"Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. Am 03. Mai 1977 um halb sieben Uhr morgens weiß niemand etwas außer der harmlosen Tatsache: Lydia kommt zu spät zum Frühstück." [S. 7]
Inhalt
Lydia Lee - 16-jährige Tochter von James und Marilyn, Schwester von Nath und Hannah - ist verschwunden. Ob sie weggelaufen oder etwas viel Schlimmeres passiert ist, bleibt erstmal ungeklärt. Lydias Muter ist allerdings schnell davon überzeugt, dass ihre Tochter Opfer eines Verbrechens goworden sein muss. Ihre Lydia: mustergültige Tochter, zurückhaltend, brav, Einserschülerin mit einer vielversprechenden Zukunft, wunderschön, beliebt und immer ein Lächeln auf den Lippen; ihre Lydia würde nicht einfach so weggehen.
Der Rest der Familie teilt Marilyns Überzeugung nicht, denn in jedem von ihnen gibt es dunkle Ecken, kleine dunkle Nieschen, wo sich das Ungesagte wie ein Berg schmutziger Wäsche auftürmt, lawinenartig auf die Familie zurollt und letztendlich alles ins Chaos stürzt.
"Wie hatte es angefangen? Wie alles: mit Müttern und Vätern. Mit Lydias Mutter und Vater, mit deren Müttern und Vätern. Weil vor langer Zeit ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sie zurückgeholt hatte. Weil ihre Mutter sich sehnlichst gewünscht hatte, aus der Menge herauszuragen, und weil ihr Vater sich sehnlichst gewünscht hatte, ein Teil der Menge zu sein. Beides war nicht möglich gewesen." [S. 31]
Meine Meinung
Celeste Ng hat in "Was ich euch nicht erzählte" ein absolut realistisches Szenario erschaffen, von dem ich weiß, dass es innerhalb mancher Familien genauso oder so ähnlich stattfindet. Und dieser Realismus ist es u.a. auch, der dafür gesorgt hat, dass mich beim Lesen von Anfag an ein gewisses Gefühl der Beklemmung begleitet hat; ohne dass ich eigentlich genau sagen konnte wieso. Im ersten Kapitel erfährt man als Leser nämlich nicht viel mehr als das Lydia, Tochter eines chinesischen Einwanderes in zweiter Generation und einer Amerikanerin, verschwunden ist. Aber ähnlich wie Lydias Mutter ahnt man, dass in dieser Familie etwas furchtbar schiefgelaufen sein muss und das nur, weil Marilyn, wie jeden Morgen, einen angespitzten Bleistift und Lydias Physiksachen - sechs Aufgaben markiert mit kleinen Häkchen - neben Lydias Müslischale gelegt hat und James in seinem Büro einen Marienkäfer mit seinem Daumen zerdrückt, weil er sich über einen Kollegen ärgert.
Was ich damit sagen will ist, dass Celeste Ng es schafft, ihre Figuren anhand von Nichtigkeiten zu charakterisieren, die oberflächlich betrachtet kaum Bedeutung zu haben scheinen, im Grunde genommen aber genau auf das Wesentliche hinweisen. Celeste Ngs Talent wenig zu sagen und trotzdem den Kern zu treffen hat mich sehr beeindruckt. Ihre eindrückliche Schreibweise lässt es nicht zu, keine Bedeutung hinter dem scheinbar Bedeutungslosen zu vermuten.
Als Leser spürt man vom ersten Moment an, dass man einen schwer zu verdauenden Roman in den Händen hält und mir kam es sogar ein bisschen so vor, als würde mir die Autorin auf den ersten paar Seiten zuflüstern: "Liebe Leserin, spürst du das? Spürst du, wie es unterschwellig brodelt; das Ungesagte. Noch weißt du es nicht. Noch kannst du dich dafür entscheiden, das Buch nicht zu lesen Noch ist es nicht zu spät."
"Nur wenige Tage zuvor, Hunderte von Meilen entfernt, hatte ein anderes Paar ebenfalls geheiratet - ein Weißer und eine Schwarze, die einen äußerst passenden Namen teilten: Loving. Vier Monate später wurden sie in Virginia verhaftet. Das Gesetz erinnerte sie daran, dass der Allmächtige Gott die Vermischung von Weiß, Schwarz, Gelb und Rot nie vorgesehen hatte, dass es keine Mischlinge geben sollte, keine Zerstörung von Rassenstolz." [S. 59]
Die Geschichte der Familie Lee behandelt viele Themen und wird über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten erzählt. Daher finden in "Was ich euch nicht erzählte" einige Zeitsprünge statt, die aber passend zur Handlung und nicht willkürlich stattfinden.
Da ich ein Kind der 80´er Jahre bin und mich, abgesehen von den Meilensteine der Geschichte, bislang nur oberflächlich mit den Jahren vor meiner Geburt beschäftigt habe, fiel es mir ab und an schwer, das Verhalten von Lydias Eltern nachvollziehen zu können. Es war viel zu leicht, sich in dem Gefühl von Unverständnis und Ärger zu verlieren.
Celeste Ng fordert ihre Leser indem sie vieles unkommentiert lässt und so liegt es an einem selbst zu entscheiden, weiter an der Oberfläche zu plantschen oder tiefer einzutauchen; auch auf die Gefahr hin hohe Wellen zu schlagen.
Mir persönlich ist es sehr wichtig, die Dinge um mich herum zu verstehen und daher war es ab und an notwendig, beim Lesen immer mal wieder innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken, um die Geschichte in ihrer Gesamtheit verstehen zu können. Auch wenn ich sagen muss, dass beim Lesen vieles in mir aufgewirbelt wurde und ich selten so mit jemandem mitgelitten habe wie mit Lydia. Aber letztendlich ist ein Buch ja erst dann wirklich gut, wenn es etwas mit einem macht.
"Noch während er die Worte ausspricht, zuckt er zusammen. Tief in seinem Inneren möchte er nichts lieber, als Nath an diesem schrecklichen Tag zu beruhigen, ihm tröstend die Hand auf die Schulter zu legen und ihn zu umarmen. Aber es kostet ihn schon alle Kraft, sein eigenes Gesicht zu wahren und darauf zu achten, dass seine Beine nicht unter ihm nachgeben und er zusammenbricht. Er wendet sich ab und packt Hannah am Arm. Zumindest Hannah macht immer, was man ihr sagt." [S. 27]
Der Roman thematisiert das Ungesagte und dessen Folgen. Die Autorin lässt dem Leser zwar ausreichend Raum für eigene Mutmaßungen, aber da man sich die meiste Zeit über in den Köpfen der Figuren aufhält, bekommt man nach und nach einen immer besseren Eindruck, mit was für Charakteren man es zu tun hat. Wirklich sympatisch war mir letztendlich niemand, aber wenn ich eines Tages plötzlich in der Lage wäre, die Gedanken meiner Mitmenschen verstehen zu können, würde ich wahrscheinlich auch niemanden mehr mögen; und andersherum ebenso. Die eigenen Gedanken sind ein geschützter Bereich und das ist auch gut so.
Trotz allem entwickelt der Roman ab einem bestimmten Zeitpunkt natürlich eine ungemein starke Sogwirkung. Früher oder später will man einfach wissen, was es mit Lydias Tod auf sich hat. Die Auflösung ist ebenso tragisch wie nachvollziehbar und hat mich wiederholt zu Tränen gerührt. Und obwohl ich grundsätzlich kein Freund davon bin, falsches Verhalten mit einer unschönen Vergangenheit zu rechtfertigen, so zeigt diese Geschichte wenigstens doch einmal mehr, wie wichtg es ist, den Kreislauf des vorschnellen Urteilens und gegenseitiger Ignoranz zu durchbrechen und aufeinander Acht zu geben. Denn Nichts ist so wie es scheint. Jeder hat seine eigene Geschichte und wir anderen sind nur die Zuschauer.
"Gefunden und verloren und wiedergefunden, verloren bei voller Sicht, an seinen Rücken gepresst, ihre Füße fest in seiner Hand. Wodurch wurde etwas kostbar? Indem man es verlor und wiederfand. " [S. 269]
"Was ich euch nicht erzählte" ist ein ruhiger, düsterer, facettenreicher, ungemütlicher und tieftrauriger Roman, der im Großen und Ganzen absolut stimmig ist. Man merkt, dass die Autorin viel Zeit und Mühe in die Fertigstellung dieser Geschichte und vor allen Dingen in die Charkterausarbeitung investiert hat. Einzig an der kleinen Hannah hat mich gestört, dass Celeste Ng ihr mehr Tiefgründigkeit zugestanden hat, als Kinder in diesem Alter meiner Meinung nach haben können, aber das ist nur ein kleiner Kritikpunkt über den ich gut und gerne hinwegsehen kann, weil es a) wunderbar mit der allgemeinen Stimmung des Romans harmoniert und b) Ansichtssache ist.
Was ich mit absoluter Sicherheit sagen kann, ist das Celeste Ng mit ihrem Debut eine schriftstellerische Meisterleistung vollbracht hat, die einen festen Platz in jedem Bücherregal haben sollte. Ich ziehe meinen imaginären Hut und freue mich auf weiterer Bücher dieser wunderbaren Autorin.