Die Geschichte eines mutigen Jungen
Niemand weiß, dass du hier bistObwohl ich schon wahnsinnig viel Literatur zum Thema Zweiter Weltkrieg gelesen habe, fehlt mir eindeutig noch viel Wissen, was sich außerhalb Deutschlands und Österreichs zugetragen hat. Deshalb hatte ...
Obwohl ich schon wahnsinnig viel Literatur zum Thema Zweiter Weltkrieg gelesen habe, fehlt mir eindeutig noch viel Wissen, was sich außerhalb Deutschlands und Österreichs zugetragen hat. Deshalb hatte auch "Niemand weiß, dass du hier bist" von Nicoletta Giampietro, ein Roman der in Italien 1942 spielt, viel zu bieten. Obwohl unsere Hauptprotagonist Lorenzo noch ein Junge von anfangs 12 Jahren ist, ist das Buch in meinen Augen kein Jugendbuch.
Lorenzo wächst in Tripolis auf. Libyen ist zu dieser Zeit eine italienische Kolonie. Aufgewachsen unter Anhänger von Mussolini, ist er stolzer Faschist. Als Lorenzo 1942 von seiner Mutter aus Sicherheitsgründen nach Siena zu seinem Nonno und seiner Tante Chiara geschickt wird, denkt er noch an einige Wochen Ferien in der Toskana. Mit der Zeit vermisst Lorenzo seine Heimat und Freunde sehr, vorallem als ihm klar wird, dass seine Mutter ohne ihn nach Tripolis zurückgekehrt ist. Während sein Vater, trotz einer Kriegsverletzung, wieder an der Front kämpfen muss, versucht seine Mutter über einen Verwandten, ihn von dort abzuziehen.
Lorenzo freundet sich mit dem Nachbarjungen Franco an, dessen Familie überzeugte Mussolini-Anhänger sind. Und auch Francos Kusine Ilaria lässt sein Herz schneller schlagen. Doch ein Vorfall in der Schule und die beginnende Freundschaft zum jüdischen Jungen Daniele Neri lassen Lorenzo langsam nachdenklich werden. Als die Deutschen Italien besetzen und in Siena die Juden deportieren, überdenkt Lorenzo seine Einstellung und fällt eine Entscheidung....
Die italienisch-französische Autorin lebt seit 1986 in Deutschland und vermittelt in ihrem tiefgründigen Debütroman viel italienische Zeitgeschichte. Ihr Protagonist Lorenzo muss in den beiden Kriegsjahren schnell erwachsen werden. Seine widerstreitenden Gefühle werden von Nicoletta Giampietro sehr authentisch dargestellt. Der Wandel vom naiven und unbeschwerten Jungen zum Jugendlichen, der der Erwachsenenwelt mit Unglauben gegenübersteht, ist großartig gelungen.
In der Villa kann er sich keinem Menschen anvertrauen. Mit Franco verbindet ihn zwar eine lose Freundschaft, aber das faschistische Elternhaus, besonders Francos Onkel, stehen seiner Familie eher feindlich gegenüber. Einzig die Hausangestellte Cesarina gibt ihm etwas Herzenswärme und Geborgenheit. Seine Tante Chiara beachtet Lorenzo anfangs etwas skeptisch, denn er merkt bald, dass sie nicht auf der Seite von Mussolini steht und immer wieder Heimlichkeiten vor ihm hat. Mit dem jüdischen Arzt Matteo findet Lorenzo eine Männerfigur, zu der er aufschauen und bewundern kann, während sein Nonno eher wortkarg an den ersten großen Krieg zurückdenkt, in dem er mitgekämpft hat. All diese Charaktere sind sehr liebevoll gezeichnet und detailliert beschrieben. Ich hatte alle vor Augen und fieberte mit ihnen mit.
Die Geschichte lässt sich trotz des ernsten Themas leicht lesen. Die Autorin spielt gekonnt mit den Gefühlen der Leser und zeigt auf, wie fanatisch Menschen sein können, ohne näher über die Hintergründe nachzudenken. Gut aufgezeigt wurde auch, wie Kinder schon von klein auf manipuliert und auf "die richtige Spur" gebracht werden. Der Faschismus wird gehuldigt, denn der Duce hat wieder Wohlstand ins Land gebracht. Doch auch Mussolini und seine Anhänger werden zur Marionette und von Hitler regelrecht überrannt. Besonders gut hat mir ein Gedanke von Lorenzo gefallen: "Man kann doch seine Werte nicht wie seine Unterhose wechseln". Dieser Satz spiegelt die Zeit der Kriegsjahre (nicht nur) in Italien wider. Und Lorenzo begibt sich daraufhin selbst in große Gefahr, als er sich vornimmt zu seiner Überzeugung zu stehen und das menschlich Richtige zu tun.
Schreibstil:
Die Autorin schreibt sehr lebendig, berührend und voller Atmosphäre. Die bildhaften Beschreibungen von Siena, das sich als Lazarettstadt bewirbt, um nicht bombardiert zu werden, um nicht nur seine Einwohner, sondern auch die mittelalterlichen Bauten zu schützen, wird authentisch dargestellt.
Das italienische Lebensgefühl ist spürbar, die Zerissenheit von Lorenzo mehr als greifbar.
Fazit:
Die Geschichte eines Jungen, der in Zeiten des Krieges das menschlich Richtige tun will. Ein tiefgründiger Roman, der mich sehr berührt hat und der die Wankelmütigkeit und den Fanatismus der Menschen aufzeigt. Von mir gibt es eine Leseempfehlung!