Profilbild von dr_y_schauch

dr_y_schauch

Lesejury Profi
offline

dr_y_schauch ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dr_y_schauch über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.03.2019

Nach einem etwas schwachen Anfang ein zauberhaftes Leseerlebnis

Der Wal und das Ende der Welt
0

„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig ...

„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig später strandet ein Wal. Diese beiden sonderbaren Geschehnisse bilden den Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die nicht nur das Leben der Dorfbewohner für immer verändert. Denn es steht, wie der Titel andeutet, nichts weniger als das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bevor. Und das ist näher und realistischer, als sich manch einer – auch der Leser – denken kann, denn „manchmal ist die Übertreibung näher an der Wirklichkeit als die Wahrheit“.

Zugegeben, ich habe mich mit dem Anfang des Romans ein wenig schwergetan. Das lag zum einen am Erzählstil und der Figurenzeichnung: Der Erzähler wendet sich anfänglich einige Male direkt an den Leser:
„Sollten Sie es also einmal nach St. Piran schaffen (was gar nicht so einfach ist), werden Sie die Geschichte auf der Straße und im Pub zu hören bekommen; und sollten Sie einen der Dorfbewohner danach fragen, könnte es sein, dass diese Sie auf eine Bank setzt, von der aus man auf den wogenden Ozean blickt, und Ihnen dort genau diese Geschichte erzählen.“
Das muss man mögen; ich persönlich mag diese verschwimmende Grenze in der Regel nur bedingt. Doch letztlich habe ich mich daran gewöhnt und irgendwann störte ich mich gar nicht mehr daran, sondern wusste den nicht zu leugnenden Charme dieser Erzählform zu schätzen.

Auch mit den handelnden Figuren fremdelte ich anfänglich. Sie werden so schrullig geschildert, als seien sie einer Folge „Inspector Barnaby“ entsprungen.
Da ist zum Beispiel Charity Choke: „Sie war gerade siebzehn, mit einem so frischen Teint, dass ihre Wangen glänzten wie Kleehonig. In St. Piran sagte man, sie sei ‚spät erblüht‘ […]. ‚Bäume, die spät erblühen‘, sagte Martha Fishburne gern, ‚blühen oft am schönsten.‘ Und Martha war Lehrerin. Sie musste es also wissen.“
Oder Kenny Kennet, „der Strandgutsammler. Er durchkämmte den Kies der östlichen Bucht auf der Suche nach Muscheln und Krebsen, nach Strandgut und Treibholz. Wenn ein schönes Stück dabei war, würde er aus dem Treibholz Kunstwerke machen, die er im nächsten Sommer an Touristen verkaufen könnte.“
In dieser Form werden auch die anderen Figuren geschildert, mehr Stereotyp als wirklicher Charakter, und insgesamt etwas zu flach. Sie waren mir alle ein wenig zu überzeichnet; auch daran musste ich mich erst gewöhnen, doch dann fand ich sie in aller Schrulligkeit überaus liebenswert.

Zum anderen schien mir der Roman am Anfang nicht so richtig zu wissen, wohin er will bzw. was er denn nun eigentlich sein will. Erzählstil und Figurenentwurf schienen auf eine Schnurre hinzudeuten; dann wechselt das Setting in einer Rückblende zum Finanzdistrikt in der City of London. Der an den Strand gespülte junge Mann, Joe, entpuppt sich als Banker, der offensichtlich einen folgeschweren Fehler begangen hat. Okay, also keine Schnurre, sondern ein Wirtschaftskrimi, dachte ich – doch auch das erwies sich als Trugschluss. Ein Gespräch zwischen Joe und seinem Chef lässt schließlich die eigentliche (und ganz wunderbare!) Dimension des Romans erahnen:
„Sie sind Mathematiker. Sie wissen, was mit komplexen Systemen geschieht. Plötzlicher, dramatischer, katastrophaler Kollaps. […] Haben Sie mal von der These gehört, dass unsere Gesellschaft nur drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt ist?“

Und von da an konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Denn hier geht es um nichts weniger als die Frage, wie dünn die Grenze zwischen Zivilisation und Anarchie ist, was das Menschsein ausmacht, kurz: was Menschlichkeit bedeutet. Deshalb: klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 17.02.2019

Modernes Familienleben aus Sicht des jungen Vaters - interessant

Neujahr
0

So atemlos, fast fiebrig, wie der Protagonist Henning im Familienurlaub auf Lanzarote am Neujahrsmorgen den Berg auf einem geliehenen Mountainbike erklimmt, habe ich die erste Hälfte des Romans gelesen. ...

So atemlos, fast fiebrig, wie der Protagonist Henning im Familienurlaub auf Lanzarote am Neujahrsmorgen den Berg auf einem geliehenen Mountainbike erklimmt, habe ich die erste Hälfte des Romans gelesen. Während Henning sich abmüht, denkt er über sein Leben nach, die beiden kleinen Kinder, die Ehefrau, mit der er ganz gerecht alle Pflichten teilen wollte - und über seine eigene Befindlichkeit, die immer knapp am Burnout, kurz vor der totalen Erschöpfung und dem Gefühl, den Alltag bald nicht mehr bewältigen zu können entlangschrammt. Hennings Leben pendelt irgendwo zwischen ‚eigentlich‘ und ‚irgendwie‘, eigentlich geht es ihm doch gut und irgendwie bekommt er ja auch alles hin. Aber er lebt nicht - oder nicht mehr - ‚wirklich‘ oder ‚tatsächlich‘:
„Für Henning ist das Leben zu einer Aneinanderreihung von inneren Zuständen geworden, schlechten, sehr schlechten und halbwegs guten. Schönes Wetter und berufliche Erfolge betreffen ihn nicht mehr. Alles Kulisse.“ (S. 38)
Ich fand es faszinierend, diese Gedanken und Gefühle einmal aus männlicher Sicht geschildert zu bekommen, und stellte mir unweigerlich die Frage, wie viele Väter in meinem Umfeld ähnlich empfinden mögen, ohne es zuzugeben. Henning könnte ein Nachbar sein, ein Arbeitskollege, der Mann der besten Freundin ...
Die Metaphorik fand ich zwar zugegebenermaßen etwas zu vordergründig - Henning kämpft sich einen Berg hinauf und ist dafür eigentlich (!) nur unzureichend gerüstet (das Mountainbike ist nicht optimal, er hat keine Verpflegung eingepackt und Wasser hat er auch vergessen), irgendwie (!) schafft er es aber doch -, aber sie passt einfach zu gut.
Dann setzt der zweite Teil ein, der (keineswegs grundlos) von einigen kritisiert wurde. Henning - so viel darf verraten werden, ohne zu viel zu verraten - erinnert sich an seine Kindheit, genau genommen an ein einschneidendes Erlebnis. Ich kann die Kritiker verstehen, die mit diesem zweiten Teil etwas „fremdeln“, aber ich halte ihn nicht für vollkommen misslungen. Was mir indes wirklich aufgestoßen ist, ist die Wendung, mit der Juli Zeh diesen zweiten Teil einleitet. Ohne jenen, die das Buch noch nicht kennen, zu viel verraten zu wollen: Diese Nummer hätte ich eher bei einem Kate-Morton- oder Lucinda-Riley-Schmöker erwartet (und sie dort auch verziehen), aber, sorry, nicht bei Juli Zeh! Zumal es dieser literarischen Kapriole aus meiner Sicht auch nicht zwingend bedarf, um Hennings halbverschüttete Erinnerung wachzurufen ...

Mein Fazit: Mir hat das Buch - trotz besagter ‚Kapriole‘ - ausgesprochen gut gefallen, wenngleich es meiner Meinung nach nicht an Unterleuten heranreicht.

Veröffentlicht am 17.02.2019

Mehr als nur ein Thriller

Euer dunkelstes Geheimnis
0

Kurz nach der Beerdigung ihrer Mutter muss Bella Campbell einen weiteren Schicksalsschlag verkraften: Ihr Vater nimmt sich das Leben und hinterlässt einen Abschiedsbrief, der mehr Fragen aufwirft als er ...

Kurz nach der Beerdigung ihrer Mutter muss Bella Campbell einen weiteren Schicksalsschlag verkraften: Ihr Vater nimmt sich das Leben und hinterlässt einen Abschiedsbrief, der mehr Fragen aufwirft als er beantwortet. Bella sei nicht das leibliche Kind ihrer Eltern, teilt er ihr mit. Adoptiert wurde sie indes auch nicht ... Ein beigefügter Zeitungsausschnitt führt Bella nach Cornwall. Dort kommt sie dem sorgsam gehüteten Geheimnis ihrer vermeintlichen Eltern auf die Spur und macht ihre leibliche Schwester ausfindig.

In einem Durchschnittsthriller wäre die Geschichte an dieser Stelle auserzählt. Doch dieser Thriller ist eben kein Durchschnitt und hat diesen Punkt schon nach dem ersten Drittel erreicht. "Was soll da jetzt noch groß kommen?", fragte ich mich - und konnte das Buch nicht mehr weglegen. Denn es kommt noch allerhand. In Rückblenden, überraschenden Wendungen und verstörenden Träumen der Protagonistin enthüllt sich nach und nach die gesamte Tragik des vergangenen und gegenwärtigen Geschehens.

Gleichzeitig erzählt Amanda Jennings die Geschichte einer Emanzipation, eines verspäteten Coming of Age. Bella wuchs überbehütet auf; ihre Mutter umsorgte sie und ließ es nicht an Fürsorge mangeln, zugleich schottete sie Bella von der Außenwelt ab, unterrichtete sie zu Hause und verbot ihr jedwede Freundschaft zu Gleichaltrigen, sodass Bella einzig ihre Fantasiefreundin Tori als Spielgefährtin blieb. Jetzt, als Erwachsene, ist Bella mit Davon verheiratet, 20 Jahre älter als sie und ebenso vereinnahmend, bevormundend und erdrückend wie die Mutter es war.

Wenn Bella allein nach Cornwall reist und alles, auch ihren Mann, hinter sich lässt, findet sie nicht nur ihren Namen und ihre Herkunft, sondern letztlich sich selbst.

Veröffentlicht am 01.10.2024

Faszinierend, ohne mich zu berühren

Das Wohlbefinden
0

Heilstätten Beelitz, 1907: Wohlbefinden gilt als „das oberste Therapeutikum“. Dort werden sie wieder zu Kräften gebracht, die unterernährten, erschöpften, kranken Arbeiterinnen und Arbeiter, entfliehen ...

Heilstätten Beelitz, 1907: Wohlbefinden gilt als „das oberste Therapeutikum“. Dort werden sie wieder zu Kräften gebracht, die unterernährten, erschöpften, kranken Arbeiterinnen und Arbeiter, entfliehen für ein paar Monate dem beschwerlichen Alltag: Erholung nach akkuratem Plan inmitten englischer Landhausarchitektur (die so viel besser fürs gesundheitsfördernde Wohlbefinden ist als die deutsche Architektur!).

Ebendort treffen Anna und Johanna aufeinander. Die eine ist eine lungenkranke Patientin und, so heißt es, hellseherisch begabt, die andere eine verheiratete Schriftstellerin, die über die Heilstätten schreiben will: größer könnten die Unterschiede kaum sein. Johanna lädt Anna in die großbürgerliche Villa ein, damit diese ihr bei dem Buch helfe – mit ungeahnten Folgen.

Berlin, 1967: Die betagte Johanna kämpft gegen das Vergessen und das Vergessenwerden. Je mehr ihr Geist sich umnachtet, umso klarer wird ihr Blick auf ihre Vergangenheit. Und die will sie noch ein letztes Mal in Worte fassen.
Berlin/Beelitz 2020: Johannas Urenkelin Vanessa sucht eine Wohnung, in der kurzen Atempause der Pandemie zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown. Es eilt, sehr, die Frist läuft ab. In den ehemaligen Heilstätten, derweil zu Luxuswohnungen saniert, findet sie zwar keine neue Bleibe, dafür, vollkommen unvermutet, Spuren ihrer Urgroßmutter: Ein bislang unbekanntes Manuskript, das Vanessas Neugier auf die Vergangenheit, die auch ihre eigene ist, weckt.

„Das Wohlbefinden“ war für mich ein faszinierendes Leseerlebnis. Es gab viele Aspekte, mit denen ich mich schwertat: Ich wurde mit keiner der Frauenfiguren richtig warm, sie blieben für mich insgesamt etwas blass und eindimensional, auch die komplizierte Beziehung zwischen Johanna und Anna konnte ich nicht recht durchschauen. Einzig die alte, zunehmend dementer werdende Johanna vermochte mich in diesem Figurentableau zu berühren. Die drei Zeitebenen fand ich einerseits spannend, andererseits lenkten sie mich stellenweise zu sehr vom Hauptstrang der Erzählung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab.

Gleichzeitig konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen, ließ mich hineinziehen in diese Melange aus Okkultismus und Medizin, weiblicher Selbstbehauptung und modernen Alltagssorgen. Und vielleicht macht das den Kern der Literatur aus: Dass sie Emotionen, auch und gerade widersprüchliche, weckt. Dass sie einen zu fesseln vermag, auch wenn man sich innerlich dagegen sträubt. Dass sie etwas in einem anstößt, auch wenn man es gar nicht bewusst merkt. Kurz: Dass sie eine Wirkung entfaltet, mag sie auch noch so subtil sein.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.09.2024

Ein respektables Debüt mit kleinen Schwächen

Kein Land in Sicht
0

Es ist ein Albtraum, der nach dem Erwachen erst richtig losgeht: Eine Frau erwacht in einer Kabine auf einem Kreuzfahrtschiff – ohne jegliche Erinnerung daran, wer sie ist und wie sie dorthin kam. Das ...

Es ist ein Albtraum, der nach dem Erwachen erst richtig losgeht: Eine Frau erwacht in einer Kabine auf einem Kreuzfahrtschiff – ohne jegliche Erinnerung daran, wer sie ist und wie sie dorthin kam. Das Einzige, was sie mit Gewissheit weiß, ist: Sie hat Angst vor Wasser. Und sie hasst Kreuzfahrten …

Mühsam begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Identität, stets auf der Hut, dass niemand Umfeld ihre Amnesie bemerkt. Nach und nach stellen sich Erinnerungen ein, und die sind noch bestürzender als der Gedächtnisverlust: Sie ist Kriminalkommissarin Sarah Peters und wurde undercover in die Crew eingeschleust, um den Drahtziehern eines ungeheuerlichen und noch immer fortdauernden Verbrechens auf die Spur zu kommen. Und sie war nicht allein – doch von ihrem Partner fehlt jede Spur. Sarah erkennt, dass sie niemandem trauen darf und dass ihr nur noch wenig Zeit bleibt …

„Kein Land in Sicht“ ist ein unterhaltsamer, flott geschriebener Krimi mit einem interessanten Setting, wunderbar undurchsichtigen Figuren sowie einem Fall, dessen Kerngedanke dankenswerterweise nicht schon in unzähligen anderen Krimis verwendet wurde und der deshalb durchaus überrascht.

Doch gab es für mich auch einige kleine Schwächen: Aufgrund der zwei parallelen Erzählstränge werden der Leserschaft wichtige Aspekte enthüllt, bevor die Protagonistin sie erfährt. Das hat bei mir die Spannung gedämpft, ich hätte es bevorzugt, die bestürzende Wahrheit gemeinsam mit Sarah zu entdecken. Gleiches gilt für die streckenweise sehr ausführlichen Backstorys der Nebenfiguren sowie die detaillierten Beschreibungen der Arbeiten auf dem Schiff: Auch sie empfand ich als vom Eigentlichen ablenkend und spannungsbremsend. Und dann ist da noch Sarah selbst, mit der ich zwar mitgefiebert habe, die jedoch – Amnesie hin, Amnesie her – bisweilen erschreckend ungeschickt, ja naiv agierte.

Dennoch ist „Kein Land in Sicht“ insgesamt ein respektables Debüt, das seinen Leser*innen einige kurzweilige Lesestunden schenkt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere