Wenn der Algorithmus das Leben regiert
Der Würfel„...Er wollte sich selbst und sein Umfeld beweisen, dass beides möglich war: die Menschen, die sich für ein Leben mit dem Würfel entscheiden, nicht zu verlieren und sich zugleich treu zu bleiben. Er wollte ...
„...Er wollte sich selbst und sein Umfeld beweisen, dass beides möglich war: die Menschen, die sich für ein Leben mit dem Würfel entscheiden, nicht zu verlieren und sich zugleich treu zu bleiben. Er wollte ganz normal und zufrieden leben, aber ohne Scham in den Spiegel blicken können. Dieser schmale Grat schien immer noch der beste Weg für ihn zu sein...“
Taso lebt in der nahen Zukunft. Das Leben in Deutschland hat sich grundlegend verändert. Es wird von einem Algorithmus gesteuert, der sich „der Würfel“ nennt. Die Mehrheit der Menschen hat sich mit dessen Existenz abgefunden und arrangiert. Es gibt für jeden ein Grundeinkommen. Bezahlt wird mit den persönlichen Daten. Die Datensurfer sind allgegenwärtig. Eine Gruppe Menschen lehnt sich dagegen auf. Sie sind Offliner. Einige leben in extra dafür eingerichteten Enklaven, Humaning genannt. Dort entscheiden sie unabhängig vom Würfel über ihr Leben.
Der 28jährige Taso ist einer der wenigen, die einen dritten Weg gehen. Das ist schon familiär bedingt. Er möchte weder seine Eltern, die Offliner sind, noch seinen Bruder, der den Würfel befürwortet, verlieren. Genauer erfasst seine Einstellung das Eingangszitat. Taso gilt als Gaukler. Er ist für den Würfel nicht berechenbar, weil er sein Leben dem Zufall unterwirft. Mit den Würfeln seiner Kindheit entscheidet er jeden Morgen, wie er sich kleidet. Das sieht für Außenstehende dann meist chaotisch aus. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass der Würfel keinen Einblick in seine Wohnung hat. Allerdings zahlt er einen hohen Preis. Der berufliche Aufstieg ist unmöglich und im Alltag ist er einsam.
Dann erscheint Dalia. Die junge Frau ist aus ihrem religiösen Elternhaus und dem Humaning geflohen. Sie möchte leben und die Annehmlichkeiten, die der Würfel bietet, genießen. Für Taso stellt das eine völlig neue Herausforderung dar.
Der Autor hat eine spannende und abwechslungsreiche Gesellschaftsstruktur kreiert. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen.Das liegt auch da dran, dass manche der Zukunftsvisionen schon erschreckend möglich klingen. Wenn von Soulbook die Rede ist, stellen sich bei mir als Leser sofort Assoziationen ein. Das gilt für weitere Dinge im Lande der Zukunft.
Leider muss ich sagen, dass mir weder das Leben unter den Würfel, noch das in den Humanings zusagt. Ersteres nimmt den Menschen jede freie Entscheidung ab und suggeriert ihm, wie er sich zu verhalten hat. Je mehr persönliche Daten vom Einzelnen öffentlich zugänglich gemacht werden, um so höher ist dessen Lebensstil. Am Beispiel von Dalia allerdings wird deutlich, dass auch die Humanings keine Freiheit bedeuten, sondern die Gefahr diktatorische Strukturen in sich bergen.
Sehr gut kommt im Laufe der Geschichte Tasos schwankendes Verhalten zum Tragen. Das Leben als Gaukler hat ihn zermürbt. Sowohl sein Bruder, als auch der Widerstand versuchen, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Nicht jede seiner Entscheidungen ist wohldurchdacht.
Was mir fehlt, sind nähere Angaben zum Algorithmus und seinem Wirkungsprinzip.
Zu den stilistischen Feinheiten und Höhepunkten gehören für mich die ausgefeilten Diskussionen. Die zwischen Hugo Faber und Mark Finder, zwei Gegenpolen, bleibt allerdings im Ansatz stecken. In den Gesprächen mit Dalia versucht Taso, seine Befindlichkeiten zu erläutern. Er kommt aber nicht gegen den Lebenshunger und die Naivität der jungen Frau an. Das wichtigste Gespräch ist das zwischen Taso und Emma, der menschlichen Inkarnation des Würfels. Dabei werden haarscharf Argumente und Gegensätze gegeneinander ausgetauscht. Hier kommt Emmas Part:
„...Ihr wart nie selbstbestimmt, Taso. Nicht irgendein Selbst, sondern eure Erfahrungen und eure körperliche Verfassung bestimmen euer Verhalten. Wärt ihr nicht so berechenbar, könnte ich nichts vorhersehen...“
Es geht um Manipulation, Meinungsmache und geschickte Steuerung des gesellschaftlichen Lebens. Der Widerstand ist anfangs gespalten. Friedliche Gespräche und Gewalt sind die beiden Seiten, die sich finden müssen. Erschütternd ist, dass Gruppen im Widerstand Methoden nutzen, die sie beim Würfel verteufeln.
Im Laufe der Handlung nehmen die Spannungen zwischen Kubisten, also Anhängern des Würfels, und dem Widerstand zu. Die Mehrheit will die Rechte der Minderheit beschneiden.
Das Ende lässt eine Reihe von Fragen offen.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Das Szenarium weist eine mögliche Wahrscheinlichkeit auf, ist fesselnd erzählt und macht nachdenklich.