Ich fange einmal anders herum an. Nele Neuhaus hat sich in vielerlei Weise aus meiner Sicht geradezu fabelhaft neu erfunden. Dafür hatte ich anderer Stelle das Gefühl, noch nicht die Endfassung erhalten zu haben. Wie? Nun, erst einmal das, was positiv auffiel. Es gibt wieder viel "Personal" - aber so geschickt nacheinander vorgestellt, dass ich dieses Mal keine Diagramme gezeichnet habe wie sonst immer. Um das einzuordnen: Ich mag die Reihe, bin aber kein Hardcore-Fan (das bin ich bei Krimis für Agatha Christie und Elizabeth George; die Reihe um Bodenstein und Kirchhoff/Sander mag ich hingegen schlicht gern. Aber selbst bei Christie und George mag ich nicht alles - mein Hirn schalte ich auch nicht ab, wenn ich etwas mag). Die Bilder, die Nele Neuhaus im aktuellen Band verwendet, findet ich sehr einleuchtend - da wird der Mann mit Schnauzbart und Halbglatze mit der Optik eines Walrosses beschrieben, und sofort habe ich ein Bild vor mir, weil damit die Bartform völlig klar ist. Dazu jongliert die Autorin deutlich mit den gängigen Abkürzungen, wie sie auch die echten Ermittler nutzen würden, für Datenbank, Abteilungen und so weiter. Die Erklärung kommt als Fußnote - das passt. Ihre Recherche ist auch spürbar zum Thema IT oder Flughafenbetrieb. Etliches geht ins Detail, von Wachsleichen bis hin zum Profiling, mir gefiel das alles sehr. Auch wenn ich jetzt beim Besuch auf dem Friedhof nie wieder glauben darf, dass die abgesackte Erde durch die Arbeit der Würmer gekommen wäre. Immerhin war es warm... (ein Insider, das erklärt sich bei Henning Kirchhoffs Arbeit). Dazu war es diesmal nicht so heftig Matrioschka-mäßig mit einem Fall in einem Fall neben einem Fall...
Ich mag die Reihe gerne, hatte aber immer wieder mal so das eine oder andere auszusetzen. Das hier fand ich dagegen richtig top. Das Privatleben der Ermittler war dafür dieses Mal etwas weniger prominent - vermutlich könnte hier auch ein "Einsteiger" bei diesem neunten Band der Reihe mithalten.
Und meine negative Bemerkung bezieht sich darauf, dass ich Schludrigkeiten in Wiederholungsform gefunden habe, die ich so vorher bei Neuhaus nie gesehen habe. Sie dankt ihrer einfühlsamen Lektorin...die vielleicht zu wenig Zeit hatte?? Beispiel S. 70, über die Beziehung der Geschister Kim und Pia: "Ihre letzte Begegnung mit Kim lag ziemlich genau vier Monate zurück. Es war an Weihnachten gewesen, als sie sich iam ersten Feiertag bei ihren Eltern zum Mittagessen getroffen hatten. Danach hatte Kim auf keine Nachricht von Pia reagiert, nicht einmal auf ihre guten Wünsche zum neuen Jahr. Zwar hatte sich Kim nach ihrem heftigen Streit vor drei Jahren bei Pia entschuldigt,..." - wie: vor vier Monaten? Vor drei Jahren? Schon klar, verschiedene Ereignisse, aber irgendwie hier zusammen nur verwirrend.
Oder S. 83 " ...und dabei wurde ihr klar, dass sie wohl niemals auf die Leichen gestoßen wären, wenn nicht irgendjemand den Hund in den Zwinger gesperrt hätte." und dazu S. 84 "Wir hätten die Leichen nie gefunden, wenn nicht jemand den Hund in den Zwinger gesperrt hätte", sagte Pia..." Ja, schon klar - im 'echten Leben' denke ich auch gelegentlich über etwas nach, was ich dann sage, oder sage es mehrfach - in einem Buch jedoch ist das überflüssig, vor allem, wenn es mir mehrfach begegnet.
Ach ja, die Handlung... Pia Sander wird zu einem vermeintlichen Routinefall gerufen, als ein älterer Herr durch seine aufmerksame Zeitungsfrau tot im eigenen Heim durchs Fenster erspäht wird. Bei der Suche nach seinem verschwundenen Hund wird dieser halb verhungert in einem Zwinger gefunden. Doch was neben dem Hund liegt, entpuppt sich als menschliche Knochen. Viele Knochen.
Und woher stammen die Kopfverletzungen des Toten? Zum Glück hatte sich die kleine Tochter der Nachbarn angefreundet mit "Opa Theo" und weiß daher von Anrufen und Berufen der "Erbschleicher" und "Matratze des Ortes" - herrlich, Kindermund tut Wahrheit kund.
Immer neue Erkenntnisse lassen Pia Sander und ihren Chef Oliver von Bodenstein mit den Kollegen bald in einen Abgrund blicken, der mit dem lieblosen Umgang mit Pflegekindern, von dem keiner etwas gewusst haben wollte, begann.
Fazit: insgesamt gefällt mir die empfunden neue/professionellere Ausrichtung von Nele Neuhaus sehr gut: mehr Hintergrundwissen, besserer Einsatz der Sprache, geschickteres Vorstellen der Personen. Weiterhin (das gilt nicht nur für Neuhaus) mag ich diese Kapitel nicht, in denen der Täter schrittweise Einblick in seine Gedankenwelt gibt - ich finde das immer etwas albern, da im realen Leben kaum jemand so tiefe Einsichten zu einem Täter gewinnen können dürfte; es scheint aber etwas zu sein, "was man halt so schreibt", naja. Überhaupt nicht glücklich war ich über die Schludrigkeiten, die ich so in einem Neuhaus-Krimi nicht kannte - das halte ich aber zu einem größeren Anteil für die Zuständigkeit des Lektorats. Ich bin verunsichert zur Bewertung - den generell besseren Stil würde ich mit 5+ bewerten, die Schludrigkeiten mit 3-4 ... ich lasse noch Milde walten. Die Autorin hat nicht selbst lektoriert.