich, dazu zu gehören und nichts zu wissen. Er muss sich letztlich entscheiden, ob er für den richtigen Zweck bereit ist, das Falsche zu tun.

"An manchen Abenden in diesem Club hatte ich mich gefühlt, als löse sich mein Ich langsam auf und irgendwann bliebe nur noch Hans Stichler übrig. Aber an diesem Abend wusste ich genau, wer ich war und wer ich nicht sein wollte."

Die Geschichte, unterteilt in kurze Kapitel wie die Runden eines Boxkampfes, ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Das ermöglicht beim Lesen neben interessanten Einblicken einen Vorsprung gegenüber dem Protagonisten. Gebannt folgt man Stück für Stück der Demaskierung der Figuren und ihren Lebensumständen und wirft gemeinsam mit Hans einen höchst erschreckenden Blick hinter die Fassade der britischen Oberschicht.
Nach einem langsamen Start entwickelt sich das Geschehen nach Hans' Einführung in den Pitt-Club recht rasant. Und auch wenn der Hintergrund der Geschichte schnell durchschaubar ist, knabbert man an den einzelnen Verwicklungen ebenso wie an der Motivation der Charaktere, was subtil, höchst interessant und spannend ist.

"Es ist egal, was du machst, wenn die Storys, die die Leute über dich erzählen, gut genug sind."

Hans Stichler erweist sich als Charakter, dem man beim Lesen gerne nahe ist, weil er authentisch wie eine Figur aus dem echten Leben als einfacher Junge geblendet von Reichtum, Macht und Traditionen seinen Weg finden muss, nicht überirdisch wirkt, stolpert, und glaubhaft im rechten Moment zurück auf seinen Weg und zu seinen Idealen findet. Er ist ein Kämpfer, dem man jeden Sieg gönnt und dessen Gang ich beim Lesen gefesselt folgte. Der Autor hat selbst einige Jahre an einer Eliteuniversität in Großbritannien verbracht, war Mitglied eines Clubs und Boxer, wohl durch das eigene Erleben gerät seine Hauptfigur so lebensnah. Man fragt sich allerdings ständig, inwieweit die Schilderungen den Tatsachen entsprechen, doch diese Antwort bleibt aus.

"Die Wahrheit...sind die Geschichten, die wir solange erzählen, bis wir glauben, sie wären Wirklichkeit."

Ein wenig greifbarer und voluminöser hätte ich mir die beiden Frauenfiguren gewünscht. Alex, die Tante von Hans und Professorin in Cambridge, und Charlotte, ihre Studentin und Hans' Freundin, bieten beide viel und hochinteressanten spannenden Hintergrund, dennoch wirken beide auf mich etwas zu zweidimensional. Das mag daran liegen, dass das Hauptaugenmerk der Geschichte auf dem Pitt-Club und dem Boxen als Männerdomäne liegt und die Frauencharaktere den Hintergrund bilden, vor dem sich die Entwicklung abspult. Es ist ein ganz persönliches Empfinden, das der Rundheit des Buches jedoch nicht wirklich Abbruch tut.
Die männlichen Begleiter von Hans sind dafür umso faszinierender und vielschichtiger und auf den ersten Blick dubioser ausgearbeitet, sie offenbaren sich erst auf den zweiten Blick. Josh als Sohn reichen Eltern, elitär, überheblich, verwirrend aggressiv und gleichzeitig menschlich und gefühlvoll, bemüht sich um die Freundschaft zu Hans. Und Angus, die graue Eminenz des Pitt-Club und Vater von Charlotte, zu dem Hans Zugang durch das Boxen findet und zu dem er sich hingezogen fühlt, wirkt auf den ersten Blick väterlich-besorgt und loyal, jongliert gleichzeitig im Job mit Menschen wie mit Spielfiguren.

"In Cambridge hatte ich gelernt, wie viel Großes der Mensch leisten kann: er kann die Grundlagen der formalen Logik entwickeln, die Geschwindigkeit des Lichts errechnen und ein Medikament gegen Malaria finden. Aber in Cambridge habe ich auch gelernt, was der Mensch in seinem Kern ist: ein Raubtier."

Am Ende geht alles auf, und Tarkis Würger hält noch ein paar kleine Überraschungen bereit, die sich im Nachhinein betrachtet perfekt und nahtlos ins Geschehen einfügen.
Der recht kurze und mit passender schnörkelloser und stellenweise fast brutaler Sprache erzählte Roman wurde völlig zu recht mit dem Preis als bestes Roman-Debüt auf der Litcologne 2017 ausgezeichnet und mit seinem in den Farben und Stil einer Pitt-Club-Krawatte bezogenem Einband ist es nicht nur des Inhaltes wegen ein kleiner Schatz, den man unbedingt lesen sollte.

Veröffentlicht am 11.01.2019

Grandioses Buch

Stella
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Der Roman „Stella“ von Takis Würger erzählt die tragische Liebesgeschichte des Schweizers Friedrich und der jüdischen Denunziantin Stella im Berlin von 1942. Es ist eine spannende, erschreckende und ...



Der Roman „Stella“ von Takis Würger erzählt die tragische Liebesgeschichte des Schweizers Friedrich und der jüdischen Denunziantin Stella im Berlin von 1942. Es ist eine spannende, erschreckende und fast unglaubliche Geschichte, ein dunkles Kapitel deutscher Vergangenheit über ein Opfer, das zur Täterin wird und über einen jungen Schweizer, der sich in einer Fantasiewelt der Wirklichkeit zu entziehen versucht, immer mit dem Privileg der Flucht durch seinen Pass im Hinterkopf.

1942 kommt Friedrich, ein stiller junger Schweizer, nach Berlin und trifft an der Kunstschule Kristin. Mit ihr beginnt ein aufregender nächtlicher Weg durch Berlins Jazzclubszene. Der Krieg scheint weit weg zu sein im luxuriösen Hotel am Potsdamer Platz, wo es bei Bombenalarm Champagner und Geigenmusik im Keller gibt. Doch alles ändert sich für Friedrich, als Kristin eines Morgens zerschunden ins Hotel kommt und gesteht, sie sei Jüdin, heiße Stella und sei von der Gestapo zu einem Pakt zur Denunziation versteckter Juden gezwungen worden, um ihre Eltern vor den Todeslagern der SS zu retten.

Takis Würger spielt in dem Roman mit einer wahren Geschichte, nämlich der von Stella Goldschlag, der jüdischen Kollaborateurin, die Hunderte Juden aufspürte und an die Gestapo verriet und damit den Vernichtungslagern auslieferte. Stella Goldschlag lebte von 1922 bis 1994.

Es ist ein Zwiespalt und ein wackeliger Pfad, auf den man vom Autor als Leser geschickt wird. Einerseits ist Verrat auf den ersten heutigen Blick natürlich tabu und verurteilungswürdig, aber Takis Würger gelingt das große Kunststück, beim Leser Verständnis für Stellas Situation und ihr Verhalten zu wecken, indem er Ihre menschliche Seite zeigt und sie selbst auch als Opfer der Nazis vorführt. Zum einen möchte man sie unbedingt verurteilen, weil sie lieber deutsch als jüdisch sein möchte, weil sie versucht, sich an das herrschende System anzupassen, und natürlich weil sie andere Juden verrät. Andererseits stellt sich die Frage, ob Stella jemals wirklich eine Wahl hatte und ob man sie überhaupt verurteilen und schuldig sprechen darf, wenn sie Juden aufspürt, um die Haut ihrer Eltern zu retten.

Verzweifelt, voller Melancholie und Sehnsucht, aber auch ausschweifend und obsessiv sind die Facetten, in denen sich Stella dem Leser zeigt. Friedrich ist ihr vom ersten Moment an verfallen, und man versteht ihn. Seine Suche ist die nach dem Leben, ein Versuch des Ausbruchs aus dem Goldenen Käfig in der Schweiz. Naiv und aufgeregt auf der Spur von Verbotenem bewegt er sich wie in einer Twilight-Zone zur Realität, privilegiert und abgeschottet im Luxushotel und im nächtlichen Berliner Untergrund, gleichzeitig voller Wahn und abhängig von einer Frau, die ihn nahezu handlungsunfähig macht.

Es ist eine Geschichte der Grautöne, man bekommt vom Autor allerdings heftige Lektionen zur Realität und Objektivität durch eingeschobene Verhörprotokolle realer Prozessakten, in denen sich schwarz und weiß klar abzeichnen. Und gerade deshalb ist es trotz der Grauzeichnung eine sehr moralische Geschichte, die fesselnd, eindringlich und aufrüttelnd ist und mich voller Nachdenklichkeit zurück gelassen hat. Großer Applaus von mir dafür, verbunden mit einer dringenden Empfehlung zur Lektüre diese famosen Buches.

Veröffentlicht am 16.12.2018

Familienpuzzle

Der Apfelbaum
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Wenn der Schauspieler Christian Berkel ein Buch schreibt, noch dazu ein autobiografisch angehauchtes, ist man als Leser einerseits neugierig, andererseits zwiegespalten, ob das gut gehen würde. Soweit ...

Wenn der Schauspieler Christian Berkel ein Buch schreibt, noch dazu ein autobiografisch angehauchtes, ist man als Leser einerseits neugierig, andererseits zwiegespalten, ob das gut gehen würde. Soweit die Vorschusslorbeeren und die Zweifel, der Rest ist schriftstellerisches Können und eine äußerst interessante Familiengeschichte, die an ein paar Stellen phantastisch und sehr gekonnt ausgeschmückt wurde, und der man nicht anmerkt, dass es ein Debüt-Roman ist.

Das Buch „Der Apfelbaum“ erzählt von Christian Berkels jüdischer Mutter Sala Nohl, die sich als junge Frau mehr als Deutsche denn als Jüdin fühlt und natürlich dennoch aus Deutschland vor den Nationalsozialisten fliehen muss. Es erzählt auch von seinem Vater Otto, einem Berliner Ganoven, der Dank Salas Hilfe aus der Gosse entkommen und Arzt werden kann.
Die Haupthandlung folgt dem Lebensweg von Sala und Otto und überspannt eine Zeit von den 1920er Jahren bis in die 1950er Jahre, wo sich Sala und Otto nach ihrer Flucht und seiner Kriegsgefangenschaft wiedersehen können. Nationalsozialismus, Judenverfolgung und der Zweite Weltkrieg bestimmen Salas Leben in der Zeit dazwischen, sie verbringt es teils auf der Flucht in Paris und in Spanien, in einem Internierungslager in Spanien, und teils unter falscher Identität in Leipzig. Otto, Vater ihrer Tochter, ist zu Kriegszeiten in Russland bei der Wehrmacht als Arzt und gerät gegen Kriegsende in russische Gefangenschaft.
Die Geschichte bietet hier nur Hintergrund für den dramatischen Lebensabschnitt, den Sala und auch Otto beschreiten, die Nazizeit ist Auslöser für die Tragödie, die das Paar durchleben muss. Die Nazis spielen keine wesentliche Rolle in Berkels Roman, ohne diese Zeit zu verzuckern schafft es Christian Berkel, das Schicksal von Sala und Otto losgelöst von historischer Wertung zu erzählen, einfach nur als fast kinoreife Familientragödie mit einem Happy End.
Berkels Familienkosmos umfasst noch viele weitere interessante Figuren, die den Roman wie großes Kino erscheinen lassen, zumal alles auf wahren Begebenheiten beruht. Der Großvater lebte als einer der ersten in der Nudistenkolonie auf dem Monte Verità, hatte eine Liebesbeziehung mit Erich Mühsam und therapierte Hermann Hesse. Seine Großmutter kämpfte als Anarchistin in Spanien bei den Internationalen Brigaden auf Seiten der Republikaner, Berkels Großtante lernte in Paris beim Modezar Hermès ihr Handwerk und betrieb eine florierende eigene Boutique dort.

Die Geschichte ist souverän und mitreißend erzählt, die Handlung besitzt eine Dynamik, der man sich beim Lesen nicht entziehen kann. Passagenweise taucht Berkel in seinem Roman selbst auf, er erzählt von Treffen und Interviews mit seiner Mutter und von Nachforschungen zur jüdischen Vergangenheit seiner Familie in Lodz. Das macht die Geschichte für mich herausragend aus den vielen momentan auf dem Markt befindlichen deutschen Familiengeschichten, hier kommt Berkels schriftstellerisches Geschick für mich voll zum Tragen. Indem er nämlich die übliche Beschönigung und Weichzeichnung vieler Deutscher Geschichten beiseite wischt und sich selbst befragt, Täter-Opfer-Rollen ganz klar zuordnet und sehr ehrlich ins rechte Licht rückt.
Von mir gibt es großen Applaus für diese oftmals schwierige Ehrlichkeit und dafür, dass im Roman im wesentlichen eben nicht Geschichte analysiert und gewertet sondern auf sehr persönliche Art erzählt wird.
Das Buch sollte viele Leser finden, nicht zuletzt weil mehr von uns den Nazischwager Günther in ihrer Vergangenheit stehen haben als die jüdische Urgroßmutter Alta aus Lodz, und weil es wichtig ist, sich genau das einzugestehen.
Und davon abgesehen ist es einfach eine wunderbar elegant, spannend und mitreißend erzählte Familiengeschichte, die äußerst lesenswert ist.