+ Achtung: Die Rezension enthält Spoiler! +
Inhalt
Eigentlich ist Emmas Leben ziemlich perfekt. Sie ist eines der beliebtesten Mädchen der Schule, wird um ihre Schönheit beneidet und hat viele Freunde. Die meisten Mädchen wollen sein wie sie und die Jungen reißen sich um ihre Aufmerksamkeit. Emma genießt ihr Leben, nichts scheint ihr etwas anhaben zu können. Doch alles ändert sich, als sie auf einer Party Drogen nimmt und vom Trainer der Footballmannschaft vergewaltigt wird, der einfach nicht aufhört, als Emma ihn darum bittet. Doch der Abend wird noch viel schlimmer: Emma wird ohnmächtig und wird daraufhin von einer Gruppe Schulkollegen missbraucht. Die verabscheuungswürdige Tat wird gefilmt und fotografiert und landet auf Facebook. Schließlich ist es eine aufmerksame Lehrerin, die die Seite sieht und sich mit der Polizei in Verbindung setzt. Emma beschließt Anzeige zu erstatten. Eine Entscheidung, durch die sie in ein tiefes Loch fällt. Die ganze Stadt scheint sich gegen sie verschworen zu haben, stellt sich auf die Seite der Vergewaltiger und behauptet, Emma wäre eine Lügnerin. Ihr eher promiskuitives Liebesleben scheint der Beweis zu sein: Eigentlich wollte sie es doch…
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Carlsen
Seitenzahl: 368
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens (selten auch Präteritum)
Perspektive: weiblicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet. Aber: Weil auch in diesem Roman eine Katze alleine gehalten wird, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.
Warum dieses Buch?
Als ich dieses Buch entdeckt habe, war mir sofort klar, dass ich es unbedingt lesen musste. Als angehende Lehrerin, Frau und Feministin liegt mir dieses Thema und die gesellschaftlichen Strukturen, die damit in Verbindung stehen, am Herzen. Da es sich hier um ein Jugendbuch handelt, war ich natürlich sehr gespannt, wie die Autorin das Thema in ihrem Buch verarbeitet.
Meine Meinung
Hier gleich eine Warnung: Diese Rezension ist sehr, sehr lang geworden. Aber es gibt meiner Meinung nach zu diesem wichtigen Thema, das mir sehr am Herzen liegt, sehr viel zu sagen.
Einstieg (+/-)
Der Einstieg ist mir nicht ganz so einfach gelungen. Das lag an zwei Dingen: Zum einen passiert am Beginn lange Zeit nichts wirklich Spannendes (hier wird der Alltag der Hauptfigur geschildert), zum anderen fand ich Emma am Anfang sehr unsympathisch und wurde einfach nicht mit ihr warm. Dies hat sich aber im Laufe des Buches zum Glück geändert.
Schreibstil (+)
Feinfühlig und in einem einfachen, angenehm lesbaren Schreibstil, der für die Zielgruppe sehr gut geeignet ist, erzählt die Louise O’Neill Emmas Geschichte. Emmas bedrückende Gefühls- und Gedankenwelt wird intensiv und authentisch geschildert, immer wieder gibt es sehr bildhafte Beschreibungen und Einschübe und Fragen in Klammern, die oft jene Gedanken beinhalten, die die Heldin eigentlich nicht wahrhaben oder zulassen möchte.
„Dylan kniet auf dem Mädchen (‚auf mir, mir, aber das kann nicht ich sein, das bin nicht ich‘), legt die Hände auf das (auf mein … nein, ihr) Gesicht, als wollte er es verdecken. Sie hat kein Gesicht.
Sie ist nur ein Körper, eine lebensgroße Spielpuppe.
Sie ist ein Es. Ein Ding (‚ich, ich, ich, ich, ich‘).“ E-Book, Position 1605
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)
Louise O’Neill Beitrag zur aktuellen MeToo Debatte hat mehrere Preise erhalten und in Irland sogar Platz 1 der Bestsellerlisten erreicht. Das zeigt, dass die Bevölkerung sich mit diesem Thema auseinandersetzt und dafür zunehmend sensibilisiert wird. Die Geschichte ist in zwei Teile geteilt: Der erste davon beschäftigt sich mit Emmas Leben vor und kurz nach der Vergewaltigung, in der zweiten Hälfte springen wir ein Jahr in die Zukunft, wo wir als LeserInnen auf eine vollkommen veränderte Emma treffen. Louise O'Neill beschreibt die Welt nicht, wie sie sein sollte, sondern wie sie leider immer noch ist. Die Autorin versucht mit diesem Buch aufzurütteln, was ihr meiner Meinung nach ausgezeichnet gelingt.
Ich habe dieses Buch schon vor Wochen beendet, habe die Rezension aber vor mir hergeschoben, weil ich einfach nicht wusste, wie ich beginnen sollte, da mich dieses Buch so aufgewühlt hat. Womit ich nämlich nicht gerechnet habe, war die unbändige Wut, die in mir hochgekocht ist und eigentlich während der gesamten Lektüre in meinem Bauch gebrodelt hat. Was mich so wütend gemacht hat:
Der Umgang des Umfelds mit Emmas Trauma: Das beginnt schon einmal mit ihrem Bruder, der das Video online sieht und Emma erst einmal mitteilen muss, wie sehr er sich für sie schämt. Jeder Blinde hätte auf den ersten Blick erkannt, dass Emma bewusstlos war und missbraucht wurde! Auch die Eltern fand ich furchtbar. Der Vater ist enttäuscht, dass die Tochter offensichtlich vorher schon keine Jungfrau mehr war, und die Mutter, eine typische Hausfrau der alten Generation, die den einzigen Wert einer Frau in ihrem Aussehen und in ihren Hausfrauenqualitäten sieht, geht ebenfalls absolut falsch und unsensibel mit der Situation um. Sie kämpft nicht wie eine Löwin für ihre Tochter, sondern schämt sich und fragt sich ständig: „Was sollen denn die Leute denken?“
Am schlimmsten fand ich aber, dass sie „zur Feier des Tages“ Pfannkuchen für ihre Tochter macht, als diese sich entschließt, zu schweigen, die Anzeige zurückzuziehen und die Stadt nicht weiter gegen sich aufzubringen. Sie ist erleichtert, dass sie nun endlich alles totschweigen kann und so tun, als wäre es niemals geschehen. Die Eltern sind stolz auf ihre Tochter – darauf, dass sie sich selbst verrät.
Durch den Bruder (der sich weiterentwickelt), Connor und die engagierte Lehrerin, die vorbildlich handelt gibt es immerhin kleine Hoffnungsschimmer. Wäre Emmas Umfeld ein anderes, unterstützenderes, liebevolleres, das an ihrer Seite kämpft, dann wäre die Geschichte vermutlich anders ausgegangen und Emma würde ihr Trauma auch leichter verarbeiten können.
Auch viele andere strukturelle Probleme, die mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen, werden von der Autorin tiefgründig und kritisch behandelt. Daher möchte ich dieses Buch gerade jenen Menschen ans Herz legen, die immer noch glauben, dass wir Feminismus und Debatten wie #MeToo eigentlich gar nicht mehr brauchen. Schaut euch die Frauenfiguren in Videospielen an (meine Hassfigur ist hier „Quiet“ aus Metal Gear Solid V), schaut euch Filme und Werbung an. Fakt ist, wir haben immer noch massive Probleme mit Gleichberechtigung, Sexismus und Rollenstereotypen. Am schlimmsten finde ich jedoch, dass Victim blaming (dt. das Opfer beschuldigen) und Rape culture (dt. Vergewaltigungskultur) immer noch so stark in der Gesellschaft verankert sind. Wenn jemand vergewaltigt wird, wird oft nicht in erster Linie versucht, das Opfer zu unterstützen und den Täter zur Verantwortung zu ziehen. Viel öfter werden zuerst einmal Fragen gestellt: Hatte das Opfer nicht einen kurzen Rock an? Hatte es nicht diesen großen Ausschnitt? Hat sie Alkohol getrunken, den Kerl hereingebeten oder sich von ihm einladen lassen? Und dann kommt die verquere, traurige Schlussfolgerung: Ganz klar, sie war selbst schuld! Das muss endlich aufhören! Niemand ist selbst schuld, wenn ihm Gewalt widerfährt!
Frustrierend finde ich auch die Zeitungsartikel, die die Wirklichkeit verzerren und uns Frauen das Bild vermitteln, dass die größte Gefahr vom unbekannten Fremden ausgeht, der uns nachts in einer dunklen Gasse auflauert. Die Wahrheit sieht leider anders aus: Die größte Teil der Vergewaltigungen passiert im Familien-, Verwandten- und Freundeskreis – falls euch also jemals jemand so etwas Schlimmes antun sollte, wird es mit größter Wahrscheinlichkeit jemand sein, den ihr kennt und dem ihr vertraut. Nur wenige Taten werden angezeigt, weil es so selten zur Verurteilung kommt (laut Buch in Irland 1%). Viel zu oft steht Aussage gegen Aussage. Übrigens machen „erfundene“ Vergewaltigungen nur einen ganz kleinen Prozentsatz aus (die Dunkelziffer jener Fälle, die aus falschen Schuldgefühlen nicht angezeigt werden, ist hierbei weit höher), also bitte denkt daran, wenn ihr das nächste Mal einen Zeitungsartikel kommentiert, und dem Opfer vorwerft, dass es ja nur Aufmerksamkeit will.
Sehr anschaulich beschrieben hat die Autorin auch die unerklärlichen Schuldgefühle, die Opfer häufig haben. Emma fühlt sich schuldig, sie hat das Gefühl, sie hat das Leben ihrer Familie, der Täter, ihrer Freunde, der ganzen Stadt zerstört. Man möchte beim Lesen Emma umarmen und viele der sich furchtbar dumm verhaltenden anderen Figuren anschreien. Zwei große Probleme, die eng mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen, sind zum einen schädliche Rollenstereotypen (diese halten die Ungleichheit aufrecht) und Sexismus und zum anderen das intensive Slut shaming, das immer noch betrieben wird, oft auch von Frauen. Ein Mann, der ein aufregendes Liebesleben hat, ist ein Held, eine Frau hingegen eine Schla+++. Diese Doppelmoral und diese Versuche, Frauen kleinzuhalten und zu kontrollieren, müssen endlich aufhören. Wir haben das Jahr 2019 und es gibt keine Schla+++, Hu+++ und Bit+++ - nur Frauen, die ihr Liebesleben so gestalten, wie es ihnen gefällt. Und das ist ihr gutes Recht – Männer machen das schließlich schon immer! Darum: Wenn jemand in eurem Umfeld Slut shaming betreibt, sprecht es an, auch wenn es nicht immer leicht ist. Denn: Bewusstsein dafür zu schaffen, wie schädlich unser misogynes Verhalten ist, ist der erste Schritt in Richtung Veränderung. Und mein persönlicher Tipp: Menschen, die den „Wert“ einer Frau heutzutage immer noch an der Zahl ihrer Sexualpartner bemessen, einfach konsequent aus dem Freundeskreis aussortieren.
Auch dieses Konzept des Vaters, der die „Verehrer mit dem Knüppel“ abwehren muss oder der seiner Tochter sagt, dass sie erst mit 30 einen Freund haben dürfe, ist nicht mehr zeitgemäß. Warum darf der Sohn seine eigenen Erfahrungen machen, das Mädchen aber muss von Jungen ferngehalten werden? Kleiner Tipp an dieser Stelle: Aufklärung ist das Zauberwort, sie führt im Gegensatz zu zahlreichen Verboten wirklich zu weniger Teenagerschwangerschaften. Und meine Botschaft an junge Mädchen: Lasst euch nicht zu etwas drängen, was jemand anders will, sondern tut Dinge nur, wenn IHR sie wollt.
Louise O’Neill entscheidet sich in ihrem Buch für ein ungewöhnliches, ernüchterndes, frustrierendes, schmerzhaftes Ende, das aber leider glaubwürdig ist. Dieses Ende und der schädliche Umgang praktisch aller Menschen in Emmas Umfeld mit ihrem Trauma führen jedoch dazu, dass ich mir nicht sicher bin, ob dieses Buch für Jugendliche geeignet ist. Das Opfer leidet, die Bösen kommen mit ihren Taten davon und es gibt keine positiven Vorbilder und Strategien, die sich betroffene Mädchen abschauen können. Viel eher denke ich, dass sich beim Lesen ein Gefühl der Hilflosigkeit einstellen wird, das Gefühl, nichts gegen so eine Tat tun zu können. Daher: Für Erwachsene ist dieses aufrüttelnde, eindringliche Buch sicher perfekt geeignet, für Schüler*innen / Jugendliche nur, wenn das Buch im Unterricht behandelt und intensiv nachbearbeitet wird.
Protagonistin und Figuren (+/-)
Die Autorin hat hier etwas sehr Mutiges gewagt: Sie wählt eine Hauptfigur, die am Beginn sehr oberflächlich, arrogant und egoistisch ist, zu der man keine Sympathien aufbauen kann. Doch gerade anhand dieser schwierigen Heldin wollte Louise O’Neill zeigen, dass niemand, auch Emma, eine Vergewaltigung verdient hat und wie eine solche Tat das Leben auch einer selbstbewussten, beliebten jungen Frau zerstören kann. Die Emma, die wir im zweiten, noch viel bedrückenderen Teil der Geschichte kennenlernen, ist eine veränderte, zerstörte Emma, die unter Depressionen leidet, das Haus nicht mehr verlässt und mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Beiläufigkeit und Nüchternheit, mit der Emma ihre Selbstmordgedanken erwähnt, schockiert. Dieses Thema behandelt die Autorin sehr glaubwürdig, aber auch deswegen könnte das Buch für Jugendliche sehr schwer zu verdauen sein.
Die anderen Figuren sind gut ausgearbeitet, auch wenn bei manchen (z. B. beim Vater) noch Luft nach oben ist und auch wenn manche nur eine kleine Rolle in der Geschichte erhalten. Macht euch beim Lesen jedoch dafür bereit, auf ein außergewöhnlich unsympathisches Figurenensemble zu treffen, das eure Geduld auf eine harte Probe stellen wird.
„(Gleichzeitig wünschte ich mir, ich könnte davontreiben. Ich wünschte, ich könnte mich in so viele kleine Stücke zerschneiden, dass nichts mehr von mir übrig bleibt.)“ E-Book, Position 3127
Spannung & Atmosphäre (+/-)
Nicht ganz so gut gefallen hat mir, dass die Autorin zum einen wichtige Schlüsselszenen / lange Zeitabschnitte übersprungen hat (das Verhör der Polizei etc.), während der ich Emma gerne begleitet hätte. Das hätte auch die Bindung zu ihr noch verstärkt. Zum anderen fand ich das Buch teilweise, in jenen Abschnitten, in denen nichts Nennenswertes passiert (z. B. am Anfang) oder in denen sich die Handlung im Kreis dreht, etwas langatmig. Wenn man an solchen Stellen gekürzt hätte, wäre das Buch noch knackiger, intensiver und besser geworden. Trotzdem wollte ich immer unbedingt wissen, wie es weitergeht, eine Grundspannung war also vorhanden. Louise O’Neill gelingt es, eine sehr beklemmende Atmosphäre zu kreieren, die für viel Wut, Mitgefühl und Frust sorgt.
Feministischer Blickwinkel (♥)
Viele weibliche und männliche Figuren sind im Buch sehr stereotyp (was Geschlechterrollen betrifft) dargestellt. Da die Autorin dies jedoch macht, um damit aktuelle gesellschaftliche Probleme zu kritisieren und dafür Bewusstsein zu schaffen, ist das natürlich positiv. Überhaupt hat die Autorin für ihren Mut, ihr ehrliches, kritisches Nachwort und die gelungene Verarbeitung der schwierigen (und doch so wichtigen) Themen nur eines verdient: ganz viel Lob und Anerkennung!
Mein Fazit
„Du wolltest es doch“ ist ein aufwühlender, beklemmender Jugendroman, der vielen Menschen die Augen öffnen wird und der sehr wütend macht. In einem angenehmen, einfachen und doch sehr intensiven Schreibstil erzählt die Autorin Emmas Geschichte und thematisiert dabei authentisch, feinfühlig und tiefgründig Themen wie Vergewaltigung, Sexismus, Slut shaming, Victim Blaming und Genderstereotypen. Für ihren Mut, eine zu Beginn eher unsympathische Figur zur Protagonistin ihres Buches zu machen und für ihre gelungene Kritik schädlicher gesellschaftlicher Strukturen, die Frauen immer noch benachteiligen, hat die Autorin vor allem eines verdient: viel Lob und Anerkennung. Aufgrund der beklemmenden Atmosphäre, des schädlichen Verhaltens fast aller im Buch vorkommenden Figuren und aufgrund des zwar realistischen, aber sehr frustrierenden, ernüchternden Endes, das zu Gefühlen der Hilflosigkeit führen kann, würde ich das Buch Jugendlichen allerdings nur empfehlen, wenn es im Anschluss in der Schule / zu Hause intensiv nachbesprochen wird.
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!
Insgesamt:
❀❀❀❀ Lilien
Dieses gelungene Buch bekommt von mir 4 Lilien!