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Veröffentlicht am 18.04.2019

Onkel Willis letzte Reise

Rückwärtswalzer
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„Wir haben gelernt, dass man nicht jedem jede Geschichte erzählen kann. Manche Geschichten sind dafür da, dass man sie allen erzählt. Andere dafür, dass man sie nur mit wenigen ausgewählten Menschen teilt.“


Inhalt


Lorenz ...

„Wir haben gelernt, dass man nicht jedem jede Geschichte erzählen kann. Manche Geschichten sind dafür da, dass man sie allen erzählt. Andere dafür, dass man sie nur mit wenigen ausgewählten Menschen teilt.“


Inhalt


Lorenz Prischinger wird von seinen Tanten mit einer ebenso schwierigen wie verantwortungsvollen Aufgabe betreut. Er soll seinen toten Onkel Willi zusammen mit den drei alten Damen von Wien nach Montenegro bringen, damit Willi dort seine letzte Ruhestädte findet, so wie er es sich zu Lebzeiten gewünscht hat. Als einziges Transportmittel kommt nur das Auto in Frage, da allen Prischingers das Geld für eine offizielle Überführung des Leichnams fehlt. Nach anfänglichen Zweifeln bleibt dem jungen Mann, der selbst gerade eine schwierige Lebensphase durchmacht, nichts weiter übrig als sich den Wünschen seiner drei beherzten Tanten zu beugen. Und gemeinsam erleben sie auf einer gut 12 stündigen Fahrt allerlei turbulente Vorkommnisse und ganz nebenbei führen sie tiefgreifende Gespräche über ihr Leben, die Vergangenheit und erfüllte oder verschobene Lebenswünsche. Onkel Willis letzte Reise setzt ihm ein Denkmal, ist Totenwache und Familienrat gleichermaßen und bestärkt die Prischingers in ihrem seit Kindertagen geltenden Motto: „Niemand wird zurückgelassen.“


Meinung


Dies war mein erster Roman aus der Feder der österreichischen Autorin Vea Kaiser, die mit ihren anderen Werken „Blasmusikpop“ und „Makarionissi“ bereits Bestseller landete. Die vielen positiven Lesermeinungen haben mich darin bestärkt, nun endlich mal ein Buch der Jungautorin kennenzulernen.


Und tatsächlich, der Roman verspricht eine unterhaltsame Geschichte, einen abenteuerlustigen Roadtrip und letztlich ein unvergessliches Familienepos und kann all das irgendwie auch bieten. Das große Plus dieser Erzählung ist nicht unbedingt der Humor, obwohl auch dieser nicht fehlt, nein es sind die warmherzigen Charakterbeschreibungen mehrerer Familienmitglieder, die hier alle gleichberechtigt und authentisch zu Wort kommen und die trotz ihrer Macken und Fehler, immer beherzte Entscheidungen treffen und sich mit den Konsequenzen arrangieren. Dieses sehr genau Bild gelingt durch ein stilistisches Mittel noch besser, denn abgesehen von der Gegenwartshandlung in einem beengten Panda mit einer gefrorenen Leiche auf dem Beifahrersitz, entführt Vea Kaiser den Leser in die Vergangenheit der jeweiligen Protagonisten.


So lernt man die älteste Schwester Mirl kennen, die sich mit dem dicken Gottfried einen echten Schürzenjäger als Mann zulegt, dessen Bauch als Beamter ebenso schnell wächst, wie als hungriger Ehemann. Die mittlere Schwester Wetti, die immer sehr präsent ihr Wissen kundgibt und sich für die Natur und ihre Entwicklung weit mehr interessiert als für Liebesgeplänkel und letztlich die jüngste Hedi, die sich mit Willi als Ehemann glücklich schätzt, sich aber doch nicht immer verstanden fühlte und auch den ein oder anderen Fehltritt zu Lebzeiten zu verantworten hat.


Tatsächlich haben mir die eher ernsthaften Ausflüge in die Familiengeschichte weit besser gefallen als die skurrilen Begebenheiten der „Leichenfahrt“, dort waren mir stellenweise die Handlung und die Vorkommnisse etwas zu dick aufgetragen und nicht mehr ganz so lustig wie beabsichtigt, obwohl es natürlich ein erfundener Roman mit einem bewusst gewählten Szenario ist, hätte ich mir an dieser Stelle eine etwas realistischere Ausführung gewünscht.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für einen sehr unterhaltsamen, humorvollen Roman voller Empathie und kleiner liebenswerter Anekdoten, der in seinem Gesamtbild eine unverwechselbare, einprägsame Familiengeschichte erzählt, die einem ans Herz wächst. Die Reise wird nur zum Anlass genommen, um die eigentliche durch Jahrzehnte reichende Lebenswelt der Familie Prischinger lebendig werden zu lassen. Ein Buch, welches unter der Hand an das Verständnis des Lesers appelliert, an die Möglichkeit trotz verschiedener Lebenswege einen intakten Zusammenhalt zu wahren und sich nicht davor zu verstecken, zu den eigenen Fehlern zu stehen, aber anderen diese ebenso großmütig zu verzeihen. Empfehlenswert ist das Buch für alle engagierten, lebensbejahenden Menschen, die sich gerne auf eine kleine Reise zu den Herzen anderer Menschen begeben möchten. Vielleicht nehmen sie sogar ein Stück Kuchen mit, für ihr eigenes Leben – denn auch darin sind sich die Prischingers einig: mit Essen wird alles etwas leichter.

Veröffentlicht am 31.03.2019

Die unerschütterliche Verbindlichkeit einer Beziehung

Der Wald
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„Sie hat schon zu viel verloren und weiß, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Alles, was wir wirklich wissen, ist das, was der gegenwärtige Moment enthält. Sie muss sich selbst vor der Zukunft schützen ...

„Sie hat schon zu viel verloren und weiß, dass es keine Sicherheit mehr gibt. Alles, was wir wirklich wissen, ist das, was der gegenwärtige Moment enthält. Sie muss sich selbst vor der Zukunft schützen und vor dem, was sie am Ende bringen könnte.“


Inhalt


Pawel wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen in Warschau auf und ist durchaus privilegiert, was Bildung und Wohnort anbelangt, doch der Krieg rückt immer näher, der Vater ist im Widerstand gegen den Nationalsozialismus unterwegs, die Mutter und Großmutter rücken zusammen, der Junge merkt, dass sein heiles Leben jeden Moment auseinanderbrechen könnte. Als sein Vater Karol schließlich einen schwer verletzen britischen Soldaten mit nach Hause bringt, hoffen sie nur noch auf das Glück, nicht entdeckt zu werden und als Vaterlandsverräter hingestellt zu werden. Doch bald bleibt ihnen kein Ausweg mehr: Pawel und seine Mutter Zofia, die er abgöttisch liebt, müssen gemeinsam in einer Scheune leben, verborgen im Wald, während Karol immer wieder abtaucht und sie vor der Öffentlichkeit versteckt. Viele Jahre später, der Krieg ist längst vorüber, leben Mutter und Sohn in Großbritannien und immer noch verbindet sie ein gemeinsamer Erfahrungsschatz. Doch so sehr sie sich auch bemühen, die Verbindlichkeit und Verpflichtung, die ihre enge Beziehung geprägt hat, wird nun erneut auf eine harte Probe gestellt.


Meinung


Nachdem ich im bereits „Die Farbe von Milch“ der englischen Autorin Nell Leyshon gelesen habe, war ich sehr gespannt auf den neuen Roman aus ihrer Feder, zumal mich hier sowohl der Schauplatz als auch die Hintergründe des Krieges, die dieses Buch verspricht, sehr angesprochen haben. Mir hat es auch um einiges besser gefallen, als der Vorgänger, obwohl sich beide Geschichten nur schwer miteinander vergleichen lassen und auch im Schreibstil nicht erkenntlich ist, dass sie von ein und derselben Person verfasst wurden.


Grundlegend unterteilt Nell Leyshon ihr Buch in drei große Abschnitte, die Zeit während des Krieges, in der sich die Familie Palinski noch in ihrem häuslichen Umfeld aufhält, die Zeit im Wald, die sich auf das Überleben einer Kleinstgruppe konzentriert und letztlich die Gestaltung der Gegenwart mit verdrehten Rollen, denn nun ist die Mutter gealtert und auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen. Während mir die ersten beiden Abschnitte richtig gut gefallen haben, nimmt der letzte einen doch entscheidenden Stellenwert ein, entfernt sich aber sehr von der ursprünglichen Geschichte. Die Gegenwartshandlung hat dann auch nicht meine Erwartungshaltung an das Buch erfüllt und bietet wenig Parallelen zum Titel und der Ausgangssituation.


Das Hauptaugenmerk dieser Geschichte beruht auf der Betrachtung einer Mutter-Sohn-Beziehung, die sich nicht nur auf eine bestimmte Lebensperiode konzentriert sondern sehr detailliert und umfassend die Gefühle der Beteiligten aufgreift und sich mit den Veränderungen innerhalb des Gefüges und der Zeit beschäftigt. Dabei wechselt auch das Verständnis des Lesers für die Emotionen der beiden Hauptprotagonisten. Während in Pawels Kindheit ersichtlich wird, dass sich der Sohn noch viel mehr um die Liebe seiner Mutter bemüht hat, diese aber nur partiell dazu im Stande war, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen, zeigt sich, das in Pawels Erwachsenenleben nach wie vor eine Kluft zwischen den mütterlichen Bedürfnisse und denen des Sohnes klafft. Fast scheint es, als ob beide Parteien einander mehr Verantwortungsgefühl schenken als wahre Zuneigung und dieser Umstand erfüllt mich doch mit einer gewissen Traurigkeit, die allerdings mit dem Kriegsausbruch und seinen Folgen überhaupt nichts zu tun hat.


Der Schreibstil ist sehr unaufgeregt, eher still und eindringlich. Er verbreitet keine Dramen, keinen übertriebenen Aktionismus, sondern vielmehr die Entwicklung zweier Charaktere, die beide Kinder ihrer Zeit sind, die sich binden und lösen müssen, Hoffnungen begraben und Träume nicht verwirklichen können. Doch auch die neue Zeit bringt Herausforderungen, denen nicht jeder in gleichem Maße gewachsen ist.


Die Schwermut einerseits und der Wille zur Herausforderung andererseits sind auf jeder Seite spürbar, das macht die Erzählung sehr einheitlich und wirkungsvoll. Und obwohl die Distanz zwischen den echten Gefühlen und den erfolgten Taten doch sehr groß ist, empfinde ich diesen Roman auch als eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Thematik unerschütterlicher Verbindlichkeiten zwischen Kindern und Eltern. Füreinander da sein, sich um den anderen bemühen, aufeinander zugehen, miteinander entscheiden – alles ist möglich, wenn die Beteiligten auch einmal von ihren höchstpersönlichen Wünschen zurücktreten, um allen ein erträglichen Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Nell Leyshon bringt diese Kluft zwischen den egoistischen Wünschen eines Individuums und den auf Liebe basierenden Verzicht für einen anderen Menschen direkt und schnörkellos auf den Punkt. Auch wenn wir nicht alles verwirklichen können, was wir uns wünschen, so bleibt doch die Möglichkeit miteinander einen Teil des Weges zu gehen.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen nachdenklich stimmenden Roman über Mütter, Söhne und den Verlauf des Lebens ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten Einzelner. Die versprochene Geschichte habe ich aber nicht ganz gefunden, gerade die Episode des Krieges kam mir eindeutig zu kurz und scheint nur der äußere Rahmen zu sein, da habe ich mir im Vorfeld mehr historische Gegebenheiten erhofft. Empfehlenswert ist dieser zeitgenössische Roman für Leser, die sich mit einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht auseinandersetzen möchten und die Einblicke in Eltern-Kind-Beziehungen wünschen. Zum Nachdenken regt das Buch an – besonders in Hinblick auf den Umgang mit Menschlichkeit, Verantwortung und Selbstverwirklichung. Mir hat es gut gefallen.

Veröffentlicht am 21.03.2019

Die Freiheit der leibeigenen Frau

Der Report der Magd
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„Es gibt mehr als nur eine Form von Freiheit, sagte Tante Lydia, Freiheit zu und Freiheit von. In den Tagen der Anarchie war es Freiheit zu. Jetzt bekommt ihr die Freiheit von. Unterschätzt sie nicht.“


Inhalt


Desfred ...

„Es gibt mehr als nur eine Form von Freiheit, sagte Tante Lydia, Freiheit zu und Freiheit von. In den Tagen der Anarchie war es Freiheit zu. Jetzt bekommt ihr die Freiheit von. Unterschätzt sie nicht.“


Inhalt


Desfred trägt wie Ihresgleichen nur auffallend rote Kleider und einen Schutzschirm um ihren Kopf. Sie ist die Dienerin des Kommandanten und bekommt die ehrenvolle Aufgabe, ihm ein Kind zu schenken, denn Nachwuchs ist das Fundament, auf dem der totalitäre fiktive Staat Gilead aufgebaut ist. Alle Frauen bekommen innerhalb der Gesellschaft eine Rolle zugeteilt und erfüllen entsprechend dieser ihre Pflichten und nutzen ihre Rechte. Alternativen gibt es keine, denn entweder man gliedert sich ein oder wird verbannt bzw. hingerichtet. Desfred lebt nun mit der Frau des Kommandanten Serena Joy und seinen Dienstboten in einem Haushalt und wartet auf ihre Befruchtung, erfolgt in einem streng reglementierten Geschlechtsakt unter Anwesenheit der Ehefrau. Doch ungeachtet der Vergangenheit, in der sie einen eigenen Namen hatte, einen eigenen Mann und eine Tochter, fügt sie sich in ihr Schicksal. Doch die Männer, die nun an ihrer Seite sind, wollen ebenso wie sie ein bisschen mehr Freiheit als ihnen zugestanden wird. So unternimmt Desfred in Anwesenheit des Kommandanten verbotene Ausflüge in elitäre Clubs und trifft sich heimlich mit dem Dienstboten Nick, der ihr nun endlich ein Kind machen soll, welches sie an die Ehefrau Serena abgeben muss, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein gesundes Baby.


Meinung


Dieser Roman aus der Feder der aus Kanada stammenden Autorin Margaret Atwood hat nach seinem Erscheinen 1985 bereits für Furore gesorgt und zählt mittlerweile schon zu den Klassikern, die man gelesen haben sollte. Die Autorin selbst bezeichnet ihren Roman als spekulative Fiktion, die durchaus irgendwann zur Realität werden könnte. Beeindruckend wird die Geschichte aber weniger auf Grund der geschilderten Handlungen in einem totalitären Staat, davon gibt es zahlreiche ebenso gute Ideen und schriftstellerische Umsetzungen, sondern durch die Reflexion der Protagonistin, die hier ganz klar ein Vorher-Nachher-Szenario aufzeichnet, dessen Handlungen und Folgen sich erst nach und nach für den Leser offenbaren.


Zunächst bin ich mit dem Erzählstil nicht so richtig warm geworden, weil man eben nur Bruchstücke aus der Vergangenheit und Gegenwart erfährt – ein für mich mühseliges Unterfangen, weil einerseits nicht viel passiert, andererseits aber sämtliche Voraussetzungen für den Aufbau der Republik in Nebensätzen verpackt sind. Dieses Vorgehen fand ich für den Lesefluss insgesamt nicht vorteilhaft, manches bleibt eher bruchstückhaft und wenig greifbar. Zwar erfährt man schlussendlich sämtliche Hintergründe, doch dafür muss man wirklich genau lesen und sich in den Staat Gilead „eindenken“. Der Wechsel zwischen den Voraussetzungen und dem täglichen Leben erfolgt dann wieder abrupt und etwas ungelenk.


Doch nachdem ich mich in die Geschichte eingelebt hatte, entfaltet sich ein schockierendes, umfassendes Bild über die Thematik der Unterdrückung, die Kunst der Akzeptanz, der Wille zu Überleben und ganz allgemein die Frage, in wie weit kann der Einzelne einen derartigen Überwachungsapparat unterwandern und ihn zu seinen Gunsten lenken. Letztlich ist es eben doch keine reine Dystopie, sondern hat viele Parallelen zur Realität, wenn auch nicht bis ins letzte Detail. Doch der Grundtenor der staatlichen Reglementierung, der Überwachung und des abgeschafften Rechtssystems ist sehr glaubwürdig und lebensecht beschrieben. Der bleibende Eindruck, den dieser Roman hinterlässt, basiert auch auf der starken Protagonistin Desfred, die letztlich alles verloren hat, was ihr wichtig war und die nun gezwungen ist, sich anzupassen, selbst wenn ihr Bewusstsein dafür enorm geschärft und aufmerksam geworden ist. Letztlich bleibt sie nur eine Marionette im großen Spiel, die alles ertragen muss und was noch viel schlimmer ist, sie ist nur eine von Tausenden.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für eine schriftstellerische Leistung, die so vielschichtig und nahbar die Schrecken eines aus den Fugen geratenen Regimes vermittelt, dass man als Leser unweigerlich in den Bann des Geschehens gezogen wird. Ungeachtet der Tatsache, dass mich weder der Schreibstil noch die Lebensumstände der Personen wirklich gefangen genommen haben, so liegt der Mehrwert in den sich anschließenden Gedankengängen, die sich unweigerlich einstellen, wenn man versucht den Menschen hinter der Rolle wahrzunehmen. Die Faszination liegt hier im Detail, dort verbirgt sich auch eine tiefe Psychologie der menschlichen Seele, eine ungeahnte Milde gegenüber der Entwicklung und die verborgene Kraft im Herzen einer Frau. Wäre der Erzählstil geradliniger und die Zusammenhänge schneller greifbar gewesen, hätte ich sicherlich noch mehr Freude am Lesen gehabt, so schafft es dieses Buch für mich nicht ganz in die Top-Liga.

Veröffentlicht am 19.03.2019

Die Rache des Ikarus

Abendruh
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„Abendruh. Sie dachte an die dunklen Wälder, in denen die Weidenbäume mit blutigem Schmuck behängt waren. An ein Schloss, dessen Bewohner von den Geistern der Vergangenheit geplagt wurden und die alle ...

„Abendruh. Sie dachte an die dunklen Wälder, in denen die Weidenbäume mit blutigem Schmuck behängt waren. An ein Schloss, dessen Bewohner von den Geistern der Vergangenheit geplagt wurden und die alle im Schatten der Gewalt lebten.“


Inhalt


Das Internat Abendruh in Maine ist ein ganz besonderer Ort, denn alle Schüler und auch die Lehrer haben eine Gemeinsamkeit: sie sind den blutigen Schrecken von Mord und Totschlag im nächsten Familienkreis begegnet und wurden allesamt traumatisiert. Nun haben sie sich in die Abgeschiedenheit eines alten Schlosses zurückgezogen und versuchen nicht nur ihren Alltag zu meistern, sondern sich auch gegenseitig zu unterstützen. Drei Schüler jedoch haben unter den Sonderlingen noch eine weitere grausame Erfahrung gemacht: Sie selbst sind gleich zweimal dem Täter entkommen, zuerst bei der Ermordung der eigenen Eltern und schließlich bei der Hinrichtung ihrer Pflegefamilien. Irgendjemand scheint es ganz explizit auf Teddy, Claire und Will abgesehen zu haben. Allerdings stammen sie aus vollkommen verschiedenen Bundesstaaten, sind sich nie begegnet und haben auch keine gemeinsamen Bekannten.

Jane Rizzoli und Maura Isles sind dennoch davon überzeugt, dass diese Kinder hochgradig in Gefahr schweben, vor allem, weil sie ein möglicher Täter nun auf dem Präsentierteller vorgeführt bekommt - gemeinsam vereint an einer Schule. Als sich eine der Lehrerinnen aus dem Fenster stürzt und dabei ums Leben kommt, wird immer deutlicher wovor sich alle fürchten: Das Böse hat auch in Abendruh Einzug gehalten und wartet nur auf die günstige Gelegenheit, begonnene Taten zu vollenden.


Meinung


Auch in ihrem 10. Band der Rizzoli-Isles-Reihe verliert die amerikanische Bestsellerautorin Tess Gerritsen nicht an Unterhaltungswert und verdient sich das Prädikat gute Spannungsliteratur. Diesmal wählt sie für ihre Verbrechen als Schauplatz ein altes Schloss, welches als Schule für traumatisierte Jugendliche eingerichtet wurde. Tatsächlich geht es auch weniger um die Verbrechen der Gegenwart als vielmehr um eine ominöse Verbindung zwischen drei Familien, die angeblich keinerlei Berührungspunkte haben.

Die Schüler selbst wollen herausfinden, welche dunkle Macht sie bedroht und stellen eigene Recherchen an, denn ihre Akten bieten zu wenig Beweismaterial. Auf einem alten Foto entdecken sie schließlich eine mögliche Verbindung, die sie zurück nach Rom führt in eine Zeit, in der jeweils eines ihrer Elternteile auf einer gemeinsamen Party war. Doch nach wie vor fehlt das entscheidende Puzzleteilchen. Als einzige Überlebende ihrer Familientragödien wollen sie dem Spuk nun ein Ende bereiten, doch keiner von ihnen hätte gedacht, welche Ausmaße die Verfolgung annimmt. Auch Maura Isles und Jane Rizzoli erkennen viel zu spät, wer Freund und Feind ist …

Dieser Fall besticht weniger durch seine Hochspannung und auch die Tötungsdelikte selbst nehmen einen geringeren Stellenwert ein. Stattdessen konzentriert sich die Autorin auf die Vergangenheit dreier Schüler und zieht den Leser nach und nach in eine Geschichte voller Verrat, Betrug und Rachsucht hinein. Dabei kommt besonders die Verbindung zwischen „alten Bekannten“ und „neuen Gesichtern“ zur Geltung. Als Fan dieser Reihe fühlt man sich mittlerweile regelrecht heimisch mit den Protagonisten und auch mit den gut integrierten Randfiguren, die immer wieder auftauchen und deren Vergangenheit man ebenfalls schon kennt. Für mich ist dieser Teil der Reihe fast schon ein Heimspiel, ungeachtet der Tatsache, dass die Auflösung des Falls nicht unbedingt meinen Geschmack trifft und mit viel Effekthascherei daherkommt.

Ich glaube, diese Serie verfolge ich weniger wegen der Morde und ihrer Auflösung, sondern vielmehr, weil ich wissen will, wie sich die Dinge bei Rizzoli und Isles entwickeln. Meist verlieren lange Kriminalreihen ihren Glanz, weil das Privatleben der Ermittler förmlich in Endlosschleife wiederholt wird und manche Sätze stets ein zweites Mal auftauchen. Hier ist es anders, die Hintergrundgeschichte bleibt spannend und bekommt mit jedem neuen Band eine klitzekleine Wendung, die erst im nächsten Buch wieder aufgegriffen wird.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen soliden Spannungsroman, dessen Mehrwert für mich nicht im Detail liegt, sondern auf dem Fortgang der Gesamterzählung. Demnach empfehle ich ihn in erster Linie den Fans dieser Reihe, die bereits vorangegangene Fälle kennen und sich mit den Protagonisten identifizieren können. Ein altes, gruseliges Schloss als Handlungsort für das Böse und seine weitreichenden Tentakel hat aber auch was … selbst für Neulinge.

Veröffentlicht am 19.03.2019

Wo hast du nur mein Leben lang gesteckt?

Die einzige Geschichte
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„Wenn wir von einer neuen Beziehung hören, neigen wir alle dazu, sie in eine bereits bestehende Kategorie einzuordnen. Wir sehen das, was daran allgemein oder üblich ist; dagegen sehen – fühlen – die Beteiligten ...

„Wenn wir von einer neuen Beziehung hören, neigen wir alle dazu, sie in eine bereits bestehende Kategorie einzuordnen. Wir sehen das, was daran allgemein oder üblich ist; dagegen sehen – fühlen – die Beteiligten nur das, was anders und besonders ist.“


Inhalt


Paul Roberts erinnert sich an seine erste Liebe, die er im Tennisclub kennengelernt hat. Ihr Name war Susan und sie hatte 30 Jahre mehr Lebenserfahrung als er. Doch ungeachtet der Tatsache, dass sie verheiratet und Mutter zweier erwachsener Töchter ist, beginnen die beiden eine Affäre. Aber mehr noch, es ist nicht der Sex und das schnelle Abenteuer, was sie suchen, sondern die echte, aufrichtige Liebe. Als Susan nach zwei Jahren ihren Mann verlässt, um mit dem jungen Paul in eine eigene Wohnung zu ziehen, könnte man meinen sie haben es geschafft, allen Konventionen zu trotzen und sind nun frei und voller Leben, um sich auf die gemeinsame Partnerschaft zu freuen. Doch während Paul Jura studiert, sitzt Susan zu Hause und neben ihr die Flasche Alkohol, mit der sie sich betäubt …


Meinung


Paul muss schmerzlich erkennen, das der Feind seiner Liebe nicht die gesellschaftliche Ächtung ist und auch nicht der Bruch mit Freunden und Familie, sondern das die Gefahr im Inneren lauert und mit vernichtender Kraft ihre Wirkung zeigt – erst im Alter söhnt er sich mit all dem aus und erzählt sie hier, diese einmalige Geschichte seines Lebens, an die kein anderes Ereignis jemals herangereicht hat.

Auf dieses Buch aus der Feder des englischen Erfolgsautors Julian Barnes war ich sehr gespannt, zum einen weil ich bereits seinen Roman „Vom Ende einer Geschichte“ gelesen habe und zum anderen, weil mich die hier angedeutete Beziehung mit einem Paar, dessen Manko ein großer Altersunterschied ist, sofort und nachhaltig an meine eigene Geschichte erinnert hat. Zu gern wollte ich erfahren, was die Anforderungen dieser Beziehung über viele Jahre hinweg sind und wie die Protagonisten damit umgehen. Doch schon nach kurzer Zeit wird klar, dass sich der Autor auf ein ganz anderes Problem konzentriert und die Dramatik, die in der Tatsache zweier aufeinanderprallender Generationen liegt, bleibt dabei weitestgehend auf der Strecke. Meinen ursprünglichen Erwartungen entspricht dieses Buch deswegen nicht.

Trotzdem ist es eine aufrüttelnde, philosophische Geschichte über die Liebe, die Außenstehende nur schwer verstehen können und letztlich über das Leben selbst, denn Paul, nun mittlerweile ein reifer Mann erinnert sich an die Anfänge, an die Euphorie ebenso wie an den folgenden Schmerz, die Ohnmacht und die lebenslange Frage nach der Schuld und seinem Anteil daran.

Literarisch gliedert sich der Text in drei Teile, die sich wesentlich voneinander unterscheiden, indem zwar immer Paul der Erzähler ist, sich aber die Distanz zwischen ihm und seinem Leben mit Susan weiter manifestiert, indem er vom verbindenden „ich“ zum neutralen „du“ und letztlich zum resümierendem „er“ wechselt. Dadurch wird die Reifung des Protagonisten nachhaltig und beeindruckend sichtbar, vor allem für den Leser, der mit dem „jungen Paul“ nur wenig Gemeinsamkeiten hat aber auch für die, die den „alten Paul“ nicht recht verstehen. Es ist eine Aufarbeitung und ein Aussöhnen mit einem gelebten Leben und einer gescheiterten Liebe.

Inhaltlich scheut sich der Autor vor keiner Wahrheit, ganz im Gegenteil. Das Hinterfragende, die Suche nach der Wahrheit, die vielen Rückschläge und das ewige Auf und Ab der Geschichte bilden die Basis dieses Textes. Um daran Gefallen zu finden, muss man sich als Leser zurücknehmen, manches zweimal lesen und versuchen hinter der offenkundigen Entwicklung die tieferen Ursachen zu erkennen. Das macht diesen Roman aber ungemein einprägsam und sorgt dafür, dass man sich tief und nachhaltig mit dem Thema auseinandersetzt, die verschiedenen Möglichkeiten abwägt und seine eigenen Aspekte und Erfahrungen zu Rate zieht. Dieses Einbeziehen des Lesers in den fiktiven Text, macht eindeutig die Kunst eines guten Schriftstellers aus, ohne Wertung ohne Vorwurf und noch nicht einmal um Akzeptanz bittend erzählt Paul aus seinem Leben mit Susan und später ohne sie.

Susan selbst, die tragische Figur an Pauls Seite, wirkt nur durch seine Beschreibungen, mehr aus zweiter Hand als durch tatsächliches in Erscheinung treten. Trotzdem gelingt es ein ausgewogenes, differenziertes Bild auch von ihrer Person wahrzunehmen. Einer Frau, die unter einer jahrelangen, lieblosen, gewalttätigen Ehe gelitten hat und der es erst durch Paul möglich war, noch einmal, wenn auch nur kurz aus ihrer Lethargie zu erwachen. Und so stellt sie ihm die in Erinnerung gebliebene Frage, wo er nur ihr Lebtag lang gesteckt hat und das wiederrum nimmt man ihr ab. Wer sucht ihn nicht, den Partner, der alles zum Strahlen bringt mit seiner bloßen Anwesenheit?


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen zeitgenössischen, belletristischen Roman, der jedem Leser die ganz persönliche Frage stellt, ob es besser ist, mehr zu lieben und damit auch mehr zu leiden oder ob es erträglicher scheint weniger zu lieben und damit weniger zu leiden. Melancholisch, stellenweise sehr traurig und letztlich versöhnlich erleben wir hier die Geschichte einer einmaligen Liebe, die ihre Spuren hinterlassen hat. Ich vergebe eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die gern hinter die Fassade schauen und sich mit den wichtigen Fragen des Lebens auseinandersetzen möchten. Ein intensives, prägendes Lesevergnügen, mit viel Raum zum Interpretieren. Ein Buch, bei dem man auch nach mehrmaligem Lesen immer noch etwas neues entdecken kann, nur nicht unbedingt die Antwort auf die Frage, warum ein 19-Jähriger und eine 48-Jährige miteinander ihr Glück versucht haben.