„Hier hat er sich auf die Suche begeben, nach Klarheit, nach Heimat, nach sich selbst. Nichts davon hat er final gefunden, dieses Leben, diese Welt sind einfach nicht klarzukriegen. Jedes Land, jede der beiden Städte kehrt andere Facetten in ihm hervor, und es bleibt das Bedauern, dass sie ihn jenseits des Kirchbergs kaum kannte.“
Inhalt
Hanna kehrt zurück an den Ort ihrer Kindheit, in das Haus in dem sie jahrelang mit ihren Großeltern gelebt hat, nachdem ihre Mutter sie nicht haben wollte und sich aus der Erziehung ausgeklinkt hat. Doch beide Großeltern sind verstorben und Hanna ist nicht mehr die offene, interessierte junge Frau, die sie noch vor wenigen Monaten war. Ein Schlaganfall hat ihr nicht nur die Sprache geraubt und den Sinn für komplexe Zusammenhänge, sondern drängt sie immer weiter aus dem Leben. Das Haus auf dem Kirchberg soll ihre Zufluchtsstätte werden, ein Ort der Einsamkeit und inneren Abkehr, ein Platz an dem sie nichts mehr muss und nichts mehr soll, nur noch ein bisschen leben, vor sich hin träumen und die Tage in aller Langsamkeit verbringen. Für ihren Jugendfreund Patrizio, ist klar, das er Hanna zur Seite stehen wird und sie unterstützt, auch wenn die Zeit für eine echte Liebesbeziehung nun vergangen ist, auch wenn er die Vergangenheit nicht mehr ändern und die Zukunft mit ihr nicht mehr gestalten kann, so bleiben ihm doch wenige glückliche Momente an der Seite einer Frau, der das Schicksal den Boden unter den Füßen weggerissen hat …
Meinung
„Verena Boos erzählt groß von einer kleinen Welt, von der unseren.“ Das verspricht der Klappentext und diesem Urteil kann ich mich voll und ganz anschließen. Es ist diese Echtheit und Realitätsnahe, die „Kirchberg“ zu einem bewegenden, eindrucksvollen Roman über das ganz normale Leben macht, über die Wendungen des Schicksals, die Menschen in unserer Nähe, die Verfehlungen im zwischenmenschlichen Bereich und die Bedeutsamkeit geliebter Menschen für den Verlauf des eigenen Lebens. Die junge Autorin die bereits mit ihrem Debütroman „Blutorangen“ bekannt geworden ist, fängt hier nichts anderes als den Alltag einer jungen, von einer Krankheit gezeichneten Frau ein, die große Pläne hatte, innige Gefühle hegte und nicht mit dem Ende ihrer Selbstständigkeit in so jungen Jahren gerechnet hat.
Es ist faszinierend aus nächster Nähe zu erleben, wie es sich anfühlen muss, wenn man sich in einer Art sprachlichen Dunkelkammer bewegt, wenn man nicht mehr in der Lage ist, die einfachsten Dinge zu artikulieren und sich eingestehen muss, dass man auf andere angewiesen ist. Und es stimmt sehr nachdenklich und traurig, wahrzunehmen, wie der Alltag aussieht, den man sich ganz gewiss niemals so erhofft hat. Verena Boos konzentriert sich bei dieser Erzählung nicht nur auf die Gegenwart, sondern entwirft das Bild eines Lebens mit einer bewegten Vergangenheit, einer nicht ganz einfachen Kindheit und einer großen unerfüllten Liebe. Und sie setzt es in Verbindung mit der Zeit nach dem Schlaganfall, einer Zeit des Neubeginns, in dem alles an Sinn und Bedeutung verliert nur nicht die Menschen, die uns begleiten, Menschen die vorher nur Randfiguren in einem Spiel waren werden nun zu Ankern in der Bitterkeit des Augenblicks.
Der Schreibstil ist durchaus anspruchsvoll und fordert den Leser, immer mal wieder wechselt die Zeitebene oder auch die Erzählstruktur, doch diese leicht holprige Schreibweise passt ausgesprochen gut zur Thematik, zeigt wie das Erleben funktioniert, wenn nicht mehr alles begriffen wird. Und eine klare Abgrenzung der Kapitel sowohl im Schriftbild als auch durch die Jahreszahlen, lässt den Leser den Überblick behalten.
Das Besondere an diesem stillen, melancholischen Roman, der eine Traurigkeit an sich ausstrahlt, ist die Griffigkeit der Situation. Selten findet man ein Buch, welches sich so intensiv in die Sicht des Beschädigten vertieft, welches zeigt, was fehlt, wenn vieles verloren ist und es dennoch vermag eine durchgehende Lebenslinie aufzuzeigen mit Kanten, Sprüngen und schönen Tagen, die langsam aber sicher verblassen. „Kirchberg“ kratzt sehr am Menschlichen, es macht betroffen und sprachlos, es fängt Gefühle ein ohne sie direkt zu benennen und es beansprucht Raum für die vielen Gedanken, die aufgegriffen und nicht zu Ende gedacht werden. Und obwohl es in keiner Weise sentimental geschrieben ist, brachte mich die Erzählung doch nahe an den Abgrund zur traurigen Wahrheit und lässt die Frage: „Was bleibt von uns in dieser Welt, wenn wir nicht mehr sind, was wir waren?“, voller Absicht im Raum stehen.
Fazit
Ich vergebe 4,5 Lesesterne und eine Leseempfehlung für alle, die gerne tiefgründige Romane mit viel Aussagekraft und Gefühlsreichtum lesen. Für Leser die sich Gedanken machen möchten, worauf es im Leben ankommt und welche Dinge man regeln sollte, bevor einen das Schicksal unerbittlich einholt. Man sollte aber keine Wohlfühllektüre erwarten und muss bereit sein sich auf das geschriebene Wort einzulassen, insofern kein Buch für Zwischendurch dafür eines, was nachwirkt und mich sehr betroffen gemacht hat, insbesondere was die Kostbarkeit des Augenblicks anbelangt.