Dies ist die Geschichte um die vielfältig ausgeprägte Liebe einer jungen Frau zu sehr unterschiedlichen Männern und vor allem zur Architektur, vorrangig des von ihr geplanten und in der Umsetzung aktiv begleiteten Bauabschnitts der Karl-Marx-Allee zu Beginn der 1950er in Ostberlin.
Genre, Cover und Klappentext haben mich angesprochen.
Erzählt wird in der Er-/Sie- und Vergangenheitsform, ausschließlich aus der Perspektive der unerfahrenen, manchmal soziale Bindungen vernachlässigenden, idealistisch denkenden und leidenschaftlichen Architektin Ilse. Ihre Beobachtungen, Gedanken und Gefühlslagen wirken stimmig. Nach außen hin leicht unterkühlt wirkend, ist sie keine typische Sympathiefigur. Eben reizvoll, authentisch, mit Ecken und Kanten, deren beruflichen Werdegang, familiäre und freundschaftliche Bindungen und Liebesbeziehungen ich über die gesamte Länge mit Spannung verfolgt habe. Gut haben mir der hervorblitzende trockene Humor und die kritische - aber nicht überzogen wirkende - Haltung gegenüber der DDR-Staatsführung gefallen.
Beleuchtet wird eine leicht überschaubare Anzahl von Figuren, sodass ich jederzeit gut folgen konnte. Dass es in der ersten Hälfte zu Rückblenden in die Vergangenheit kommt, finde ich stilistisch gut gelöst, für den Spannungsmoment und das Verständnis förderlich.
Die Lebensgeschichte scheint autobiografisch inspiriert, aber nahezu komplett fiktiv zu sein. Das finde ich im Nachhinein überhaupt nicht schlimm, da ich auf diese Weise in den Genuss unterhaltsamer Belletristik mit Kenntniszuwachs gekommen bin.
Glaubhaft gemacht wird die Planung und Umsetzung der riesigen, politisch motivierten Allee, zu repräsentativen Zwecken und um große Mengen Wohnraum zu schaffen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ganz ähnlich abgelaufen ist. Erst Jahrzehnte später im Westen geboren, habe ich dank dieses Buches etwas gelernt über die damalige und dortige Art zu leben, zu lieben und zu arbeiten. Beispielsweise über sich im Wandel befindliche Rollenbilder von Mann und Frau und zum Umgang mit Homosexualität. Vor allem habe ich viel erfahren zu Belangen der städtebaulichen Gestaltung und zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zwängen, denen die Gesellschaft der DDR (hier im Besonderen die Planer, Bauarbeiter, Trümmerfrauen) ausgesetzt war. Der Rückblick auf den Nationalsozialismus gerät demgegenüber rudimentär. Hier hätte es mir gefallen, weniger von Ilses Beziehung zu ihrem Vater und dafür mehr politische Wahrnehmungen zu lesen. Bemerkenswert: Der Aufstand des 17. Juni 1953 und die sich im Vorfeld aufbauende Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung ist stimmig eingebettet.
All das wird nebenher vermittelt, auf flüssig zu lesende Art. Indem Emotionen bei mir hervorgerufen wurden, verfestigt sich bestimmt viel im Gedächtnis.
Minuspunkte: Der eingeschränkte Blickwinkel von Ilse lässt es nicht zu, andere Geheimnisse, Gefühle und Motive näher zu ergründen. Im Mittelteil baut die Spannungskurve ab, es schleichen sich kleine Längen ein.
Es erfolgt noch ein Sprung in Ilses Zukunft inklusive Reflektionen zu im Mittelpunkt stehenden beruflichen und privaten Entscheidungen. Dies befriedigte meine Neugier und rundet die Geschichte gelungen ab.
Ein Werk, das sich gut ergänzt mit „Die Stimmlosen“, welches nach dem Ende des 2. Weltkrieges das fiktive Leben von Ärzten, ihren Familien und einem befreundeten US-Offizier in Hamburg beschreibt.
Vier mit Tendenz zu fünf Sternen für einen Roman, der mich gut unterhalten und gleichzeitig zu beachtlichem Kenntniszuwachs geführt hat, den ich unter privaten und beruflichen Gesichtspunkten bereichernd finde.