Ich bin in meiner Meinung zwiegespalten.
Die Handlung ist objektiv betrachtet wenig überraschend und nicht besonders innovativ. Schwerer wiegt die Auseinandersetzung mit den dargestellten Gedanken - im Band 1 die der 16-jährigen Entführten Lou und im Band 2 die des 22-jährigen Entführers Brendan. Es werden jeweils sämtliche Interaktionen und Beobachtungen intensiv gefühlsmäßig reflektiert, inklusive aller Ängste und Sehnsüchte.
Aufgrund der Erzählperspektive und der gewählten Sprache bilden Jugendliche und junge Frauen nach meiner Einschätzung die Hauptzielgruppe. Da das Identifikationspotenzial hier besonders hoch ist, wird dieser Adressatenkreis mit höherer Wahrscheinlichkeit das Dargestellte als glaubwürdig, sensibel und fesselnd beschreiben. Mir ist das komplette Fallenlassen und Mitfühlen über weite Strecken schwer gefallen, zum einen gibt es ein paar Längen (Darstellung banaler Gegenstände und Tätigkeiten), zum anderen gibt es für Erwachsene sicherlich vergleichbare Romane aus Erwachsenensicht.
Figur Lou: Aus ihrer Sicht wird Band 1 erzählt. Als Waise, Nesthäkchen und einziges Mädchen von ihren vier Brüdern verhätschelt, kommt die 16-jährige Lou zu Beginn oberflächlich daher, zeigt sich undankbar, naiv, mäßig intelligent, wenig vorausschauend und wenig empathisch. Sie ist gelangweilt vom Alltag in der Kleinstadt und wünscht sich mehr Abenteuer.
Das bietet für Erwachsene wie mich wenig Identifikationsmöglichkeit, für junge Frauen, die sich in der Abnabelungsphase vom Elternhaus befinden umso mehr. Da es sich um eine 16-Jährige handelt, ist diese Charakterisierung durchaus glaubwürdig geraten. Offensichtlich ist die Veranlagung der Hauptfigur durch die Autorin beabsichtigt, um in der persönlichen Reife Entwicklungspotenzial darzubieten. Obgleich noch ziemlich naiv agierend, wurde dieses Potenzial in der weiteren Handlung bei kritischer Auseinandersetzung mit ihrem Entführer und Flucht(plänen) zumindest streckenweise auch umgesetzt.
Figur Brendan: Aus seiner Sicht wird Band 2 erzählt. Der 22-jährige Entführer Brendan hatte traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit und Teenagerzeit, die ihn in der Gegenwart psychisch sowie physisch in Form von drastischen Aussetzern verfolgen und auf die im aus seiner Sicht dargestellten Band 2 noch näher eingegangen wird. Allein und ohne Lebensmut lebt er auf sich selbst gestellt im landschaftlich idyllischen kanadischen Yukon-Territorium. Gefühle, da ausschließlich negativ, möchte er verdrängen. Erfahrungen in tiefer Zuneigung oder gar Liebe hat er nicht. Über Facebook stößt er auf Lou, deren Schönheit und Lebensfreude ihn derart faszinieren, dass er sie nach langem Ringen mit sich selbst und nach sorgfältiger Planung entführt. Im Laufe des Romans spielen sich bei ihm äußere und innere Kämpfe, Reflektionen zu sich selbst und Lou ab (in Band 1 aus Sicht von Lou dargestellt). Diese Darstellungen, insbesondere in Band 2, sind nichts für schwache Nerven.
Die sprachliche Darstellung der Gefühlswelt ist einfach gehalten, ohne zu kitschig zu geraten, passt damit zur Figur Lou und erreicht einen großen Adressatenkreis.
Bei den Beschreibungen der Landschaft ist streng genommen ein Bruch im Erzählstil, da sich hier nicht Lous Vokabular bedient wird, aber das ist hier ein Pluspunkt, weil durch die Worte der Autorin eine schöne Atmosphäre erzeugt und die Vorstellungskraft der Leserschaft positiv angeregt wird.
Gefallen haben mir die poetisch angehauchten philosophischen Textpassagen, siehe auch beliebte Markierungen. Diese kennzeichnen regelmäßig Schlüsselmomente in der Handlung, die geeignet sind, den Funken überspringen zu lassen - zwischen Lou und Bren sowie zur Leserschaft.
Mein Kompliment an Mila Olsen für die neugierig machenden ersten Sätze sowie die letzten zwei Sätze des Romans.
Das Ende habe ich persönlich als wenig zufriedenstellend empfunden - Näheres mit Spoiler siehe unten.
Bei Band 2 finde ich das Ende treffender, sodass ich empfehle, diesen ergänzend oder parallel zu Band 1 zu lesen.
Ich vergebe 3 Sterne. Weniger wäre nicht fair aufgrund eines Gesamtwerkes, dass ich im Wesentlichen doch mit Spannnung (wenn auch eher als Zuschauerin) gelesen habe.
Begründung für das subjektiv nicht befriedigende Ende: Achtung, SPOILER!
Dass sich Lou infolge eines verständlicherweise körperlichen und emotionalen Ungleichgewichts in Verbindung mit einem Nahtoderlebnis von ihren Fluchtwünschen löst und vollumfänglich auf Brendan einlässt (Fluchtmöglichkeit wird nicht ergriffen, danach wilde Küsse, Sex, Liebesbekundungen), ist aus meiner Sicht noch einigermaßen glaubhaft dargestellt. Sich aber in Freiheit nach der Möglichkeit mehrmonatiger Reflektion bedenkenlos und ohne Nachfragen einem Mann in die Arme zu werfen, der mich gefangen gehalten hatte, mit sich selbst nach wie vor nicht im Reinen ist (Stichwort Selbstwertgefühl) und ohne intensive Psychotherapie doch jederzeit wieder Aussetzer bekommen kann (z. B. im Zuge eines Streits, den es im Rahmen einer jeden normalen Partnerschaft mal geben muss) und hierbei bleibende Schäden verursachen kann, war - auch beim Glauben an die Grenzen überwindende und heilende Kraft der Liebe - für mich zu naiv und kurz gegriffen. Zugegeben, Brendan gibt mit einem Satz an, er habe eine Therapie begonnen - das ist es aber auch schon. Kein Hinterfragen von irgendeiner Seite wird deutlich. Wenn man das z. B. auf weit verbreitete Alkoholsucht oder Depressionen überträgt, empfinde ich dieses Ende für die (wahrscheinlich viel aus weiblichen Teenagern bestehenden) Leser als moralisch bedenkliche Botschaft.
Auch dass Lous Bruder (in der Vaterrolle) hier nicht vermittelnd eingreift, z. B. wohlwollend im Vorfeld zum erneuten Treffen ein Auseinandersetzen mit der Zukunft und eine Gesprächstherapie für Lou anregt, ist wenig nachvollziehbar.
Ob man angesichts der Umstände auf beiden Seiten zweifelsohne von Liebe reden kann?! Naja, daran scheiden sich zu Recht die Geister. Die Annäherung ist ausreichend einfühlsam dargestellt und da sich die Hauptzielgruppe sicher ein Happy End wünscht, kann man das so stehen lassen.
Was aber obendrein unglaubwürdig auf mich wirkt, ist der Umstand, dass trotz polizeilicher und medialer Aufmerksamkeit kein Spezialist bei der Polizei, kein findiger Journalist oder Jugendamtsmitarbeiter und auch nicht Lous Brüder das fragile Lügengebilde binnen Minuten zum Einstürzen gebracht haben sollen. Dies hätte doch spätestens mit der Frage nach den Identitäten der vermeintlichen Mitausreißerinnen geschehen müssen.
Ich fürchte, dass sich insbesondere junge Leserinnen, die hier im Fokus stehen, zu wenig mit solchen Fragen auseinandersetzen und sich die Handlung damit im Romantischen verklärt. So manche Rezension bekräftigt mich noch in dieser Befürchtung. Gerade da dieser Roman ein Bestseller ist und psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft zunehmen, hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin am Ende des Romans das Krankheitsbild und mögliche Behandlungsmethoden mehr in den Vordergrund gerückt hätte, dies zumindest zwecks Sensibilisierung der Leserschaft mit mehr als der kurzen Aussage von Brendan, eine Therapie begonnen zu haben, angerissen hätte - gerade wo doch schon so viele Leser angebissen haben. Das hätte einen wertvollen Beitrag zur Herausholung psychischer Probleme aus der leider immer noch existierenden Tabu-Zone leisten können und diese Chance hat die Autorin leider nicht ergriffen.
Eine solche Aufarbeitung hätte ja einem durchaus wünschenswerten schlussendlichen Happyend nicht im Wege gestanden.
Erfreulicherweise erhält die psychische Aufarbeitung im Band 2, wo die gleiche Handlung aus Brendans Sicht dargestellt wird, etwas mehr Aufmerksamkeit. Ich habe mich folglich über Band 2 gefreut, mit dem auf einige meiner dargestellten Sorgen eingegangen wird.
Ich rate der Autorin Mila Olsen von einem Fortsetzungsroman (Band 3) ab. Ich bin in diesem Fall der Meinung, Jeder sollte sich das weitere Leben von Lou und Brendan selbst ausmalen.