Familienschicksale
„Alles, was sie sagte, hörte sich irgendwie banal an und wurde dem emotionalen Moment nicht gerecht.“ (S. 378) – dieser im Roman geäußerte Satz könnte auch für diesen gesamten Spannungsroman gelten, der ...
„Alles, was sie sagte, hörte sich irgendwie banal an und wurde dem emotionalen Moment nicht gerecht.“ (S. 378) – dieser im Roman geäußerte Satz könnte auch für diesen gesamten Spannungsroman gelten, der im Januar 2019 als Aufbau-Taschenbuch erschienen ist und 412 Seiten umfasst.
Delia Lamont arbeitet in einer Einrichtung für Pflegekinder und hat ihren Job gekündigt, um gemeinsam mit ihrer Schwester ein Café zu eröffnen. Doch noch hat sie einen letzten Auftrag zu erfüllen: Auf einer Landstraße in Maine wird ein verwirrtes, mit Blut bespritztes fünfjähriges Mädchen gefunden. Fast zeitgleich werden in einem nahegelegenen Haus drei Leichen entdeckt. Nachdem sich herausstellt, dass das Blut am Mädchen von einer dieser Leichen stammt, machen die Ermittler sich auf die Suche nach Zusammenhängen – und Delia versucht, dem Mädchen seine Familie zurückzugeben.
Der Roman beginnt spannend mit dem Auffinden des Mädchens und der Leichen. Auch die Ermittlungsarbeiten der Polizei halten den Spannungsbogen auf einem angemessenen Level und lassen den „Fall Hayley“, wie das Mädchen heißt, als roten Faden das Geschehen durchziehen. Am Ende wird der Fall logisch nachvollziehbar aufgeklärt.
Einen zweiten Handlungsstrang stellt die Geschichte der Schwestern Delia und Juniper Lamont dar. Beide haben aufgrund der Krankheit ihres Vaters und des Verlustes ihrer Eltern ein mitleiderregendes Schicksal hinter sich. Wie nicht anders zu erwarten, begleitet der Schicksalsschlag die Frauen bis in die Gegenwart und sorgt auch in diesem Roman noch für einige Überraschungen. Insofern ist die Story an sich durchaus interessant und spannend zu lesen.
Allerdings ist es der Autorin leider nicht gelungen, das Potenzial des Plots vollends auszuschöpfen: Der Mittelteil des Romans ist stellenweise recht langatmig zu lesen, und – und das ist das wohl größte Manko des Buches – die Charaktere bleiben beim Lesen sehr distanziert, ja sogar fremd. Mir jedenfalls fiel es beim Lesen sehr schwer, mich mit den Handelnden zu identifizieren oder mich in sie hineinzuversetzen, was es wiederum erschwerte, mit ihnen mitzufühlen und mitzufiebern. Der Roman ist und war zweifelsohne interessant zu lesen, in seinen Bann ziehen konnte er mich indes nicht.
Sheehans Sprache ist leicht, gleichmäßig und schnörkellos zu lesen, allerdings versäumt es die Verfasserin, durch mehr Abwechslung im Sprachgebrauch den Spannungsbogen zu unterstützen und dem Lesen Tempo zu verleihen.
Integriert in die beiden Handlungsstränge sind noch Drogen- und Medikamentenmissbrauch bzw. –kriminalität sowie, anhand der Erkrankung des Vaters der Lamont-Schwestern, das Leben mit psychisch erkrankten Familienmitgliedern, was ebenfalls wichtige und ernste Themen sind.
Aufgefallen ist mir zudem, dass im Klappentext von „Dalia Lamont“ die Rede ist, im Inneren aber von Delia.
Alles in allem handelt es sich bei „Das namenlose Mädchen“ um einen Spannungsroman, der flüssig zu lesen ist, der es allerdings aufgrund der oben angeführten Minuspunkte nicht geschafft hat, seine guten Ansätze vollends zur Geltung zu bringen und beim Lesen wirklich mitzureißen: ein Vertreter aus der Kategorie „Spannungsroman“, dem es an Authentizität und Rasanz fehlt, den man gut lesen kann, aber nicht muss.