Ein intensiver Roman über die Verortung im Glauben und im Leben
Peri ist seit ihrer Kindheit zerrissen. Während ihre Mutter streng gläubig ist, ihr Vater mit Unglauben dagegen hält, wird ihr älterer Bruder wegen marxistischem Idealismus verhaftet und gefoltert. Ihr ...
Peri ist seit ihrer Kindheit zerrissen. Während ihre Mutter streng gläubig ist, ihr Vater mit Unglauben dagegen hält, wird ihr älterer Bruder wegen marxistischem Idealismus verhaftet und gefoltert. Ihr anderer Bruder wählt den nationalistischen Weg, heiratet, gründet eine Familie. Doch Peri sitzt zwischen den Stühlen, weiß nicht, wohin sie gehört, wem sie zustimmen soll. Auf der einen Seite steht der starke Glaube der Mutter und auf der anderen die kemalistischen Züge und die Offenheit ihres Vaters. Dieser unterstützt ihre Bildung so weit, dass er ihr ein Studium in Oxford ermöglicht.
Dort hält Peris Zerrissenheit an. Sie lernt die freiheitsliebende Shirin kennen und die gläubige Mona, die sich für das Kopftuch entschieden hat und sich für Feminismus engagiert. Um die Glaubensfrage für sich zu klären, nimmt Peri an Azurs Seminar "Gott" teil, in dem sämtliche Denkweisen und Ansichten verschiedener Studenten aufeinander prallen.
Peri, heute Mitte dreißig, Ehefrau und Mutter erblickt auf dem Weg zu einem Geschäftstreffen ihres Mannes ein Foto aus ihrer Studienzeit in Oxford und muss sich mit vergangenen Vorfällen auseinandersetzen.
Elif Shafak hat einen wunderbaren, intensiven Schreibstil, der durch bildhafte Vergleiche einen sehr poetischen Touch bekommt.
Der Leser bekommt Einblick in zwei Peris: die damalige Studentin und die erwachsene Frau, 14 Jahre nach ihrem Studium. Peri als Studentin ist offen, westlich orientiert, ist zielstrebig, will ihren Platz finden und Neues lernen. Die dreißigjährige Peri, die nun Ehefrau, Mutter und Hausfrau ist, lässt erahnen, dass bestimmte Ereignisse zu diesem Lebensstil geführt haben. Diese bekommt der Leser im Laufe des Romans offenbart.
Die Autorin verbindet die Erzählungen auf den zwei Zeitebenen sehr clever miteinander und bietet so stets die Möglichkeit, Parallelen zu ziehen zwischen der früheren und der gegenwärtigen Peri.
In "Der Geruch des Paradieses" spielen Glauben, Feminismus und Identitätsfindung eine wichtige Rolle. Elif Shafak beherrscht die Kunst, viele religiöse und politische Sichtweisen, philosophische Ansätze und Denkweisen zu präsentieren, ohne eine Wertung erfolgen zu lassen. So, wie Peri sich selbst in all diesen Dimensionen finden muss, kann oder muss sich auch der Leser positionieren.
Der Roman hat mich begeistert mit seiner Intensität, der Wortgewalt und den Schilderungen, die Peris Verhalten und ihre Charaktereigenschaften so nachvollziehbar machen.