Intelligent, mitreißend, berührend und erschreckend - definitiv kein Kinderbuch
Das weiße HerzTrotz dass ich von Lukas Hainers Auftaktband "Das dunkle Herz" aufgrund von riesiger Potentialverschwendung nicht wirklich begeistert war, stand es für mich außer Frage, dass ich wissen musste, wie diese ...
Trotz dass ich von Lukas Hainers Auftaktband "Das dunkle Herz" aufgrund von riesiger Potentialverschwendung nicht wirklich begeistert war, stand es für mich außer Frage, dass ich wissen musste, wie diese Geschichte gelöst wird. Und seit ich "Das weiße Herz" begonnen habe, klopfe ich mir selbst für diese Entscheidung auf die Schulter. Denn dieser Finalband zerrt alles, was Band 1 verpasst und ignoriert hat, ans Licht und komplettiert die Geschichte zu einem mehrdimensionalen, komplexen Epos. Ich bin absolut begeistert!!!
"Ihr könnt es nicht besiegen..."
Doch beginnen wir wie immer mit dem Cover, welches in Anlehnung an Band 1 gestaltet ist und eine Art Negativ dazu ergibt. Wo der Hintergrund zuvor ein verwaschenes Weiß-Grau war, bildet jetzt ein düsteres, unruhiges Blau mit schwarzen Einsprengseln den Kontrast zu dem weißen, dynamischen Fleck im Zentrum des Bildes und den ebenfalls weißen Bäumen und Vögeln. Auch die Farben von Titel und sonstiger Schrift sind gerade vertauscht - so stellen nun der Autorenname, das Verlagszeichen und das Lesebändchen den Bezugspunkt zum blassen Bronzeton der Leselaschen dar. Zusammen mit den verwaschenen Cover-Motiven, die die Innenseiten der Buchdeckel zieren und den schwarzen Flecken, die den Hintergrund für die jeweilige Kapitelüberschrift bilden, ergibt sich so ein geheimnisvolles und stimmiges Gesamtbild.
Erster Satz: "Spasti! Hey, Spasti!"
Wir steigen nach einem kurzen Vorwort des Autors, der mit einer kurzen Zusammenfassung der vorangegangenen Handlung auf hilfreiche Art und Weise die Geschehnisse des erstens Teils rekapituliert, mit einem Prolog über Peter in die Geschichte ein. Dies hilft für ein späteres Verständnis der Geschehnisse und ermöglicht uns einen ersten tieferen Einblick in die Lebenswelt des in Band 1 eher stiefmütterlich behandelten Protagonisten. Auch wenn wir ohne große Umschweife direkt an den vorangegangenen Teil anknüpfen und von Annas und Nicks Rückkehr in die Realität lesen, fand ich den Wiedereinstieg in die Geschichte zunächst sehr schwierig. Die Abenteuer der Wüstenwelt haben mich leicht vergessen lassen, dass die beiden erst 14 Jahre alt und somit noch Kinder sind, doch zurück in der realen Welt von Berlin wurde mir diese Tatsache wieder deutlich ins Bewusstsein gerufen und ich habe mich ein wenig daran gestört, dass sie sich eher wie Erwachsene verhalten. Einige Zusammenhänge und Handlungen erschienen mir deshalb ein wenig fragwürdig. Nick reist allein mit einer fremden, traumatisierten Frau in ein fremdes Land, kurz nachdem er nur knapp die schlimmste Zeit seines Lebens hinter sich gelassen hat? Und als die beiden dann Elifs Hilferuf aus der Türkei erreicht, fliegen sie mit den Kreditkarten ihrer Eltern nach Istanbul? Dort mieten sie sich in ein Hostel ein, fahren mit dem Bus durch die Stadt und keiner fragt misstrauisch nach ihrem Alter? Die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden immer wieder von Zuhause abhauen, durch die ganze Welt reisen und sie scheinbar weder mit Behörden noch mit ihren Eltern Probleme bekommen, ist für mich ein Punkt gewesen, der die Glaubwürdigkeit der Geschichte ein wenig untergräbt.
"Du bist das Kind, das neu entdeckt und mit jeder seiner Entdeckungen selbst die Wirklichkeit schafft. (…) Du bist Mutter und Vater, du führst und wirst geführt in allem, was du tust. (…) Du selbst bist der Krieger, der zwischen dir und der Dunkelheit steht. (…) Du bist der Liebende, dem Licht so nah wie dem Verderben, und der Schwindler, Tänzer zwischen den Schatten. (…) Sei stolz, denn mit allem, was du bist, stehst du gegen das dunkle Herz."
Das ist jedoch mein einziger Kritikpunkt an der Handlungskonzeption, denn das Geheimnis um die andere Welt und das dunkle Herz schafft es hier endlich, aus der Ecke herauszukommen in die es in Band 1 gedrängt wurde und eine zentrale Rolle einzunehmen. Während die Handlung sich im ersten Teil auf den Überlebenskampf und die Machtstrukturen innerhalb der Gruppe beschränkte und dadurch trotz des spannenden Settings recht eindimensional blieb, wird hier ein komplexer, mehrdimensionaler Spannungsbogen durch den rasanten Wechsel verschiedener Schauorte, innerer und äußerer Konflikte und spezieller Erzählperspektiven aufgebaut. So bekommen wir hier neben der personalen Erzählung über Anna und Nick auch kurze Einblicke in die Erlebniswelt des Dunklen Herzens, werden durch eingeschobene Passagen aus der Sicht der Stimmen im Abgrund zum Nachdenken angeregt und dürfen auch kurz in die Gedankenwelt von Peter und Maik eintauchen. Die spannenden Variationen gehen mit ständig wechselnden Settings einher. Ankara, Berlin, Dublin, Barcelona, Prag und zwischendurch immer wieder die geheimnisvolle Wüstenwelt mit ihrem gleißenden Sonnenstrahlen, den verschütteten Gebäuden im heißen Sand, den tiefen Abgründen und dunklen Geheimnissen. Wo Band 1 noch vage blieb und sich in oberflächlichem Ankratzen von Fragen verlor, schöpft diese Fortsetzung das magische, düstere Potential der fremden Welt voll aus und überraschte mich damit auf voller Linie.
"Das ist kein Spiel von Licht und Schatten. Das dunkle Herz und wir sind eins. (…) Vielleicht nur Stimmen, die etwas von der Zeit behalten haben, die ihren Körpern geraubt wurde. Vielleicht unsterbliche Seelen, die hier, wo die Schöpfung endet, weder in den Himmel noch in die Hölle gelangen können."
Durch die ständige Vermischung der Konfliktlinien aus Realität und Vorstellung, Wachzustand und Traum, Stillstand und Bewegung, "hier" und "drüben", Tod und Leben, Gut und Böse wird der Leser durchgehend auf Trab gehalten und muss sein Bild der jeweiligen Welt ständig anpassen und verändern. Dadurch werden Szenen, in denen sich die Welten treffen zwar sehr anstrengend zu lesen, da sich die Überlappungen der Wirklichkeiten und Dimensionen schwer vorstellen lassen - wunderbare Beschreibungen, Vergleiche und Gedankenkonstrukte erleichtern hier aber die Imagination. Dass Lukas Hainer hier zum Beispiel auf Stephen Hawkings Theorien zurückgreift und immer wieder verschiedene, greifbare Beispiele anbietet, half mir sehr, einen Überblick zu bewahren und mich nicht zwischen den Welten zu verlieren. Auch abseits dieser Beschreibungen versteht es Lukas Hainer meisterlich, uns seine Geschichte durch atmosphärische Stimmungsbilder erlebbar zu machen. Sein Schreibstil ist plastisch, authentisch und an einigen Stellen fast ein wenig poetisch. Dabei werden unschöne Details -Waffen, Blut, Schmerzen, Kotze, Opfer - keineswegs ausgespart, weshalb diese Geschichte trotz der im Schnitt sehr jungen Protagonisten kein Kinderbuch ist!!! Szenen wie eine Eskalation in einem Drogenhaus, blutrünstige Schlägereien zwischen linken Hausbesetzern und rechten Schlägern, Horror-Alpträume oder kaltblütige Morde an unschuldigen Menschen machen diese Geschichte düsterer als für die Altersgruppe ab 14 Jahren üblich während für jüngere Leser auch der relativ komplizierte Weltenaufbau eine Schwierigkeit darstellen könnte.
"Denk an Eric", flüsterte das Gift ihrem eingetrübten Bewusstsein zu, "du hast es verdient, zu sterben, nachdem, was du getan hast.
Denk an Ben: Warum solltest du leben und er nicht?
Denk an Kyle: das wimmernde Häuflein Mensch, das du verabscheut hast und das für dich gestorben ist.
Denk an das dunkle Herz und lass alle Hoffnung fahren.
Denk an das dunkle Herz und stirb."
Auch in Sachen Protagonisten ist diese Fortsetzung eine immense Steigerung zum ersten Versuch. Nach der schieren Masse an Protagonisten in Band 1, die alle kurz angerissen werden aber keinerlei Tiefe besitzen, findet hier eine deutliche Reduktion auf wenige statt, in die wir dann aber einen tieferen Einblick bekommen. Zwar kommen Kyle, Poppin, Lev, Enzo, Jelena, Arthur, Chloé, Kalil, Connor, Ruth und die kleineren Kinder noch am Rande vor, jedoch haben nur Álvaro, Sinan, Maik, Elif und Eric wirklich im weitesten Sinn etwas mit der Handlung zu tun. Für die Innensicht in Gefühle und Gedanken sorgt wieder die personalen Erzählperspektive, die sich deutlich Anna in den Fokus nimmt, aber ab und zu auch zu anderen Protagonisten wechselt. In Band 1 konnte ich leider nur eine recht lose Verbindung zu Anna und Nick aufbauen doch zusammen mit der Handlung werden hier auch die Protagonisten mehrdimensionaler und ich konnte mich immer besser mit den beiden identifizieren. Ihre feste Überzeugung, die Welt vor dem dunklen Herzen zu beschützen, ihr Glaube an das Gute im Menschen, ihre Willensstärke, ihr Durchhaltevermögen und ihr Vertrauen in sich selbst haben mich sehr berührt, sodass ich großzügig darüber hinwegsehen konnte, dass es in der Tat ein wenig unrealistisch ist, dass die beiden Minderjährigen um die Welt fliegen, überall problemlos Englisch sprechen und ihr Leben aufs Spiel setzen. Auch die angedichtete Liebesgeschichte zwischen Anna und Nick empfand ich als ziemlich unnötig. Natürlich wächst das Vertrauen und es entsteht bei all den traumatischen Erfahrungen, die sie gemeinsam machen, eine tiefe Verbindung, aber warum immer romantische Liebe entstehen muss, weiß ich nicht.
"Forschung zum Klimawandel war gut, solange sie nicht Aktienkursen und Arbeitsplätzen im Weg stand. Mit christlichen Werten schmückte man sich gerne, bis die Flüchtlinge im eigenen Land ankamen, und der Tierschutz war so lange gut, bis er zu höheren Preisen im Supermarkt führte"
Was mich darüber hinaus noch sehr beeindruckt hat, ist dass der Autor es geschafft hat, seinem Mystery-Abenteuer noch eine sozialkritische, hochaktuelle Dimension zu geben. Er streut Anspielungen auf aktuelle Konfliktherde wie die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien, die wachsende Diktatur in der Türkei oder die Spannungen zwischen Links und Rechts gekonnt in die Handlung ein und lässt auch aktuelle Debatten um Flüchtlinge, den Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeiten mit einfließen. Unsere Welt kommt hier mal wieder nicht besonders gut weg und der Mensch ist sich wieder einmal selbst der größte Feind. Habgier, Machtstreben, Unterdrückung, Gewalt, Hass, Angst, Ignoranz und Gleichgültigkeit bieten einen gelungenen Nährboden für das dunkle Herz und so wird am Ende klar, dass der effektivste Weg um das Böse zu bekämpfen, der Kampf gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt ist, welchem sich die Protagonisten am Ende widmen wollen. So wird der Geschichte noch eine anrührende Message hinten angestellt, die mich ebenfalls sehr beeindruckt hat.
"Sie wollte nicht mehr mit Waffen kämpfen und auch nicht mehr um ihr Leben rennen (…). Als Racheengel, Feuer mit Feuer bekämpfend und eine Spur des Todes hinterlassend. Sie litt so sehr darunter, dass sie Peter nicht mehr Zuversicht hatte geben können, weil es in dieser Welt keine für ihn gegeben hatte. Sie wollte das nicht hinnehme. Und auch nicht, dass Not zu Fremdenhass statt Solidarität und Gewalttaten zu Spaltung statt Zusammenhalt führten. Es war möglich, etwas dagegen zu tun."
Der Showdown gegen Ende ist ein wenig chaotisch und ein einziges Durcheinander der zwei Welten aber durch schnelle Sprünge, die Enthüllung bedeutungsschwerer Geheimnissen, die Verantwortung, die Welt zu retten und wundervolle Beschreibungen definitiv ein würdiger Abschluss. Mit einem herzergreifenden, tragischen Epilog wird die Geschichte dann beendet und ich kann nur anerkennend nicken angesichts der Richtung, in die sich die Geschichte weiterentwickelt und mehr Tiefe dazugewonnen hat. Das hätte ich niemals erwartet!
Zum Schluss noch ein (etwas aus dem Zusammenhang gerissenes) Zitat, das ich auf mehrdeutige Art und Weise schön finde:
"Das Kind entscheidet über das Wesen der Welt. Immer das Kind."
Fazit:
Dieser Finalband zerrt alles, was Band 1 verpasst und ignoriert hat, ans Licht und komplettiert die Geschichte zu einem mehrdimensionalen, komplexen Epos, welcher mit einem rasanten Wechsel verschiedener Schauorte, innerer und äußerer Konflikte und spezieller Erzählperspektiven, atmosphärischen Stimmungsbilder und einer sozialkritischen, hochaktuellen Dimension beeindruckt. Intelligent, mitreißend, berührend und erschreckend - definitiv kein Kinderbuch