Die 75jährige Antonia Ostermann, Toni genannt, erhält einen Brief in dem sie von einer Lena Brunner darum gebeten wird, sie in Wien zu besuchen. Es ginge um das Vermächtnis Peter Matusek. Zum einen hat Toni keine Ahnung, welche Verbindung es zwischen ihr und diesem Peter Matusek geben könnte, zum anderen ist sie gesundheitlich nicht in der Lage, diese Reise anzutreten, so dass sie Paulina Wilke darum bittet, sich dieser Angelegenheit anzunehmen. Obwohl Toni und Paulina nicht miteinander verwandt sind, stehen sie sich doch seit vielen Jahren sehr nahe. Paulina reist also nach Wien, im Gepäck eine Schneekugel, die sie schon ihr ganzes Leben lang als Talismann begleitet. Bei den Brunners in Wien wird sie freundlich aufgenommen und man überreicht ihr das Vermächtnis von Peter Matusek: Ein blaues Tagebuch, geschrieben von Luzie Kühn, die von 1936 bis 1944 in Wien lebte.
Paulina versinkt in der Geschichte von Luzie und nimmt den Leser mit in die schwärzeste Zeit der Deutschen Geschichte – in die Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus.
Warum befindet sich das Tagebuch der Luzie Kühn im Besitz von Peter Matusek und was wiederum hat das mit Antonia Ostermann zu tun? Welche Rolle spielt die Schneekugel, die im Besitz von Paulina Wilke ist?
Mit „Die Fliedertochter“ hat die Autorin Teresa Simon ihren 4. Roman veröffentlicht, für mich ist es der 2. Roman, den ich von ihr lese. Die Autorin hat ihren Roman in einer geschichtlichen Epoche angesiedelt, die nicht fiktiv sondern leider bittere Realität ist. Ihre Hintergrundrecherchen zu dieser Zeit und den Geschehnissen sind hervorragend und neben seinem Unterhaltungswert hat dieser Roman auch einen hohen informativen Wert.
Im Prolog trifft der Leser auf die kleine Paulina, die in der Schublade ihrer Mutter einen Brief findet, mit dessen Inhalt die damals 11jährige nichts anfangen kann. Ihr Mutter verspricht ihr, dass sie sie über den Sachverhalt aufklärt – wenn sie alt genug dazu ist.
Dann springt die Geschichte einige Jahr weiter, Paulina ist erwachsen und Toni bittet sie, sich um diese Nachlassgeschichte zu kümmern, für die sie selbst nicht mehr gesund genug ist.
Die Handlung spaltet sich nun in 3 Stränge – Paulina, die sich in Wien bei Familie Brunner (Lena, Ferdinand und Sohn Max, sowie Max‘ Freund Tamás) aufhält, Paulinas Mutter Simone, liebevoll Mamasi genannt, die mit ihrer Freundin Heike auf Pilgerreise geht und Toni, die zu Hause auf die Informationen von Paulina wartet und der letzte Handlungsstrang ist die Geschichte von Luzie Kühn zu Zeiten des Nationalsozialismus.
Luzie arbeitet 1936 in einem Varieté in Berlin, träumt aber von einer Karriere beim Film. Aus diesem Grund begleitet sie ihren früheren Chef zu einer Veranstaltung, bei der sie den Reichspropagandaminister Dr. Joseph Goebbels kennenlernt, der sich über alle Maßen für Luzie interessiert und ihr nachstellt. Sein Spitzname „Der Bock von Babelsberg“ kommt nicht von Ungefähr und ohne einen Besuch in seinem „Besatzungsbett“ wären die Karrieren einiger Stars und Sternchen der damaligen Zeit wahrscheinlich schneller zu Ende gewesen als sie begonnen hätten. Noch ist Luzie nicht in Gefahr, da ihre „Abstammungslegende“ wasserdicht ist. Sollte sich jedoch jemand die Mühe machen genauer zu hinterfragen wer sie ist, wären sie und ihre Großeltern in großer Gefahr, denn Luzie ist Halbjüdin. Zu diesem Zeitpunkt besteht schon ein Berufsverbot gegen jüdische Anwälte und Mediziner und generell werden Menschen mit jüdischer oder halbjüdischer Abstammung schikaniert. Um sich und ihre Großeltern zu schützen, verlässt Luzie Berlin und geht nach Wien zu ihrer Tante. Aber auch in Wien war man nach der Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich nicht vor Judenverfolgung sicher und der Leser wird Zeuge, wie sich die reale Geschichte des Deutschen Reiches damals zugetragen und wie geschickt die Autorin dies mit der fiktiven Geschichte von Luzie Kühn verknüpft hat. Beim Lesen habe ich mich mehr als 1 Mal gefragt, wie grausam Menschen sein können. Wer gestern noch Freund war, war heute dann Feind – nur, weil er einer anderen Ethnie zugehörig ist. Dieser Handlungsstrang ist sehr interessant, fesselnd aber auch sehr beklemmend.
Man darf gar nicht darüber nachdenken, dass es eine „Arbeitsanstalt für asoziale Frauen“ gab. Eine Anstalt der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, in der als erbkrank eingestufte Frauen zwangssterilisiert wurden und eine Kinderfachabteilung in der geistig und körperlich behinderte Kinder euthanasiert wurden.
Im Strang der Gegenwart besucht Paulina mit Max und Tamás einige Orte und Denkmäler, die noch heute von den Grausamkeiten des 2. Weltkrieges erzählen. Aufgrund der Erzählung aus dem Tagebuch, drehen die 3 eine Dokumentation, die das Leben der Luzie Kühn von damals mit den Gedenkstätten von heute verbindet.
Simone (Mamasie) und ihre Freundin Heike befinden sich auf einer Pilgerreise in Italien. Unterwegs erzählt Simone die Geschichte von Lille; ihrer besten Freundin, die vor einigen Jahren an Brustkrebs gestorben ist und das Leben ihres noch ungeborenen Kindes über ihr eigenes gestellt hat. Damit ihr Kind leben kann, musste Lille auf jegliche Behandlung verzichten. Bevor sie starb, hat sie ihr Kind in liebevolle Hände gegeben.
Toni hält sich unterdessen in einem Krankenhaus auf, sie musste sich einer Radiologischen Therapie unterziehen und wird von Paulina per Telefon auf dem Laufenden gehalten. Von Toni selbst erfährt man nur sehr wenige Einzelheiten, wer genau sie ist, erfährt man eigentlich erst ganz am Schluss.
Dass die Schicksale aller beteiligten Protagonisten irgendwie zusammenhängen, das kann man sich als Leser denken. Die Auflösung aller familiären Zusammenhänge erfolgt erst kurz vor Ende des Buches. Wenn man diese Verknüpfungen betrachtet, dann erschließt sich einem auch, warum es Personen gibt, deren Suchmeldungen seit Kriegsende bis heute nicht zum Erfolg geführt haben.
Wer, wie ich, ein Problem damit hat, wenn in den verschiedenen Handlungssträngen gleichzeitig viele Personen auftreten, dem kann ich nur empfehlen, sich auf einem Zettel eine Art Stammbaum aufzuzeichnen, damit man den Überblick nicht verliert.
Am Ende des Buches finden sich einige landestypische Rezepte, von denen ich ganz sicher das Eine oder Andere ausprobieren werde.
Alles in allem hat Teresa Simon hier eine Geschichte erschaffen, die schön und doch traurig ist und die den Leser nachdenklich zurücklassen sollte in Anbetracht der derzeitigen politischen Entwicklung in unserem Lande. Wer sich heutzutage diese Zeit zurückwünscht, der hat unsere Geschichte nicht verstanden.