Profilbild von TochterAlice

TochterAlice

Lesejury Star
offline

TochterAlice ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit TochterAlice über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.02.2019

Aus Berlin wird Wien

Die Fliedertochter
0

Von Berlin nach Wien geht es Mitte der 1930er Jahre für die junge Luzie: nicht aus freiem Willen! Nein, der eklige Goebbels hat ein Auge auf die vielversprechende Schauspielerin geworfen und möchte sie ...

Von Berlin nach Wien geht es Mitte der 1930er Jahre für die junge Luzie: nicht aus freiem Willen! Nein, der eklige Goebbels hat ein Auge auf die vielversprechende Schauspielerin geworfen und möchte sie näher kennenlernen - was das heißt, ist allen klar. Ihm einen Korb zu geben, das würde Luzie sich schon trauen, aber sie muss auch andere schützen und begibt sich daher zur Wiener Verwandtschaft - Maria, Leo und dem kleinen Peter, die sie mit offenen Armen empfangen. Und nicht nur das: sie lassen auch ihre Kontakte für Lucie spielen und bald hat sie nicht nur ein Engagement an einer Bühne, sondern auch Verehrer noch und nöcher. Und die sind teilweise wesentlich ansprechender als Goebbels.

Zunächst kann Luzie in Wien das Leben mit ihrem Geliebten, dem Librettisten Bela, einem ungarischen Juden, der jedoch bereits seit seiner Kindheit in Österreich lebt, genießen - ihr einziges Problem vor Ort ist dessen Stiefbruder Richard, den sie fast ebenso attraktiv findet und er sie sowieso. Und natürlich die Sorge um das, was sie in Berlin gelassen hat. Doch bereits wenige Jahre später ist Wien mindestens genauso braun wie Berlin und Luzie muss ihre Haut retten - ein besonders fanatischer Nazi hat ihre Ablehnung nicht vergessen und will Rache!

Dass wir aber überhaupt von Luzies Schicksal erfahren, das verdanken wir Paulina, einer 30jährigen Künstlerin, die sich im Jahre 2018 auf Bitten einer alten Familienfreundin, Toni nämlich, wie ehemals Luzie von Berlin nach Wien begibt und dort Luzies Tagebuch zu lesen bekommt. Danach ist nicht nur für sie nichts mehr wie es vorher war!

Luzies ebenso spannendes wie tragisches Leben erlesen wir in allen Einzelheiten, denn es wird mit Herz und Verstand von Teresa Simon erzählt, die genau dieses exzellent beherrscht - das Schreiben kluger, fesselnder und unterhaltender historischer Romane, von denen man sich wünscht, dass sie nie zu Ende gehen! Ein solches Buch liegt nun vor Ihnen: genau das Richtige für freie Ferientage, an denen man unbegrenzt Zeit zum Schmökern hat. Und es geht hier nicht nur um Freundschaft und Liebe - gewisse Parallelen zwischen Luzies und Paulinas Schicksalen sind nicht zu übersehen!

Eine tolle Geschichte, bei der aber einige Entwicklungen ein wenig im Unklaren blieben. Da ich das Buch und die wunderbar gezeichneten Figuren so liebte, dass ich alles über sie erfahren wollte, hat mich das ein bisschen geärgert. Auf der anderen Seite jedoch empfinde ich es als authentisch - genauso ist es im wahren Leben (auch wenn ich mir eigentlich in einem Buch, das so mitreißend ist wie dieses, wünsche, alles genau zu erfahren, bis aufs letzte Fitzelchen). Weil ich von der Geschichte einfach nicht genug bekommen kann. Aber damit muss ich dann leben.

Trotzdem ein absolut rundes Ende, vor allem für Paulina und ihre Freunde und Verwandten in der Gegenwart, denn für sie schließt sich ein Kreis nicht nur im eigenen Leben, sondern auch in Bezug auf die Familiengeschichte. Dies ist der Autorin - wie auch alles andere - absolut großartig gelungen.

Ein wunderbares Buch, zu dem mir - man liest es in meinen Elogen - nur Superlative einfallen und das in mir ein warmes, wohliges Gefühl interlässt, weil es so viele meiner (Lese-)Bedürfnisse befriedigt hat: eindringliche, teilweise durchaus auch unkonventionelle Charaktere - mein Favorit war ein katholischer Priester, der sich in allerschwersten Zeiten um die Schwächsten kümmerte -, literarischer und historischer Anspruch, gute Unterhaltung, ein angenehmer, aber nicht zu glatter Stil - ein Roman, der trotz der Tragik, die sich im Erzählverlauf immer mehr offenbart, auch von Freundschaft, Liebe und Wärme handelt.

Veröffentlicht am 10.02.2019

Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land

Was uns erinnern lässt
0

So beginnt das "Rennsteiglied", in dem ein ganz besonderer Wanderweg besungen wird: ein Symbol gleichwohl für das geteilte wie auch für das wiedervereinigte Deutschland. Denn der Rennsteig führt durch ...

So beginnt das "Rennsteiglied", in dem ein ganz besonderer Wanderweg besungen wird: ein Symbol gleichwohl für das geteilte wie auch für das wiedervereinigte Deutschland. Denn der Rennsteig führt durch Thüringen und Franken, so ziemlich genau an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze entlang.

Vor dem zweiten Weltkrieg war er von Hotels gesäumt, einfachen und ziemlich eleganten. Ein besonders mondänes, in dem sich die feine Gesellschaft ein Stelldichein gab, war das "Hotel Waldeshöh" das über Jahrzehnte hinweg von Familie Dressel geführt wurde. Die Familie bewohnte das Haus auch noch, nachdem es Teil des Sperrgebiets, eines fünfhundert Meter breiten Streifens unmittelbar an der Grenze, geworden war. Ein hartes Leben, ohne eine besondere Genehmigung durfte niemand zu Besuch kommen und noch schlimmer: man selbst benötigte eine Genehmigung und musste diese ständig mit sich führen.

Eine Familiengeschichte, die im Dunkeln liegt, bis Milla, eine Anwaltsgehilfin Anfang Dreißig, im Rahmen der Suche nach "Lost Places" auf einen Keller stößt. Einen Keller mit nix drüber. Was hat es damit auf sich? Sie findet dort neben Marmeladen und Säfte, auch hausgemachten Wein aus den 1970er Jahren auch das Tagebuch eines jungen Mädchens, einer Christine. Und in ihr erwacht der Jagdtrieb. Was wohl aus ihr geworden ist? So alt ist sie doch noch gar nicht, so Mitte fünfzig müsste sie sein!

Milla findet nicht nur Christine, sondern so viel mehr und stößt auf ein trauriges Geheimnis. Eines, das keins sein sollte und das viel Leid gebracht hat. Dennoch ist dies längst nicht nur ein trüber und melancholischer Roman, es ist die Chronik einer Familie, möglicher Schicksale von DDR-Bürgern, die stellenweise traurig, andererseits aber auch sehr atmosphärisch und teilweise sogar idyllisch.

Ein ausgesprochen besonderer Roman über ein ebenso unbekanntes wie leidvolles Thema. Die Autorin Kati Naumann schreibt ebenso eindringlich wie bewegend, ich habe als Leserin auf jeder Seite gespürt, dass ihr dieses Thema am Herzen liegt. Und das hat sie nicht nur auf emotionaler, sondern auch auf professioneller Ebene ausgesprochen gekonnt umgesetzt! Manchmal waren mir einige Hinweise zu vage, sie blieben quasi in der Luft hängen. Aber das Thema ist so komplex, dass man als Autor gezwungen ist, Grenzen zu setzen - bei einem Thema, in dem es ständig um Grenzen geht! Ich bin beim Lesen einfach neugierig geworden und hätte ewig so weiterlesen können!

Eine ganz dicke Empfehlung für jeden, dem die jüngste deutsche Geschichte am Herzen liegt, der das Gefühl hat, längst nicht alles zu wissen. Ein dicker schwarzer Fleck kann durch die Lektüre dieses Buches definitiv mit Farbe gefüllt werden!

Veröffentlicht am 10.02.2019

Ein Handwerker der besonderen Art

Venuswalzer
0

ist Kevin, der sich für ein Geschenk Gottes an die Frauen hält, es aber nicht für nötig erachtet, diese auch gut zu behandelt. Nein, lieber hält er ihnen von seinem Arbeitsplatz auf dem Gerüst vor ihrem ...

ist Kevin, der sich für ein Geschenk Gottes an die Frauen hält, es aber nicht für nötig erachtet, diese auch gut zu behandelt. Nein, lieber hält er ihnen von seinem Arbeitsplatz auf dem Gerüst vor ihrem Fenster - Kevin ist Anstreicher - seine Kronjuwelen vor die Nase. Was das ist, was er selbst so euphemistisch tituliert, können Sie sich denken, ich allerdings will kein weiteres Wort mehr darüber verlieren, es ist schon so eklig genug.

Diesmal trifft es die stille Ruby, eine Einzelgängerin im Punk-Outfit, die die Stille liebt und gerne für sich ist - ihren Beruf hat sie als IT-Expertin entsprechend so gewählt, dass sie ihn von zu Hause aus ausüben kann. Konnte sie zumindest wunderbar, bevor Kevin sich ihr in voller Pracht zeigte und sie den Fehler machte, ihn auszulachen - danach nämlich ließ er sie nicht in Ruhe, bis er justament vor ihrem Fenster vom Gerüst stürzte - geradewegs ins Wachkoma. Schnell wird klar, dass dies kein Unglück, sondern etwas Vorsätzliches war und prompt gerät Ruby unter Verdacht.

Diese ist - es ist gut nachzuvollziehen - vollkommen außer sich und holt sich Beistand- von ihrem guten Kumpel, dem Journalisten Ben, der seinerseits der beste Freund der Astrologin Stella ist. Und wo ein armes Wesen Hilfe braucht, ist sie nicht weit. Ebenso wie ihre Großmutter Maria und bald schon haben sie eine Idee, wie sie den Verdacht von Ruby lenken könnten. Denn Kevin, der nun im Krankenhaus liegt bzw. vor sich hinvegetiert, hat eine Reihe Kollegen. Die sich durchaus merkwürdig benehmen. Und bald schon stecken Stella und Maria mitten in den Ermittlungen Marke Eigenbau, was Kommissar Arno Tillikowski gar nicht gefällt...

Wie auch in den Krimödien um Loretta Luchs, Mitarbeiterin eines Call-Centers der besonderen Art und ebenfalls Bochumerin, findet sich hier also ein munteres Trüppchen zum gemeinsamen Ermitteln zusammen. Wobei das manchmal auch eher nebenher läuft. Aber immer wieder sind sie Arno einen Schritt voraus - mindestens.

Dies ist nach "Planetenpolka" bereits der zweite Band um Astrologin Stella freue mich schon sehr auf den dritten, weil ich gespannt bin, wie sich die Dynamik unter diesen ganzen Figuren so weiter entwickelt. Und weil ich Stella und Maria, ebenso das weitere Stammpersonal schon richtiggehend in mein Herz geschlossen habe. Eine toll(kühn)e und witzige Ruhrpottstory mit dem gewissen Pfiff!

Veröffentlicht am 19.01.2019

Eine ungewöhnliche Versammlung

Die Aussprache
0

Es ist eine ausgesprochen ungewöhnliche Versammlung, die hier im Geheimen auf dem Heuboden eines dementen alten Mannes stattfindet in Molotschna, einer Mennonitenkolonie in Kanada, deren Mitglieder ebenso ...

Es ist eine ausgesprochen ungewöhnliche Versammlung, die hier im Geheimen auf dem Heuboden eines dementen alten Mannes stattfindet in Molotschna, einer Mennonitenkolonie in Kanada, deren Mitglieder ebenso abgeschieden wie - aus Sicht der sogenannten modernen Welt - rückständig leben und sich Gott anvertraut haben.

Umso ungeheuerlicher, was sich gerade dort zugetragen hat! Über Jahre hinweg hat eine Gruppe von Männern Frauen und Mädchen betäubt und mißbraucht - Nachts im Schlaf. Nur durch Zufall wurden die Schuldigen entdeckt und stehen nun in der Stadt vor Gericht.

Acht Frauen, Vertreterinnen dreier Generationen aus zwei Familien, wollen nicht wie die anderen einfach weitermachen, sondern sich wehren, indem sie etwas ändern. Die Versammlung dient der Entscheidung: soll gekämpft oder gegangen werden?

Da alle Frauen Analphabethinnen sind, haben sie August Epp, der eine Außenseiterposition in der Kolonie einnimmt, gebeten, ihre Sitzungen zu protokollieren.

Diese Protokolle, in denen jedoch auch der Blick auf Augusts eigenes Leben, seine Vergangenheit gerichtet wird, sind die Grundlage dieses Romans, der einerseits eine große Trauer, andererseits eine ungeheure Kraft beinhaltet, die ich während meiner Lektüre als sehr faszinierend empfand.

Die kanadische Autorin Miriam Toews war mir bisher nur vom Namen her bekannt und was bin ich froh, dass sich das nun geändert hat. Denn in ihrem Roman zeigt sie auf, dass es selbst in der ausweglosesten Situation einen Ausweg gibt - egal wie schutzlos auch die Suchenden sind. Sie zeigt klar die Werte auf, die dafür grundlegend sind: Mut, Zusammenhalt und auch Zuversicht.

Ein überaus ungewöhnlicher Roman, dessen besonderer Charme darin besteht, dass ein Mann über die Belange der Frauen berichtet: natürlich auch über seine eigenen, doch die dienen eher als Ergänzung zu den zentralen Entwicklungen - und die ranken sich nun mal um die acht Frauen, die sich dort zusammengefunden haben.

Ein sehr lakonischer, ja sparsamer Stil ist es, den Autorin Miriam Toews hier verwendet und gerade dadurch ist die Klarheit der Worte, der Gedanken, so ungeheuer eindringlich.

Stellenweise hat sie mich in ihrer Hinwendung zum Ursprünglichen an Louise Erdrich erinnert, auch wenn es nicht um die indigene Bevölkerung Nordamerikas, sondern um Mennoniten geht. Doch in ihrer Auseinandersetzung mit der jeweiligen außenstehenden Bevölkerungsgruppe ähneln sie sich in meinen Augen. Ein Roman wie ein Blitzeinschlag: Eigentlich passiert nicht viel, aber es steckt eine ungeheure Kraft hinter der ganzen Geschichte. In der ganzen Ernsthaftigkeit, der Achtung der Autorin vor dem Schicksal ihrer Protagonistinnen steckt eine gewisse Leichtigkeit, sogar ein nicht erwarteter Übermut, stellenweise auch Humor - all das kommt überraschend, fügt sich aber ausgesprochen stimmig in die Entwicklungen ein.

Ein Roman, den ich jeder Frau empfehle. Nein, eigentlich empfehle ich ihn jedem, dem die Geschicke der Frauen - ob im Besonderen oder Allgemeinen - am Herzen liegen!

Veröffentlicht am 10.04.2019

Fräulein Nette ist ein ganzer Kerl

Fräulein Nettes kurzer Sommer
0

zumindest, was ihre Interessen anbelangt - Annette von Droste-Hülshoff oder Nette, wie das adlige Fräulein in Familienkreisen genannt wird, hat es nicht so mit Weiberkram: weder mit Handarbeiten noch mit ...

zumindest, was ihre Interessen anbelangt - Annette von Droste-Hülshoff oder Nette, wie das adlige Fräulein in Familienkreisen genannt wird, hat es nicht so mit Weiberkram: weder mit Handarbeiten noch mit Pflanzen und schon gar nicht mit Küchenkram! Nein, die junge Frau findet Männergespräche wesentlich interessanter - in denen geht es um Politik, Finanzen oder sogar - und das ist ihr das Liebste- um Literatur.

Vor allem im Freundeskreis ihres Onkels August von Haxthausen, der in Göttingen studiert und sie alle kennt - die Grimms - noch sind sie nicht als die Brüder Grimm bekannt -, den Hoffmann (von Fallersleben) und vor allem den Straube. Er, der so gar nicht von blauem Blut ist und von August aufgrund seiner dichterischen Begabung durchgefüttert wird, hat nämlich ein Auge auf Fräulein Nette geworfen. Und sie auf ihn. Soweit es ihr möglich ist - sie ist nämlich stockblind, zumindest jedoch extremst kurzsichtig. Auch ansonsten ist sie gesundheitlich nicht ganz auf dem Damm.

Weswegen ihr keine Brille und weitere Hilfmittel, sondern eine Trinkkur in Bad Driburg gemeinsam mit der Großmutter verordnet wird - eines der absoluten Highlights im Roman! Autorin Karen Duve, von der ich bereits einiges gelesen - und genossen - habe, hat hier aus meiner Sicht ihr absolutes Paradestück abgeliefert. In einer wunderbaren, gleichzeitig dem Zeitalter des Biedermeier und der Romantik wie auch der Gegenwart gerecht werdenden Sprache öffnet sie uns die Augen für die Welt des Fräulein Nette.

Stets schwing ein sanfter, warmherziger Humor mit, mehr als nur ein Hauch davon und richtig grob wird er nur dann, wenn es dem Fräulein Nette mal wieder an den Kragen geht. Was - im übertragenen Sinne - fast ununterbrochen der Fall ist, denn sie ist nicht von ihrer Welt. Also von der damaligen Welt. In diejenige unserer Zeit hingegen würde sie um einiges besser passen, denn hier müsste sie nicht in allem und jedem den Männern den Vorrang lassen, ja sogar hinnehmen, dass diese sie hinsichtlich ihrer literarischen Ambitionen so gar nicht ernst nehmen. Obwohl sie ihnen nicht nur ein Mal den Wind aus den Segeln nimmt.

Die Autorin rächt sich ein bisschen, rächt vielmehr sie, unser reizendes Fräulein Nette also, indem sie das starke Geschlecht in der Auseinandersetzung mit ihr das ein oder andere Mal ganz schön dumm dastehen lässt. In engen Grenzen, versteht sich, denn die wurden damals ja leider gezogen, was auch in diesem Roman wieder und wieder deutlich wird.

Aber gerade deswegen ist dieser Roman so wichtig: Karen Duve räumt auf mit dem bieder(meier)en Bild der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff und setzt ihr Denkmal um. Oder neu!