Der Glaube an das Unwahrscheinliche
Milchzähne„Ein vertrautes Gebiet verlassen, in dem ich mich blind bewegen könnte. Was bleibt bestehen, und was bleibt übrig, wenn ich gehe? Wer wird sich an den von mir zurückgelegten Weg erinnern?“
Inhalt
Skalde ...
„Ein vertrautes Gebiet verlassen, in dem ich mich blind bewegen könnte. Was bleibt bestehen, und was bleibt übrig, wenn ich gehe? Wer wird sich an den von mir zurückgelegten Weg erinnern?“
Inhalt
Skalde und Edith leben in einer kleinen Gemeinschaft am Rande der Zivilisation. Nach einer scheinbaren Naturkatastrophe, die klimatische und biologische Veränderungen mit sich brachte, deren Ende keiner absehen kann, beginnt ein Wettlauf gegen das Unbekannte. Der Kiefernwald ist das letzte lebenswerte Stück Erde, nur dort herrscht scheinbare Sicherheit vor einer diffusen Gefahr. Die wenigen Bewohner dieser Gegend kämpfen ums Überleben, halten sich mit Tauschhandel über Wasser und beäugen jeden misstrauisch und mit einer direkten Abwehrhaltung. Nicht nur Fremde sind nicht willkommen, auch die unmittelbaren Nachbarn stehen auf dem Prüfstand. Neid und Missgunst sind die Charakterisierungen dieser neuen Zeit, in der nicht einmal mehr die Familie Rückhalt geben kann. Wer sich nicht selbst vernichtet, den vernichten andere oder der Zahn der Zeit. Als ein junges, rothaariges Mädchen in die Siedlung kommt, spaltet sich der Verband erneut. Denn Skalde nimmt das Kind bei sich auf und rückt damit gleich an die zweite Stelle des Feindes – zuerst muss das Kind weg, dann ihre Retterin, andernfalls schweben alle in höchster Gefahr …
Meinung
Die deutsche Jungautorin Helene Bukowski widmet sich in ihrem Debüt einer sehr interessanten Mischung aus dystopischem Roman und zerrütteter Familienbeziehung.
Zunächst einmal schafft sie eine sehr bedrohliche, wenn auch nicht ganz fassbare Endzeitstimmung, die deutlich macht, das die Menschen hier, geflüchtet sind und geblieben, weil sie nicht wissen, wo es noch einen besseren Ort geben könnte. Das Klima wird immer heißer, die Tiere verenden oder verschwinden ganz, keiner weiß, was hinter dem Fluss wartet und ob das Meer irgendwo in der weiteren Umgebung, Verderben sein wird oder eine Chance bieten könnte. Diese Hintergründe streut sie immer wieder in den Text, leider erfährt man so erst nach und nach, mit was die Bevölkerung konfrontiert ist und es erschließt sich auch nicht restlos, welcher Art diese Naturkatastrophe sein soll.
Auf der anderen Seite thematisiert sie eine vollkommen unvorstellbare Mutter-Tochter-Beziehung, die in engem Kontext mit den generell brutalen menschlichen Verbindungen in einer kleinen Gemeinschaft steht. Dorthin, wo die Geschichte den Leser trägt, möchte man tatsächlich keinen Fuß hinsetzen. Neid, Missgunst, Rachsucht und die vollkommene Normalität von Verletzten, Sterben oder Töten prägen die Verhaltensweisen innerhalb der Gruppe und machen weder vor Bekannten, noch Familienmitgliedern und erst recht nicht vor Fremden halt. Jeder gegen Jeden – die Furcht vor dem Fremden, die Sehnsucht nach einer besseren Welt, die Verbundenheit mit einer Heimat, die keine mehr ist – Schnittpunkte und wichtige Bausteine des menschlichen Daseins werden hier aufgegriffen und in Kontext zueinander gestellt.
Prinzipiell liest sich der Roman sehr flott, er unterhält, macht neugierig und stellt viele Fragen. Hinzu kommt eine klare Gliederung und ein kontinuierlicher Handlungsverlauf, vor dem Hintergrund der Frage: „Gehen oder Bleiben?“ Dabei bedient sich Helene Bukowski einiger mystischer Symbole, vieler ansprechender Wörter und einer objektiven, zielgerichteten Sprache. Literarisch habe ich deswegen auch kaum etwas daran auszusetzen. Doch dann kommt das leider viel zu große Feld der Möglichkeiten und Spielräume …
Es ist mir einfach nicht gelungen, eine konkrete Aussage zu finden, die Geschichte verwischt immer wieder in ihren Konturen. Zunächst fehlte mir der dystopische Hintergrund, die Bedrohung war da, die Ursachen jedoch unbekannt. Doch sobald ich mich auf die familiäre Beziehung eingelassen hatte, die voller Abschreckung und Brutalität gekennzeichnet ist, schwenkt die Erzählung hin zur Gruppendynamik. Und auch dort nur ein kurzes Verweilen, mehr ein Augenblick in der Gesamtzeit, wieder hin zum Aufbruch in eine neue Welt.
Fazit
Obwohl ich das Buch wirklich ganz gern gelesen habe, konnte mich die inhaltliche Umsetzung der Thematik nicht überzeugen. Deshalb vergebe ich auch nur 3 Sterne, wobei ich 4 für die literarische Arbeit vergeben möchte und 2 für die Idee und ihre Aussagekraft. Möglicherweise kann man den Text als ein modernes Märchen auffassen, denn er hat Symbolkraft, vielleicht findet man Zugang, wenn man sich mit dem Glauben an Unwahrscheinlichkeiten anfreunden kann. So bleibt die Gesamtwirkung hinter meinen Erwartungen zurück. Mir würde der Roman besser gefallen, wenn sich die Autorin auf eine der beiden Möglichkeiten konzentriert hätte. Allein die Mutter-Tochter-Beziehung in ihrer Vielfalt wäre erzählenswert oder auch die Umstände, die diesen Endzeitcharakter festigen und sichtbar machen. Die Autorin werde ich mir aber vormerken, denn eins kann man von „Milchzähne“ voller Überzeugung behaupten: „Ein Roman jenseits der ausgetretenen Wege, irgendwie innovativ.“