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Veröffentlicht am 13.08.2019

Gefangen im geheimnislosen Traum der Kinder des Borgo Vecchio (S. 24)

Die Kinder des Borgo Vecchio
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Literatur ist dann auch Dichtung, wenn sie es schafft, Realität so in Sprache zu verdichten und umzusetzen, dass sie an Bedeutung gewinnt und etwas Größeres ausdrückt, das wir Leser erkennen und erfahren ...

Literatur ist dann auch Dichtung, wenn sie es schafft, Realität so in Sprache zu verdichten und umzusetzen, dass sie an Bedeutung gewinnt und etwas Größeres ausdrückt, das wir Leser erkennen und erfahren können. Giosuè Calaciura gelingt dies mit seinem Roman „Die Kinder des Borgo Vecchio“: Das Elend armer Klassen in abgehängten Vorstädten wird lebendig in der bedauernswerten Kindheit von Mimmo, Cristofaro und Celeste. Im Borgo Vecchio fallen tiefe Schatten auf die Träume und Pläne eines jeden, denn Armut, Gewalt und der mangelnde Wille zur Veränderung verhindern den Aufstieg, den Ausbruch, die Erfüllung der Träume.

Calaciura ist ein großartiger Erzähler, der mittels weniger Worte, die zugleich aber poetisch dicht glänzen, die kleinen Geschichten, Absichten und Erlebnisse der drei Kinder lebendig werden lässt – wie auch das ganze Viertel. Der robinhoodeske Gauner Totò nimmt vor den Augen des mitfiebernden Lesers seinen Kampf gegen das System auf und begegnet dem Wolf im Menschen. Die Hure Carmela erschafft in ihrem Bett ein kurzes Paradies inmitten des Elendsquartiers, verliert jedoch nie ihre Würde.

Die plastischen Figuren agieren in einem höchst lebendigen, vignettenreichen Schauplatz, der auf 153 Seiten mehr Farben und Formen erhält als man für möglich hält. Sprache kann so vieles, wenn Calaciura und seine geniale Übersetzerin Verena von Koskull sie gekonnt einsetzen. Und wenn der Brotduft durch die Nüstern aller Gassen weht (S. 44 ff.), dann wird die Lektüre zum synästhetischen Erlebnis fast aller Sinne.

„Die Kinder des Borgo Vecchio“ erzählt eine bekannte Geschichte aus der Armut und der Kindheit, spart nicht mit Abenteuer und Verrat und führt vor Augen – wie gute Literatur es vermag –, dass vermeintlich undurchbrechbare Kreisläufe gesprengt und nicht alle Träume zum Scheirtern verdammt sind, nur weil die Welt so grausam ist, wie sie vor allem im klammen Griff des Elends ist.

Ich bin begeistert.

Veröffentlicht am 10.05.2019

Das eigene Bücherzimmer oder vom „Wohlbefinden der Seele“

Die Bibliothek bei Nacht
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Es gibt diese Bücher, die bei der Lektüre ein warmes Licht ausstrahlen, den Rest der Welt in schläfrige Dunkelheit versinken lassen und um sich und ihren Leser herum eine behagliche Atmosphäre intimer ...

Es gibt diese Bücher, die bei der Lektüre ein warmes Licht ausstrahlen, den Rest der Welt in schläfrige Dunkelheit versinken lassen und um sich und ihren Leser herum eine behagliche Atmosphäre intimer Lektüre verbreiten. Das sind Bücher, die in sich die Geborgenheit der Bibliothek tragen – nicht jeder Bücherei, versteht sich, sondern der Bücherstube der Gelehrten, die ihre Bücherregale geschmackvoll mit Bildern und Erinnerungsstücken abwechseln und einen Raum als Rückzugsort kreieren, der die Sicherheit des Mutterleibs verströmt.

Alberto Manguels „Bibliothek bei Nacht“ ist ein solches Buch, das den Leser schon im Titel auf die Stimmung einstellt, die es vermitteln wird. Manguel erzählt eine ganz persönliche, bisweilen intime Kulturgeschichte der Bibliothek und verbindet seine herumschweifenden Gedanken und Anekdoten mit seinen eigenen Erfahrungen im Umgang mit seinen Büchern. Manguel geht es nicht um das Buch oder das lesen – denen widmet er sich in anderen texten. Hie rgeht es um den Raum, in dem die Bücher versammelt werden. Um das Wie, Warum, Womit, Wie lange und Für Wen.

Beeindruckend ist der breite Blickwinkel, mit dem Manguel durch die Landschaft seines Sujets schreitet, sich hier von einer Idee ablenken und dort von einer Anekdote locken lässt. Seine Bibliothek ist eine polyglotte Völkerverbinderin, die zu allen Zeiten, seit es Bücher gibt, und an allen Orten alle Menschen verbindet, die man als Leser bezeichnen kann. Alle Zeloten, Eiferer und Fanatiker, die womöglich aus dem Buch ihre zerstörerische Weltanschauung schöpfen, schließt Manguel aus, denn gelehrte Leser, die um des Lesens willen lesen, werden nicht fanatisch. Ihr Wahnsinn liegt allein in der Sucht, Bücher auf Bücher häufen zu wollen.

Der Text ist nicht in Bibliotheken der Religionen, Epochen, Nationen oder Sprachen gegliedert, sondern in Gedankenbahnen: Bibliothek als Mythos, als Ordnung, als Form, als Insel, als Identität und einige mehr. Manche der Bahnen beschreitet Manguel mit großer Sicherheit und lässt die Strecke wie ein weiches Sofa wirken – die Blibiothek als Ordnung, als Raum oder als Zuhause sind absolut zauberhafte Texte voller intimer Wärme, bibliophiler Begeisterung und wissenswerter Geschichten. Andere lassen bisweilen Details vermissen, die ich gern gelesen hätte: In der Bibliothek als Zufall hätte ich gern auch über die Einzigartigkeit jeder Bibliothek gelesen, weil sie nicht nur durch das Sammlerinteresse, sondern auch durch Zufall und Gelegenheit zu einem Gebilde gewachsen sind, das es so nur ein einziges Mal auf der Welt (und in der Zeit!) gibt. Manguel beschreibt mehr, wie das Schicksal der Welt viele Bibliotheken und Werke hat abhanden kommen lassen, so dass der Zufall bestimmt, was noch übrig ist – oder wie der Altgermanist Burkhart Wachinger ausgerufen hat: „Alle Überlieferung ist zufällig!“ Nicht ganz stimmig ist etwa die Bibliothek als Macht, in der Andrew Carnegie seinen paternalistischen Auftritt hat, weil die hier präzisierten Überlegungen nicht in das Grundkonzept des Buches zu passen scheinen.

Völlig im Fluss und regelrecht mitreißend sind Manguels Gedanken über die Bibliothek als Werkstatt oder als Zuhause, in denen der völkerverbindende, die Zeiten überdauernde Gemeinschaftssinn der Buchmenschen erklingt, ob es verständige Mullahs in der Wüste der Pilger, Betreiber von Eselsbibliotheken in den Anden oder reumütige Inquisitoren sind. Sie alle lädt Manguel wispernd in seine eigene Bibliothek und als Nachbarn in die Heimat der Lesenden, in die Mitte der angenehmen Lektüreerfahrung seines gelehrten Werkes.

Was andere kritisieren – die vereinbarte Wohligkeit der Schilderungen in diesem Buch – halte ich für seine Stärke: eine ganz wunderbare Schatzsuche vom heimatlichen Leseort aus.

Veröffentlicht am 18.01.2019

"Leben heißt ... nicht vor dem Tod zu sterben."

Kinderzimmer
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Die Mütter der Kinder von Ravensbrück bekommen in diesem Roman eine Stimme - viele Stimmen für viele Ermordete, viele gar nicht ins Leben Gelassene.

"Leben heißt ... nicht vor dem Tod zu sterben." (S. ...

Die Mütter der Kinder von Ravensbrück bekommen in diesem Roman eine Stimme - viele Stimmen für viele Ermordete, viele gar nicht ins Leben Gelassene.

"Leben heißt ... nicht vor dem Tod zu sterben." (S. 93).

Die Lektüre tut weh und lässt verzweifeln. Wann habe ich das letzte Mal beim Lesen geweint? Für Eltern ist es kaum auszuhalten zu lesen, was unsere Großeltern für Verbrechen begangen haben - auch und gerade an Kindern.

Wem das Leid noch nicht ganz deutlich gewesen ist, das die Deutschen mit ihren Konzentrationslager über die Menschen gebracht haben (viellecht das größte unter vielen anderen
Verbrechen), der lese diesen vielstimmigen Roman. Der Anfang mag nicht so literarisch sein, der Roman gewinnt an Dichte und Intensität mit jeder Seite.

Allen Geschichtsklitterern, Revanchisten und Schlussdebattenspinnern, die die Zeit des Nationalsozialismus für einen "Fliegenschiss" halten, verordne ich dieses Buch zur Pflichtlektüre.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Eine meisterhafte Miniatur - buchstäblich zeitlos!

Aura
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Eine der schönsten Liebensgeschichten, die ich kenne; eine Geschichte voller geheimnisvollem Zauber, liebesblinder Hingabe und rauschhaftem vergessen. Besonders gelungen finde ich die Aufhebung von Zeit ...

Eine der schönsten Liebensgeschichten, die ich kenne; eine Geschichte voller geheimnisvollem Zauber, liebesblinder Hingabe und rauschhaftem vergessen. Besonders gelungen finde ich die Aufhebung von Zeit und Raum, die Einebnung der Frage, wie alt man selbst ist, wie alt der Partner oder welchen Unterschied dies macht, Liebe Ist zeitlos.

Ich habe kein Buch häufiger verschenkt, als dieses Bändchen.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Mengele, Mensch und Monster

Das Verschwinden des Josef Mengele
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Oliver Guez wagt ein Experiment, nämlich einem Monstrum der Geschichte wie Josef Mengele ganz nah zu kommen. So nah, dass man diesen Inbegriff der Menschenquälerei plötzlich als Menschen wahrnimmt und ...

Oliver Guez wagt ein Experiment, nämlich einem Monstrum der Geschichte wie Josef Mengele ganz nah zu kommen. So nah, dass man diesen Inbegriff der Menschenquälerei plötzlich als Menschen wahrnimmt und nicht als Symbol.

Warum ist das gewagt? Weil bei solcher Nähe die Gefahr besteht, dass erstens der monumentale Menschenfeind Mengele zu einem banalen Verbrecher geschrumpft wird, einem Menschen mit Vater und Geschwistern, dem man als Leser zweitens so nahe kommt, dass man sich womöglich mit ihm und seinen Sorgen und Nöten identifiziert.

Guez gelingt diese Nähe, ohne dass Mengele auch nur zu einem einzigen Zeitpunkt sympathisch, bedürftig oder mitmenschlich erscheint. Im Gegenteil: Indem Guez das Symbol Mengele in seiner Menschlichkeit nachgerade auflöst, fragmentalisiert und filetiert, wird die „Banalität des Bösen“ nur umso sichtbarer: Es ist kein Monstrum, das als KZ-Arzt unmenschliche Versuche unternommen hat, sondern ein Mensch wie du und ich. Und das macht seine Verbrechen umso unverzeihlicher.

Gleichzeitig stehen einem beim Lesen die Nackenhaare zu berge, wenn langsam durch die Zeilen sickert, wie viel Hilfe der gejagte Kriegsverbrecher Mengele durch seine Familie, alte Kader und sogar Vertreter der Bundesrepublik erhalten hat. Hier wächst der Roman zum Lehrbuch der Geschichte aus.

Guez ist ein extrem schwieriges Unterfangen grandios gelungen. Ein großartiges Buch.