Profilbild von Viv29

Viv29

Lesejury Star
offline

Viv29 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Viv29 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.04.2019

Ein etwas trockener, summarischer Blick auf Weimar

Weimar
0

Der Gedanke, die Geschichte jener knapp sechzig Jahre zu erzählen, in denen Weimar eine Hochburg der Kultur und der deutschen Geistesgrößen war, ist eine sehr gute. In diesem Buch wird in sechs Kapiteln ...

Der Gedanke, die Geschichte jener knapp sechzig Jahre zu erzählen, in denen Weimar eine Hochburg der Kultur und der deutschen Geistesgrößen war, ist eine sehr gute. In diesem Buch wird in sechs Kapiteln jener Zeit zwischen 1775 (Goethes Ankunft in Weimar) und 1832 (Goethes Todesjahr) gedacht, das erste dieser Kapitel gibt eine (sehr trockene) Übersicht über Weimar vor 1775.
Die Aufmachung des Buches ist durchschnittlich. Ziemlich kleine Schrift, durchschnittliches Papier, einige Abbildungen. Es sticht nicht sonderlich heraus.

Hauptsächlich geht es im Buch neben Goethe und Schiller um Wieland und Herder. Andere Weimarer Persönlichkeiten wie der Herzog, seine Frau, seine Mutter, seine Maitresse, Johanna Schopenhauer, Charlotte von Stein, später Eckermann kommen auch immer wieder vor. Ein Überblick über die wesentlichen Weimarer Einwohner jener Zeit ist also gegeben.

Der Inhalt ist eine Mischung aus erzählerischem Text und zahlreichen Zitaten von Zeitgenossen. Hier ist eine Vielfalt an Leuten vertreten, die Zitate sind zahlreich und überwiegend gut gewählt und angenehm in den Text eingebunden. Der erzählerische Text wird auf angenehme Weise durch die direkten Ansichten der Menschen jener Zeit ergänzt. Es finden sich hier die mittlerweile etwas überbenutzten Zitate, ohne die kein Buch ohne Goethe anscheinend auskommen kann (warum auch immer): Schillers "stolze Prüde", Johanna Schopenhauer Tasse Tee für Christiane Vulpius und Bettina Brentanos tollgewordene Blutwurst. Daneben gibt es aber auch viele Zitate, die mir neu waren und die ich oft sehr unterhaltsam fand.

Der Text des Buches hat mich dagegen weniger angesprochen. Größtenteils ist alles recht trocken erzählt, nur selten blitzt mal eine originellere Formulierung durch. Gestört hat mich, wie oft aufgezählt oder summiert wird. Von Wieland lesen wir im ganzen Buch fast nur Passagen in der Art von "Wieland arbeitete an x, dann noch an y und stellte z fertig". Auch gerne genommen "Goethe reiste am soundsovielten nach x, kam dort am soundsovielten an, reiste drei Tage später nach y". Das mag rein zur Informationsvermittlung geeignet sein, aber wer möchte denn ständig solche Auflistungen lesen und kann (möchte) sie sich merken? Auf der Werke der Autoren selbst wird so gut wie gar nicht eingegangen. Wir erfahren, wer was wann schrieb, das war's. Manche Ereignisse, Hintergründe werden kurz angesprochen, aber nicht hinreichend erklärt. Mit Hintergrundwissen geht dies, aber der Leser ohne Hintergrundwissen wird öfter verwirrt sein.

Die Personen selbst sind mir auch relativ fremd geblieben. Dieses Buch hätte mich nicht neugierig auf Schiller, Herder oder Wieland gemacht, und auf Goethe wohl eher auch nicht. Die Fakten lassen nur sehr selten die Menschen hinter den Namen lebendig werden. Man erfährt ab und an etwas Persönliches, Herders Griesgrämigkeit und soziale Unverträglichkeit kommen gut heraus; den Eindruck, den Goethe auf andere machte (oder eben nicht) ist unterhaltsam, ein paar launige Fakten, wie Goethes Gedicht über außereheliche Impotenz, sind nett zu lesen, aber diese Dinge machen nur einen kleinen Teil des Buches aus. Größtenteils besteht das Buch aus trockenen biographischen Fakten, mit ein paar persönlicheren Einsprengseln. Sehr enttäuschend das Kapitel, das sich schwerpunktmäßig der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller widmet. So uninspiriert las ich von dieser Freundschaft bisher noch nicht. Schillers Todeskampf, sein Tod werden nebenbei, ohne weitere Informationen (die nun wirklich zahlreich vorhanden sind) erwähnt. Goethes letzte Tage sind dagegen en detail berichtet. Allgemein ist Schiller etwas summarisch abgehandelt.

Es erschien mir ohnehin, daß die Autoren sich vielleicht mit der Fülle der Themen ein wenig verzettelt haben. Das letzte Kapitel widmet sich fast ausschließlich Goethe, weil seine Weggefährten zu dem Zeitpunkt fast alle verstorben waren. Hier wird es persönlicher, man spürt den Menschen Goethe, bekommt ein besseres Verständnis. Das Summarische ist kaum noch vorhanden, vielleicht, weil sich die Autoren hier auf eine Person konzentrieren konnten.

So schließe ich das Buch nicht sonderlich begeistert. Informationen gab es, aber sie wurden für meinen Geschmack nicht unterhaltsam oder ansprechend präsentiert, trotz der guten Idee mit den Zitaten. Es fehlte das Gefühl für die Großen von Weimar, für die Menschen hinter den Werken, es wurde zuviel aufgezählt, zu wenig erzählt.

Veröffentlicht am 20.03.2019

Ungewöhnliche Geschichte, ausgesprochen anstrengender Schreibstil

Die Stadt der Blinden
0

"Die Stadt der Blinden" ist ein weiteres Buch, das ich durch die wundervolle "Wir lesen Klassiker"-Gruppe hier entdeckt habe. Das Buch fand ich allerdings etwas weniger wundervoll.

Die Geschichte ist ...

"Die Stadt der Blinden" ist ein weiteres Buch, das ich durch die wundervolle "Wir lesen Klassiker"-Gruppe hier entdeckt habe. Das Buch fand ich allerdings etwas weniger wundervoll.

Die Geschichte ist ungewöhnlich und sehr wichtig, führt sie uns doch gleich auf mehrere Arten in die Abgründe der menschlichen Existenz. Das Geschehen beginnt sofort und das gute Erzähltempo hält sich über mehrere Kapitel. Ein Mann erblindet am Steuer seines Autos, es gibt keine Erklärung. Schon bald erblinden alle jene, die Kontakt mit ihm hatten und die plötzliche Erblindung wird zur Epidemie. Es ist spannend, die Ausdehnung der Blindheit zu "erlesen", die verschiedenen Schicksale zu verfolgen. Niemand in diesem Buch wird beim Namen genannt, alle werden nur beschrieben: "der erste Blinde", "die Frau des Arztes", "die Frau mit der dunklen Blinde" oder "der Mann mit der Augenklappe". Diese Entpersönlichung setzt sich auch darin fort, daß überhaupt nichts beim Namen genannt wird - kein Orts- oder Straßenname, nichts. Nicht einmal die Kapitel sind nummeriert.

Der Schreibstil tut sein Übriges zur Verwirrung. Wörtliche Rede ist nicht durch Anführungszeichen oä gekennzeichnet, Dialoge finden in endlosen, nur durch Kommata strukturierten Sätzen statt. So kann man schwer erkennen, wer der Gesprächsführenden was sagt, wo eine Aussage anfängt oder aufhört. Die Endlossätze charakterisieren auch den Erzähltext und so blickt man auf Seiten voller kaum strukturierter Sätze, fast ohne Absätze. Das alles sind originelle und sicher auch effektive Stilmittel, die Orientierungslosigkeit der Blinden soweit wie möglich auf den Leser zu übertragen. Allerdings machte mir zumindest das Lesen so sehr wenig Spaß. Es war anstrengend, mühsam, verwirrend und dadurch oft schlichtweg nervig.

Am Ball gehalten hat mich die Geschichte, die in erschreckend deutliche Tiefe geht, vor keiner Scheußlichkeit zurückschreckt (weniger wäre hier manchmal ausreichend gewesen) und dann, wenn der Leser davon richtiggehend erschöpft ist, plötzlich Ton und Atmosphäre wechselt. So werden die Blinden aus Quarantänegründen interniert und das ausgesprochen gedanken- und versorgungslos. Hier wird deutlich aufgezeigt, wie schnell Menschengruppen ausgegrenzt werden können und wie schnell ihnen dann - obwohl sie niemandem etwas getan haben - Feindseligkeit entgegenschlägt. Geschichte und Zeitgeschehen zeigen, daß die hier beschriebene Entwicklung nur zu realistisch ist. Ebenso realistisch ist die gnadenlos geschilderte Entwürdigung, Entmenschlichung und Gewaltentwicklung. Menschlichkeit ist in diesem Buchabschnitt die Ausnahme. Zum Ende hin wird es wieder sanfter, kontemplativer, freundlicher.

Die völlige Hilflosigkeit, die durch den unvorbereiteten Verlust eines solch wichtigen (vielleicht des wichtigsten?) Sinnes eintritt, ist der andere Abgrund, der uns plastisch geschildert wird. In einer Welt voller Blinder, ohne Hilfe, ohne Unterstützung, ist man schnell verloren, werden die einfachsten Handgriffe unmöglich, muß man die Würde oft aufgeben.

So erkennt man beim Lesen ernüchtert (und erneut), wie unglaublich dünn die Schutzschicht der Zivilisation ist, wie schnell Menschen zu Unmenschen (und ich sage hier absichtlich nicht "wie Tiere", denn Tiere würden sich niemals so abscheulich verhalten) werden. Man sieht, wie schnell man durch die eigene Regierung ausgegrenzt und vernichtet werden kann und wie andere wegschauen, solange sie nicht betroffen sind. Dabei kann es, auch das eine wichtige Botschaft, absolut jeden treffen.
Man lernt die eigenen funktionierenden Sinne, die problemlose Versorgung mit Nahrung, Strom und Wasser, den Schutz einer funktionierenden Rechtsordnung ganz neu zu schätzen.

Leider aber hat der Stil das Lesevergnügen doch sehr beeinträchtigt, einige Logikfehler haben mich gestört und mir blieben für mich relevante Punkte offen. Zwischendurch gab es mehrere Längen und zähe Beschreibungen oder Philosophierungen. Die Stilmittel in allen Ehren, aber ein wenig mehr Zugänglichkeit hätte dem Buch meines Erachtens nicht geschadet.

Veröffentlicht am 10.03.2019

Interessante Geschichte, zäh erzählt

Der verbotene Fluss
0

In diesem Buch begleiten wir die junge Deutsche Charlotte ins spätviktorianische England des Jahres 1890, wo sie auf dem Landsitz Chalk Hill eine Stelle als Gouvernante angenommen hat. Das Erzähltempo ...

In diesem Buch begleiten wir die junge Deutsche Charlotte ins spätviktorianische England des Jahres 1890, wo sie auf dem Landsitz Chalk Hill eine Stelle als Gouvernante angenommen hat. Das Erzähltempo zu Beginn ist erfreulich, die Erzählung von Charlottes Anreise und ihren ersten Eindrücken von England liest sich flüssig. Charlotte selbst wird uns hervorragend nahegebracht. Ohne langwierige Erklärungen wird ihr Charakter greifbar und bekommt rasch Kontur. Auch die anderen Charaktere des Buches, selbst diejenigen, die nur kurz vorkommen, sind sehr gut konzipiert und lebendig. Man kann sie sich ebenso gut vorstellen wie die diversen Schauplätze. Ob es nun der gemütliche Pub ist, in dem Charlotte ihr erste Abendessen einnimmt, das elegante unterkühlte Eßzimmer auf Chalk Hill, Charlottes gemütliches Schlafzimmer oder die entzückende Teestube, bei der ich immer Lust auf Scones bekam – ich sah es beim Lesen richtig vor mir.

Die Mutter von Charlottes Schützling Emily starb einige Monate zuvor und der Witwer, Sir Andrew, hat seiner Tochter, allen Dienstboten und überhaupt allen Menschen in seinem Umfeld verboten, sie auch nur zu erwähnen. Das fand ich deshalb irritierend, weil es so sinnlos ist. Natürlich wird es nicht möglich sein, eine gerade verstorbene Frau nie zu erwähnen, gerade ihrer 8jährigen Tochter nicht. Natürlich werden die Leute sich verplappern, was sie ja dann im Buch auch unablässig tun. Und natürlich wird durch so eine Anordnung die Neugier und der Klatsch erst recht angefacht. Sir Andrew als intelligenter und rationaler Mann sollte das wissen. Und anstatt seine neue Gouvernante wenigstens knapp zu informieren, erwähnt er ihr gegenüber kein Wort davon und so erfährt sie vom ersten Moment aus versehentlich gemachten Bemerkungen lauter kleine Details, die ihre Neugier mehr anfachen, als es zwei erklärende Sätze von Sir Andrew getan hätten.

Nun müssen aufgrund dieses Konstrukts lauter Situationen geschaffen werden, in denen Charlotte zufällig etwas über den geheimnisvollen Tod erfährt und dies geht leider sehr zu Lasten der Erzähltempos. Es werden zahlreiche belanglose Alltagssituationen geschildert und ich fand irgendwann die ganzen Spaziergänge, Teekuchenverzehrungen, Plaudereien uä sehr langweilig, außerdem ähnelten sich die Szenen im Konstrukt zu sehr und es gab mir etwas zu viele Zufälle. Während Charlotte also in quälender Langsamkeit ein Puzzlestück nach dem anderen erhält, widmen sich immer wieder einzelne Kapitel dem Journalisten Thomas Ashdown in London. Hier ist die Charakterzeichnung nicht so gut, die Leute blieben mir fremd und der Anteil der irrelevanten Szenen und unnötigen Details war noch größer. Was Tom mit der eigentlichen Geschichte zu tun hat, erfahren wir auch erst auf Seite 260 und so waren seine Kapitel für mich unwillkommene Unterbrechungen. Letztlich war er für das weitere Geschehen mE auch nicht in dem Maße relevant, daß es seine ausführliche Vorgeschichte gebraucht hätte. Hier wurde zudem leider auf Kosten der Handlung versucht, zu viel Zeitgenössisches unterzubringen. Außerdem neigen er und Charlotte beide zum ausführlichen Grübeln, wodurch wir bereits Gelesenes dann noch einmal erfahren.

Zum Ende hin wird das Tempo wieder besser und die Geschichte selbst ist durchaus originell und vielschichtig. Mit einer strafferen Erzählweise hätte dies ein sehr gutes Buch sein können, auch weil Charlotte ein interessanter Charakter ist, an dem ich als Leser Anteil nehmen konnte und bei dem Stereotype vermieden wurden. So aber ist es mir alles zu überfrachtet und im Mittelteil mußte ich mich manchmal zum Weiterlesen zwingen und habe auch einiges überflogen. Geärgert hat mich ein etwas plumper Fehler, als auf die Frage „Sie sprechen von einer Geisteskrankheit?" geantwortet wird „Sie sieht Geister, in der Tat.“ Der Roman spielt in England und in der englischen Sprache gibt es keinen Begriff für „Geisteskrankheit", der eines der englischen Worte für „Geister" beinhaltet. Dieses Wortspiel wäre also im Englischen unmöglich.

Die Autorin hat ein kleines Nachwort angehängt, in dem nützliche Hintergrundinformationen enthalten sind. Sie erwähnt dort auch, daß sie von „Jane Eyre" inspiriert war und etwas Ähnliches schaffen wollte. Den Leser zu einem derartigen Vergleich mit einem der besten viktorianischen Romane einzuladen ist…mutig.

Veröffentlicht am 02.03.2019

Viele Informationen, keine gute Gewichtung, oft viel zu trocken

Meilensteine der deutschen Geschichte
0

Das Buch verspricht, über die Meilensteine der deutschen Geschichte "von der Antike bis heute" zu informieren. Dies tut es durchaus, allerdings nicht durchweg gut.

Positiv ist zunächst die Gestaltung ...

Das Buch verspricht, über die Meilensteine der deutschen Geschichte "von der Antike bis heute" zu informieren. Dies tut es durchaus, allerdings nicht durchweg gut.

Positiv ist zunächst die Gestaltung zu vermerken, es gibt zahlreiche qualitativ gute Abbildungen, viele Karten und Übersichten. Sehr schön die Übersichten der jeweiligen Landesherrscher, auch wenn man diese immer etwas in den jeweiligen Abschnitten suchen muß. Alle diese Übersichten zusammen in einem Anhang hätte ich übersichtlicher gefunden.
Relevante Begriffe, Geschehnisse oder Persönlichkeiten erhalten in den Außenmargen des Buches Zusammenfasungen in farbiger Schrift, bei Persönlichkeiten auch immer mit einem kleinen Bild der Person. Leider werden nie die Lebensdaten angegeben, was ich schade finde. Diese Zusammenfassungen sind übersichtlich und thematisch gut gewählt.
Jedem Zeitabschnitt ist eine Zeitleiste und eine zusammenfassende EInführung vorangestellt, die für einen schnellen Überblick sehr nützlich ist.

Ebenfalls positiv hervorzugeben ist, daß neben den geschichtlichen Ereignissen auch fast immer ein Überblick über Alltag, Kultur, Bevölkerungsgruppen gegeben wird. Viele Zusammenhänge und Erklärungen späterer Entwicklungen werden informativ und klar dargestellt, das habe ich nicht oft so gut erlebt. Thematisch gibt es eine gute Vielfalt, allerdings variiert auch die Tiefe, mit der diese Themen betrachtet werden, sehr.

Was mich ganz erheblich gestört hat, war die ungleiche Gewichtung der Epochen. Der erste Abschnitt (1. Jh - 919) ist ganze 9 Seiten lang (inkl 2 Seiten Einführung), bzw kurz! Römerzeit, Germanen, Kelten, Völkerwanderung, Frankenreich...alles auf 7 Seiten Text abgehandelt. Das ist für ein 500seitiges Geschichtswerk, welches die gesamte deutsche Geschichte abdecken möchte, einfach indiskutabel. Das Mittelalter erhält etwas über 40 Seiten, die faszinierenden 200 Jahre der Staufer werden darin in gerade mal 2 Seiten beschrieben. Wie soll man über solch wichtige und interessante Epochen denn hier etwas erfahren? Ungefähr die Hälfte des gesamten Buches ist der Zeit ab 1914 gewidmet. Dieses Ungleichgewicht ist ärgerlich und für ein seriöses Geschichtswerk inakzeptabel.

Vom Schreibstil her hat mich das Buch nicht überzeugt. Es wurde von verschiedenen Autoren verfaßt und so ist auch der Schreibstil unterschiedlich. Manche Bereiche sind recht gut und angenehm lesbar, andere so unglaublich trocken und langweilig, daß ich mich zwingen mußte, weiterzulesen. Richtig begeistert hat mich keiner der Texte. Geschichte ist so spannend, so lebendig, oft aufregend wie ein toller Roman. Davon spiegelt dieses Buch überhaupt nichts wider. Man kann seine Fakten hier entnehmen, sich über manche (aber eben nicht alle!) Meilensteine unserer Geschichte recht ausführlich informieren, Spaß an der Geschichte bekommt man hier aber nicht.

So gehört dieses Buch trotz mehrerer guter Aspekte insgesamt leider zu den Geschichtsbüchern, die mir wenig Freude bereitet haben.

Veröffentlicht am 15.02.2019

Interessante Geschichte, unangenehmer Stil

Gretchen
0

In Gretchen erzählt Ruth Berger die Geschichte der Susanna Margaretha Brand (1746 - 1772), indirekt berühmt geworden als Inspiration für Gretchen in Goethes Faust. Durch die Gretchentragödie ist es Goethe ...

In Gretchen erzählt Ruth Berger die Geschichte der Susanna Margaretha Brand (1746 - 1772), indirekt berühmt geworden als Inspiration für Gretchen in Goethes Faust. Durch die Gretchentragödie ist es Goethe gelungen, die jahrhundertealte Sage um Faust um eine wesentliche Komponente zu bereichern und Gretchens letzte Szene im Kerker gehört zu den eindringlichsten des ganzen Stückes. Susanna Margaretha Brand hätte auf diesen Ruhm sicher gerne verzichtet, begründet er sich doch darin, daß sie als Kindsmörderin verurteilt und hingerichtet wurde.

In Ruth Bergers Buch erwacht Susanna zum Leben, wird dem Leser gelungen nahegebracht. Wir lernen eine junge Frau kennen, die sich nicht so leicht etwas sagen läßt, die auch mal Widerworte gibt, einen starken Willen hat. Das ist im späten 18. Jahrhundert schon ausreichend für einen schlechten Ruf und so ist sie auch ständig im kritischen Blickfeld ihrer zwei älteren Schwestern und gleich mehrerer Frankfurter. Susanna arbeitet in einer Herberge und ihr Umfeld, ihr Leben werden detailreich und gut beschrieben. Man bemerkt das fundierte historische Wissen der Autorin und ihre sogfältige Recherche zu Susanna. Zahlreiche Informationen über Arbeit, Lebensumstände und überhaupt das alte Frankfurt werden meist gut in die Geschichte eingeflochten. Manchmal wirken die Informationen leider auch etwas hineingezwungen, als ob nun dieses Detail unbedingt erwähnt werden mußte, auch wenn es mit der Geschichte überhaupt nichts zu tun hat. Im Ganzen aber hat es mir gefallen, wie viel ich hier auch über Frankfurt lernen konnte. Susanna ist ein interessanter Charakter; diese junge Frau, die sich ständig gegen ihren schlechten Ruf beweisen muß, die einerseits hofft, endlich ein wenig zur Ruhe zu kommen, andererseits aber auch von einem aufregenderen Leben träumt. Ruth Berger bringt sie uns gut nahe, und auch wenn man weiß, welch schreckliches Ende Susanna nehmen wird, drückt man ihr gegen besseres Wissen ständig die Daumen, weil sie den Leser anrührt.

Leider aber hatte das Buch einige - jedenfalls für mich so empfundene - Schwächen. Eines ist die Einbindung für die Geschichte nicht relevanter Charaktere, die das eigentliche Geschehen unterbrechen und nichts zum Buch beitragen. Dies sind zum einen die Gebrüder Senckenberg, denen hier viel Raum gewidmet wird, obwohl sie allerhöchstens marginal mit dem Fall zu tun. Lesern, denen die Senckenbergs nicht bekannt sind, werden zudem wesentliche Hintergrundinformationen fehlen, um überhaupt zu verstehen, worum es hier geht. Die Abschnitte gehörten zu den uninteressantesten Passagen des Buches und wie bei manchen historischen Details hatte ich auch hier das Gefühl, als ob die Senckenbergs eben unbedingt erwähnt werden sollten, obwohl sie eigentlich keine Rolle in der Geschichte spielen.
Ähnlich empfand ich ausgerechnet bei den Szenen um die Familie Goethe. Nun lese ich als Goethefan eigentlich immer mit Vergnügen über ihn, und hatte mich auch gefreut, ihm hier als Romanfigur zu begegnen. Leider war dies enttäuschend. Goethe selbst taucht erst zum Ende des Buchs auf, weil er erst in Frankfurt eintraf, als die Ermittlungen gegen Susanna Brand begannen, der Roman aber auch ihre Vorgeschichte behandelt. Um aber die Familie Goethe schon vorher einzubinden, greift Ruth Berger auf nichtssagende Szenen rund um Goethes Schwester Cornelia zurück, die wenig mehr tut, als zu überlegen, welcher der Männer in ihrem Umfeld noch zu haben ist, und auf Spaziergängen nichtssagend mit Freundinnen zu plaudern. Hier erfolgt dann eine konstruierte Szene, in der Susanna Brand an ihr vorbeigeht. Die Szene hat keinen Sinn, außer wohl die Goethes hier schon krampfhaft in die Geschichte einzubinden. Auch nach Erscheinen des künftigen Dichterfürsten bleiben die Goetheszenen eine Schwäche des Buches. Goethes Situation zu dieser Zeit wird in lieblosen Passagen geschildert, seine Erleuchtung, daß Susannas Geschichte sich gut im Faust machen würde, kommt uninspiriert und plötzlich. Weitaus mehr Raum wird Cornelias beginnender Romanze mit ihrem späteren Ehemann gewidmet. Das lenkt von der Geschichte der Susanna Brand ab (sogar in der Hinrichtungsszene geht es immer wieder um Cornelia Goethe).
Es hätte dem Roman wesentlich besser zu Gesicht gestanden, wenn er sich auf die eigentliche Geschichte konzentriert hätte, ohne dauernd auf diese Seitenschauplätze abzuschweifen. Die Inspiration für Goethe hätte man dann auch kurz in einem Nachwort erwähnen können.

Mein anderes Problem mit diesem Buch liegt im Schreibstil. Fast durchweg ist dieser ausgesprochen betulich. Es sollte wohl der volkstümliche Charakter Susannas und ihrer Umwelt widergespiegelt werden. Anstatt dies auf die wörtliche Rede zu beschränken, was ein gelungenes Mittel gewesen wäre, lesen sich die meisten Passagen nun wie von einem Menschen ohne literarisches Können geschrieben. Susanna ist durchweg „die Susann“, sowie ihre Schwester „die Dorette“ ist, der Hausdiener „der Bonum“, und da haben wir dann Sätze wie „Die Dorette redet immer noch auf die Susann ein“. Da geht „das Ännchen“ mit „der Ursel“ und hat Sorge, daß „der Niklaus“ schimpfen wird mit ihr (auch solche etwas seltsame Satzstellungen sind im Text üblich). Ein „sie“ oder „er“ wird häufig unnötig erklärt, so daß man sehr viel „sie, die Susann,“, „sie, die Dorette,“ und ähnliche Einschübe liest, auch wenn aus dem Text ohnehin hervorgeht, wer mit „sie“ gemeint ist. Das ist richtig schlechter Stil. All dies hat mir zumindest das Lesevergnügen ziemlich verdorben. Die Autorin kann es durchaus anders, das klingt immer wieder mal durch. Es gibt sehr schön und eindringlich formulierte Sätze, die mich erahnen ließen, wie gut dieses Buch hätte sein können.

Der Stil und überhaupt die Erzählweise sorgen dann auch an manchen Stellen dafür, daß es sich albern liest. Wenn die Angewohnheit mancher Charakter, Sätze mit „gelle“ zu beenden, dann auch in den Erzähltext einfließt, zieht es den Text ins Alberne. In der doch eigentlich traurigen Szene, kurz bevor Susanna gefaßt wird und ihr Leben verwirkt, wird beschrieben, wie der Wachsoldat Susanna erblickt „…ei, da passt ja glatt die Beschreibung von der gesuchten Mörderin drauf auf das Mädel hier! Eigentlich müsst er die jetzt anhalten, gell. Andererseits, lächerlich will er sich auch nicht machen.“ Und so geht es dann weiter und nimmt der Szene, dem Schicksal Susannas den Ernst. Dies kommt immer wieder vor. Nachdem Susanna ihr Baby bekommen hat, beginnt eine langwierige alberne Szene, in der ihre beiden Schwestern (die ohnehin etwas lächerlich dargestellt werden) wie in einer 70er Jahre Komödie hysterisch immer wieder zwischen drei Schauplätzen hin und her rennen, um herauszufinden, was eigentlich genau passiert ist. Ich hätte von einem guten Buch erwartet, mir nahezubringen, wie Susanna gerade körperlich und seelisch leidet, welche Angst sie hat, welche Sorgen die Schwestern sich um die Implikationen machen. Es sind traurige Geschehnisse um den Tod eines Neugeborenen und einer jungen Frau, die völlig ohne Unterstützung einer bigotten Gesellschaft ausgeliefert ist, aber ihnen wird durch den Stil der Ernst genommen. Später im Buch steht „So mancher allerdings fand die frivole Formulierung dem Anlass nicht angemessen,“ und ich fragte mich, ob die Autorin die Ironie dieser Bemerkung eigentlich erkannt hat. Denn auch hier sehen wir, daß sie es durchaus besser kann - in späteren Szenen wird Susannas Angst, Verzweiflung, Ausweglosigkeit ausgezeichnet geschildert. Die Hinrichtungsszene ist eindringlich und sehr gut. Diese Würde hätte man der Geschichte Susannas das ganze Buch über zugestehen sollen.

So bleibt ein Buch, das uns Susanna als Mensch und in ihrer ausweglosen Situation, die damalige Gesellschaft und Lebensumstände gut nahebringt, dies aber leider an vielen Stellen durch den Stil und Unnötiges wieder verdirbt.