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Veröffentlicht am 11.04.2019

Was ist Wahrheit und was ist Fantasie?

Vater unser
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Der äußeren Aufmachung nach erinnert das in grellem Rot und Pink gestaltete Cover an die sog. Pop-Art. Und auch inhaltlich ist der Roman der damit einhergehenden Popliteratur zuzuordnen. Typisch für diese ...

Der äußeren Aufmachung nach erinnert das in grellem Rot und Pink gestaltete Cover an die sog. Pop-Art. Und auch inhaltlich ist der Roman der damit einhergehenden Popliteratur zuzuordnen. Typisch für diese ist ja, dass sie in realistischer Erzählweise häufig aus dem Leben von Heranwachsenden oder von gesellschaftlichen Außenseitern berichten, so wie hier von der „geistesgestörten“ Eva. Diese wird in eine Wiener psychiatrische Anstalt eingeliefert und erzählt in den Therapiesitzungen mit dem Psychiater aus ihrem bisherigen Leben. Sie zeichnet sich durch Schlagfertigkeit, besserwisserische Art, Intrigantentum aus. Das eigentlich Faszinierende aber ist, dass sich schon bald deutlich manche Widersprüche auftun und am Ende der Leser ratlos dasteht mit seinen Fragen, was an Evas Geschichte wahr ist und was ihrer Fantasie entsprungen ist. So völlig im Gegensatz dazu stehen religiöse Bezüge der Geschichte und eingeflossene österreichische Begriffe. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass ich die Protagonistin keineswegs als hochkomisch ansehe, wie sie auf dem Buchrückentext charakterisiert wird, so dass evtl. Erwartungen, einen humorvollen Roman zu lesen zu bekommen, nicht erfüllt werden.

Veröffentlicht am 27.03.2019

Über Schicksal und Zufälle

Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall
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Der titelgebende Protagonist, der bis zur letzten Seite, wo erst sein Name preisgegeben wird, anonym bleibt, lebt Ende der 60er Jahre als Einzelgänger in dem kalabresischen Dorf Girifalco. Er verfügt schon ...

Der titelgebende Protagonist, der bis zur letzten Seite, wo erst sein Name preisgegeben wird, anonym bleibt, lebt Ende der 60er Jahre als Einzelgänger in dem kalabresischen Dorf Girifalco. Er verfügt schon von Kindheit an über eine außergewöhnliche Fähigkeit, kann nämlich jede Handschrift perfekt nachahmen. Und so öffnet er die von ihm zu verteilenden Briefe, liest sie, kopiert sie und speichert sie akribisch ab, bevor er die Post dann abliefert. Sein Können nutzt er, um bei den Einwohnern der Stadt Schicksal zu spielen. Er zögert etwa schmerzhafte Nachrichten hinaus oder führt Liebende zusammen. Von den Dorfbewohnern werden einige nur kurz umrissen, von anderen dagegen wird intensiv erzählt. Ihre Geschichten kommen nach und nach zu Tage; alles schreitet relativ langsam voran, ohne aber jemals langweilig zu werden. Der Protagonist, der ja eigentlich großes Unrecht tut, macht einen liebenswürdigen Eindruck. Für ihn ist seine Fähigkeit ein Weg, der Einsamkeit zu entgehen. Beeindruckend ist sein Hang zur Philosophie.
Das Buch ist sehr anspruchsvoll. Es liest sich für uns Deutsche angesichts der vielen italienischen Namen und Personen nicht einfach. Hilfreich ist da das ausführliche Personenregister am Ende.

Veröffentlicht am 06.03.2019

Die Lebensgeschichten mehrerer Frauen

Die Liebe im Ernstfall
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Ein Roman, wie es auf dem Buchcover heißt, ist das vorliegende Buch nicht. Denn es fehlt die fortlaufende Geschichte. Vielmehr werden fünf in sich abgeschlossene Erzählungen über fünf Frauen gebündelt. ...

Ein Roman, wie es auf dem Buchcover heißt, ist das vorliegende Buch nicht. Denn es fehlt die fortlaufende Geschichte. Vielmehr werden fünf in sich abgeschlossene Erzählungen über fünf Frauen gebündelt. Verbunden sind sie über den gemeinsamen Wohnort in Leipzig (auch der der Autorin), aus dem Kennern einige Örtlichkeiten bekannt vorkommen dürften, und über Freunde, Verwandte und Männer. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie in Liebesangelegenheiten gescheitert sind und auf der Suche nach dem Mann fürs Leben sind. In der einen oder anderen Lebensgeschichte wird sich die eine oder andere Leserin wiederfinden. Der Text liest sich flüssig, die Sprache ist klar. Alle fünf Erzählungen gefallen mir aber nicht gleichermaßen. Während ich bei den ersten drei das Buch noch kaum aus der Hand legen wollte, mochte ich die beiden letzten nicht mehr so recht. Unklar ist für mich geblieben, welcher Zusammenhang zum Fall der Mauer besteht, von dem auf dem Buchrücken die Rede ist. Denn mit einer typischen DDR-Geschichte haben wir es nicht zu tun.

Veröffentlicht am 03.03.2019

Familiengeschichte in der DDR

Machandel
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Es empfiehlt sich, zuallererst die zusammenfassenden Angaben zu den Romanfiguren am Ende des Buches zu lesen. Denn sonst lässt sich doch leicht der Überblick über die Personen verlieren. Immerhin werden ...

Es empfiehlt sich, zuallererst die zusammenfassenden Angaben zu den Romanfiguren am Ende des Buches zu lesen. Denn sonst lässt sich doch leicht der Überblick über die Personen verlieren. Immerhin werden die Schicksale vieler Personen über mehrere Jahrzehnte hinweg verwoben, und das auf mehreren Zeitebenen (die Gegenwart um 2000, die 80er Jahre, Zweiter Weltkrieg). Verbindendes Element ist der Schauplatz Machandel, das buchtitelgebende, fiktive Dorf in Mecklenburg. Dort kauft die Erzählerin Clara aus Berlin 1985 ein altes Sommerhaus. Dieser Ort ist für ihre eigene Familie von erheblicher Bedeutung und für Clara selbst wird er zu einem Zufluchtsort, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Dissertation über das Grimmsche Märchen vom Machandelboom schreibt, dem in der Geschichte übrigens eine dominante Rolle zukommt. Alle Romanfiguren erzählen nach und nach ihre beeindruckenden Lebensgeschichten, die sich vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte seit den 30er Jahren bis zur Wiedervereinigung zugetragen haben. Das ist fast schon Geschichtsunterricht pur. Allerdings habe ich mich als Westdeutsche doch etwas überfordert gefühlt, die personellen und politischen Strukturen des DDR-Systems zu verstehen. Ein netter Ausgleich waren dazu die Eindrücke von Mecklenburg.

Veröffentlicht am 08.02.2019

Die Lasten der Vergangenheit

Das Gewicht eines Pianos
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Im Jahr 1962 erbt die 9jährige Katya in Russland das deutsche Blüthner-Klavier eines Nachbarn. Sie wird eine leidenschaftliche Konzertpianistin. Jahre später bestimmt ihr jüdischer Ehemann, dass sie Russland ...

Im Jahr 1962 erbt die 9jährige Katya in Russland das deutsche Blüthner-Klavier eines Nachbarn. Sie wird eine leidenschaftliche Konzertpianistin. Jahre später bestimmt ihr jüdischer Ehemann, dass sie Russland verlassen und nach Amerika auswandern, um ein neues, besseres Leben zu beginnen. Das Klavier muss Katya zurücklassen und verzehrt sich vor Heimweh nach ihm.
Im Jahr 2012 ist die 26jährige Clara aus Kalifornien mit ihrem Klavier schon einige Male umgezogen, seit es ihr Vater ihr kurz vor seinem Tod zum 12. Geburtstag schenkte. Es bedeutet ihr viel, obwohl sie nie gelernt hat, darauf zu spielen. Nach dem Ende ihrer letzten Beziehung beschließt Clara aus einem Impuls heraus, das Klavier zu verkaufen. Wie sich herausstellt, hat der Käufer eine besondere Beziehung zu dem Klavier. Er und sie unternehmen mit ihm einen Road-Trip durch das Death Valley.

Parallel zueinander werden drei Geschichten erzählt: die des Klavierbauers Julius Blüthner sowie die von Katya und Clara. Die Einzelheiten über die Entstehung des Klaviers und seine langjährige Geschichte sind faszinierend. Im Leben eines jeden der drei ist das Klavier eine schwere Bürde. Die Geschichten werden perfekt miteinander verwoben und zusammengeführt. Besonders die Einzelheiten zum Bau des Klaviers sind interessant – vom Aussuchen des richtigen Baumes über den langdauernden Trocknungsprozess des Holzes bis zum abschließenden Bau des Klaviers in einer Fabrik. Das Klavier wird so fast zum Leben erweckt, wozu später passt, dass Kapitel 39 aus seiner Perspektive geschrieben ist. Insgesamt lässt sich das in melancholischem Grundton gehaltene Buch angenehm lesen.

Sehr empfehlenswert.