Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale
Goethes Umgang mit Sprache war meisterhaft und man kann vor dieser Wortgewalt oft nur bewundernd stehen und staunen. In diesem Buch sind nun 125 seiner Gedichte versammelt, zu jedem Gedicht gibt es Gedanken ...
Goethes Umgang mit Sprache war meisterhaft und man kann vor dieser Wortgewalt oft nur bewundernd stehen und staunen. In diesem Buch sind nun 125 seiner Gedichte versammelt, zu jedem Gedicht gibt es Gedanken und Interpretationen deutschsprachiger Autoren. Diese erschienen ab 1974 wöchentlich in der FAZ und wurden hier in einem Buch zusammengefaßt - eine sehr gute Idee. Wie bei allen insel Taschenbüchern ist die Aufmachung ansprechend.
Die Gedichte werden in mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge präsentiert, so daß wir Goethe poetisch durch sein Leben begleiten können. Auf dies eine hervorragende Idee - viele der die Gedichte kommentierenden Texte gehen auf seine jeweilige biographische Situation ein, so daß wir hier auch eine Art Biographie haben. Zudem kann man durch diese Darbietung den sich verändernden Stil Goethes beobachten. Die sprudelnd enthuisiastische Lebensfreude der ersten Gedichte führt allmählich zu dem manchmal resignierten, manchmal gelassenen kontemplativen Stil der Altersgedichte.
Die Gedichte selbst sind eine gute Mischung aus bekannten und unbekannten Werken. Es sind Gedichte dabei, die mir den Atem nahmen und welche, bei denen ich etwas gleichgültig die Schultern zuckte. Auch der große Goethe hat nicht nur perfekte Gedichte verfaßt. Am besten war er meiner ganz persönlichen Meinung nach immer, wenn er über die Natur schrieb. Niemand sonst kann die vielfältige Schönheit der Natur so wundervoll einfangen, in solch atemberaubende Wortschöpfungen kleiden. Das "Ein Strom entrauscht umwölktem Felsensaale" aus der Rezensionsüberschrift ist eine solche Gedichtzeile, die ich wieder und wieder las. Die meisten hier abgedruckten Gedichte sind ein wahres Vergnügen, die Auswahl gut getroffen.
Auch die begleitenden Texte bieten wechselndes Lesevergnügen und leider waren hier jene Texte,die ich nicht so gelungen fand, doch häufiger. Dies ist eine absolute Geschmackssache und das ist auch einer der Pluspunkte dieses Buches - über 75 Autoren haben ihre Interpretationen und Kommentare beigetragen, jeder hat seinen individuellen Stil und seine Sichtweise eingebracht, und so findet sich für jeden Leser viel Nützliches und Angenehmes, wenn es auch eben von Leser zu Leser differieren wird, welche der Kommentare als nützlich und angenehm empfunden werden. Viele verlieren sich für meinen Geschmack zu sehr in Versrhythmen und technischen Bemerkungen zu Jamben und dergleichen. Gabriele Wohmann schrieb lieber über sich selbst als über das jeweilige Gedicht. Klara Obermüller zwingt dem Gedicht "Das Veilchen" eine verkrampft-feministische Deutung auf; stellt selbst fest, daß diese eigentlich nicht paßt und preßt das Gedicht dann trotzdem in ein feministisches schwarz-weiß Weltbild. Marcel Reich-Ranicki empört sich wie ein beleidigter Junge über das satirisch-plumpe Gedicht "Rezensent" und unterstellt Volksverhetzung, Unterstützung der Todesstrafe und Gegnerschaft der Meinungsfreiheit. Falls er das nun auch satirisch gemeint hat, ist das seinem Text nicht anzumerken. Dafür trägt er mit seinem Kommentar zu "Alle Freuden, die unendlichen" dann wieder einen der schönsten Texte des Buches bei - ein gutes Beispiel für die Vielfalt der Kommentare und Interpretationen. Einige mir bislang unbekannte Autoren haben so wundervolle Kommentare verfaßt, daß ich gleich nachsah, welche Bücher sie geschrieben haben, und so neue Autoren für mich entdeckte. Das Buch ist auf mehrfache Weise eine Fundgrube.
Und so bekam ich hier einen tieferen Einblick in Goethes Lyrik und Leben, in die verschiedenen Sichtweisen der Kommentatoren, entdeckte manch mir unbekannte Gedichtperle und eben auch manch mir unbekannten Autor.