RAF Terrorismus und seine Aufarbeitung
Nach 20 Jahren Gefängnis wird die ehemalige RAF Terroristin Martina Müller begnadigt und entlassen. Diese Nachricht trifft viele Personen wie ein Schlag ins Gesicht, insbesondere natürlich die Hinterbliebenen ...
Nach 20 Jahren Gefängnis wird die ehemalige RAF Terroristin Martina Müller begnadigt und entlassen. Diese Nachricht trifft viele Personen wie ein Schlag ins Gesicht, insbesondere natürlich die Hinterbliebenen des Anschlags, an dem Martina beteiligt gewesen ist. Damals wurde ein Staatssekretär ermordet, seine Leibwächter und sein Fahrer kamen ebenfalls ums Leben. Nur Steffen Seidel, einer der Personenschützer, hat mit schweren Verletzungen überlebt und leidet bis heute an den körperlichen und psychischen Folgen des Attentats. Er hat sich mit seinem Lebensgefährten ein ruhiges Leben aufgebaut und hat Angst davor, dass nun alles wieder aufgewühlt wird, vor allem, weil er sich selbst nicht mehr genau an die Geschehnisse von damals erinnern kann. Dann sind da noch Michael Werder, der Sohn des ermordeten Staatssekretärs, der selbst in die Politik gegangen ist sowie Alex Gschwindner, der Sohn des Chauffeurs, der heute Journalist ist. Aber auch Martina Müller hat eine Tochter, die bei den Großeltern aufgewachsen ist und sich nun ihrer Mutter stellen muss. Angelika ist glücklich verheiratet, selbst Mutter von zwei kleinen Söhnen und hat nie verstanden, was Martina damals dazu getrieben hat, der RAF beizutreten und gegen den Staat zu kämpfen.
Durch die verschiedenen Figuren hindurch zeigt Autorin Tanja Kinkel die Geschichte der RAF und der Bundesrepublik Ende der 60er und in den 70er Jahren aus verschiedenen Perspektiven. Sie schildert den Weg einer ganz normalen jungen Frau aus bürgerlichem Elternhaus in die Radikalität. Sie zeigt den aus heutiger Perspektive kaum mehr nachvollziehbaren Wahnsinn der damaligen Zeit, genauso wie die schwierige Aufarbeitung gute 20 Jahre später.
Aufgrund der vielen Figuren und des Stoffes, der zumindest mir nicht so wirklich bekannt ist, war das Buch keine ganz einfache Lektüre. In meiner Schulzeit endete der Geschichtsunterricht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, deutsche Geschichte danach war kein Thema mehr. Dabei lesen sich die Geschehnisse, die ja nicht erfunden sind, wie ein Krimi. Der Autorin gelingt es meiner Meinung nach hervorragend, diese Zeit und vor allem den Zeitgeist damals darzustellen. Ich habe bei der Lektüre einiges gelernt und wurde angeregt, vieles nachzulesen, um wenigstens ein paar Wissenslücken zu schließen. Im Buch wird aber auch deutlich, wie komplex und vielschichtig die damalige Situation war.
Gerade deswegen wieder finde ich es auch immer wieder faszinierend, wie Tanja Kinkel mit jedem Buch einen ganz neuen Stoff angeht. Ob es nun um eine Mongolenkaiserin geht oder um den deutschen Herbst, man spürt die genaue Recherche und das Einfühlen in die jeweiligen Personen und Gegebenheiten und hat beim Lesen das Gefühl: so könnte es gewesen sein. Ich bin jetzt schon sehr gespannt, welcher Zeit und Region sie sich als nächstes literarisch widmen wird!