Poetisch, tiefgründig und echt, aber nicht ganz rund
Die Ostsee – auch wenn ich noch nie dort oben an der Küste war, verkörpert sie für mich gleichzeitig Freiheit, aber auch irgendwie Schwermut. Weil eigentlich nur die trüben Tage sind, wenn sie in den Nachrichten ...
Die Ostsee – auch wenn ich noch nie dort oben an der Küste war, verkörpert sie für mich gleichzeitig Freiheit, aber auch irgendwie Schwermut. Weil eigentlich nur die trüben Tage sind, wenn sie in den Nachrichten ist, weil man immer dann von ihr spricht, wenn sie von schweren Unwettern und Stürmen heimgesucht wird. Und weil sie an allen anderen Tagen als so unbescholten und friedlich gilt, dass sie manchmal ganz aus dem öffentlichen Interesse verschwindet.
Auch aus Nelas Interesse und ihrem Herzen ist eines der wohl schönsten Gebiete auf deutschem Boden verschwunden, obwohl sie im hohen Nordosten aufgewachsen ist und das Meer mit all seiner Wild- und Freiheit einst sehr geliebt hat. Dieser Umstand hat einen schwerwiegenden Grund, der in „Dein fremdes Herz“ von Katharina Seck aufgedeckt wird. Auf behutsame, gleichzeitig sehr intensive Art und Weise.
Nela Harolds ist eine junge Frau, die als Rechtsanwaltsgehilfin in einer Nürnberger Kanzlei arbeitet. Und leider auch für sie, nur für sie. Es erreichen sie, die als sehr unsicher zu beschreiben ist, zu Beginn des Buches Briefe einer Frau, die eng mit ihr und damit auch ihrer Vergangenheit verbunden ist. Briefe, die alles verändern werden. Briefe, die Nela zurück ans Meer, an die Ostsee katapultieren werden. Weil sie erfährt, dass das Herz ihres Vaters, der sie als kleines Mädchen verlassen hat, in einem anderen Menschen schlägt.
Es wird eine sehr liebenswürdige, gleichzeitig nachdenkliche und in sich gekehrte, einsame und stoische junge Frau vorgestellt, die in Bildern denkt und kaum lebt, weil ihr mit dem für sie unerklärlichen Verlust ihres Vaters etwas widerfahren ist, das zwar schon lange her ist, sie aber nie losgelassen hat. Sich mit Nela zu identifizieren fällt nicht schwer, wird doch schon bald ein Teil ihrer Familiengeschichte offengelegt, der trauriger und eindrücklicher nicht sein könnte. Gemeinsam mit ihr beginnt eine Reise in ihre Vergangenheit, die schon bald auch ihre Gegenwart wird. Aus dem fremden Meer wird wieder ein Vertrauter – auch wenn ihr Vater, mit dem sie die Liebe zu ihm teilte, nicht mehr da ist und Nela dieser Umstand nach Jahren des Verdrängens an der rauen Küste so richtig bewusst wird. Das Meer, das die Autorin als Kulisse für ihre Geschichte wählt, könnte dabei nicht passender sein. Es werden Geheimnisse gelüftet, Anstöße zur Heilung gegeben – und Nela lernt, wieder zu atmen.
Sowohl Nela, als auch die anderen beschriebenen Charaktere haben es leider nicht geschafft, dass ich ihre Handlungen vollkommen nachvollziehen konnte; dass sie schlüssig waren für mich und ich schon einige Zeilen vorher wusste, was sie tun oder sagen würden. Hier hat es meinem Empfinden nach leider vor allem an einer Beschreibung der Charaktere gefehlt, die nicht zu oberflächlich und themenbezogen bleibt und ein größeres Bild von ihnen zeichnet, als es im Buch geschieht. Gerade weil sie alle trotz ihrer Vergangenheit leben – oder es eben nicht tun – hätte es eine tiefergehende Beschreibung ihrer Lebensumstände, Meinungen und Lebensweisen gebraucht, die nicht nur auf ihre Verwicklung in das Thema des Buches abzielt. Weil Menschen nun mal nicht nur aufgrund eines Ereignisses, einer Geschichte in ihrem Leben so sind, wie sie sind. Ich tat mich sehr schwer damit, die wenigen „Fetzen“ in meinem Kopf zu schlüssigen Charakteren zu formen, deren Handlungen Sinn ergaben, obgleich ich mich gerade in den einführenden Kapiteln sehr mit Nela identifizieren konnte. Ebenso erging es mir infolgedessen mit den sich entspinnenden Beziehungen der Charaktere untereinander. Es mangelte für meinen Geschmack leider an der Einsicht in andere Charaktere, deren Handlungen und Überzeugungen ich allein durch die Beschreibungen, die in Bezug auf sie getroffen wurden, oft nicht verstanden habe. Für mich war die Verbindung der Charaktere untereinander ein wenig zu überhastet, erzwungen und gemessen an der Länge des Buches „zu viel des Guten“, weil sich ein wenig zu sehr bereits viel zu oft gelesenen Figuren bedient wurde und sämtliche der Charaktere gerade aufgrund mangelhafter Beschreibungen gedanklich in eine Rolle gedrängt werden konnten, die man bereits hier und da und manchmal auch oft gelesen, gehört oder gesehen hat und nicht wirklich zumindest der Versuch unternommen wurde, diese Rollen aufzubrechen. Jeder der Charaktere trägt gewisse Schatten der Vergangenheit mit sich – in der Handlungsgegenwart verschwanden für mich nicht alle, sodass ich leider finde, dass diese beiden Teile in manchen Beziehungen zu wenig miteinander verwoben wurden.
Die Handlung der Geschichte war an manchen Punkten – ähnlich wie die Charaktere selbst – ein wenig zu voraussehbar, als dass ich von mir behaupten könnte, vollkommen ans Buch gefesselt worden zu sein. Es sind bei dieser Einschätzung die vielzitierten Kleinigkeiten, die man gar nicht so ganz in Worte fassen kann. Eine der Kleinigkeiten, die ich allerdings benennen kann, ist etwas, das ich gleichzeitig in die Spalte meiner positiven Punkte packen möchte: der bildhafte Schreibstil. Leider empfand ich ihn, soviel sei gesagt, bevor ich einige weitere Gedanken dazu aufschreiben möchte, an manchen Stellen nicht der Dynamik der Situation angepasst. Wo schnelles Mitdenken gefordert war, weil gerade etwas Einschneidendes von einer gewissen Schnelligkeit passierte, wurde das leider hier und da durch zu langatmige, ausführliche Beschreibungen von Umgebung und Gedanken verhindert oder zumindest erschwert. Ebenso war da an manchen Stellen, an denen sich Nelas Denken und Handeln merklich veränderten, kein überspringender Funke bei mir - warum sich bestimmte Dynamiken veränderten, blieb mir des Öfteren verborgen, weil Dinge vom einen auf den anderen Moment anders beschrieben wurden – ohne jegliche Erklärung. Die Verwandlung, die gerade Nela an der Ostsee durchmacht, wurde zwar offensichtlich – das Warum jedoch oftmals nicht. Mir fielen während des Lesens leider darüber hinaus leider mehrere Logikfehler in der Handlung auf, die ich in den richtigen Kontext setzen und als das sehen kann, was sie sind: kleine Unebenheiten, über die man hinweglesen kann; nichtsdestotrotz stolperte ich leider mehrmals über sie, darunter beispielsweise, dass sich ein Protagonist ins Gras zu einem anderen setzte, dieser allerdings einige Zeilen zuvor als auf einer Bank sitzend beschrieben wurde.
Ich kannte, bevor ich „Dein fremdes Herz“ gelesen habe, kein Buch von Katharina Seck – und deshalb war ich auch nicht mit dem wunderschönen, behutsam-poetischen Schreibstil vertraut, zu dem ich mir schon in den ersten Kapiteln des Buches notiert hatte, dass die Autorin für mich die Meisterin des „Nichtschreibens“ ist. Sie erzählt in Bildern, sehr alltagsnahen Bildern, die Worte lebendig machen. Über ihre Sätze muss man manchmal einen Moment länger nachdenken, als man das vielleicht üblicherweise tut, weil man ihre vollkommene Bedeutung erst erfassen muss – lässt man sich allerdings auf das ein, was da steht; begreift man es, wird man mitten in die Geschehnisse hineinkatapultiert. Dann hat man die Chance, die Handlung aus nächster Nähe mitzuerleben, ein Teil von ihr zu sein. Katharina Secks Schreibstil ist in diesem Sinne gar kein Schreibstil, sondern ein Erzählstil. Auch, weil ihre Formulierungen nicht ins „Schriftdeutsche“ gehen, sondern stattdessen lebensnah sind und echt, situationsgetreu und authentisch. Daraus hervor gehen zahlreiche Sätze, die viel(e) Wahrheit(en) enthalten und leise, schöne Momente des Innehaltens hervorrufen. Das Innehalten – wer „Dein fremdes Herz“ liest, wird immer wieder sanft aber präzise dazu ermuntert.
Besonders schön fand ich die Briefe, die Nela erhält und liest. Sie unterscheiden sich deutlich von der Erzählweise der eigentlichen Handlungskapitel, die aus ihrer Sicht verfasst sind. Mit ihnen wurde parallel zur eigentlichen Handlung eine weitere Geschichte erzählt und das so intensiv, so präsent, dass der Bruch zwischen ihnen und der eigentlichen Haupthandlung nahezu körperlich schmerzte. Für mich ein äußerst gelungenes Mittel der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart im Buch – gerade weil so viel Schmerz zwischen den Geschehnissen lag.
Weiterhin gefiel mir gut, wie wenig die Aspekte der Organspende beschönigt wurden. Man hätte „Dein fremdes Herz“ auch auf eine andere Weise schreiben können, aus einer anderen Sicht heraus. Das haben schon zu viele (Drehbuch-)Autoren getan. Da hätten die Fortschritte der Medizin gelobpreist werden können, dass man dank ihr Leben retten konnte. In „Dein fremdes Herz“ geht es allerdings um den Schmerz, der sich wie Fremde anfühlt, um das unmittelbare Davor und das Okay?, das immer in Verbindung mit der Entscheidung zur Organspende steht. Die Autorin schafft es, diesem für den Großteil der Bevölkerung surrealen Gefühl, dem Zwiespalt und der Dunkelheit Farben und Worte zu geben. Obwohl ich schon während des Buches nicht vollkommen überzeugt davon war, hatte ich an vielen Stellen einen dicken Kloß im Hals, der sich binnen weniger Sekunden immer wieder aufs Neue in pure Dankbarkeit wandelte, (noch) nicht in einer derartigen Situation gewesen zu sein.
Katharina Seck vermittelt mit ihrem Buch viele Botschaften, die sie in fast kostbare Sätze zu verpacken weiß – die wichtigste ist allerdings eine, die nahezu ins „Floskeltum“ übergegangen ist, die schon zu oft gehört wurde und trotzdem nicht oft genug gesagt werden kann: wir sollten dankbar sein. Für alles, aber gerade für unser Leben, das wild sein kann und manchmal so trügerisch friedlich ist. Wie das Meer, das uns vielleicht gerade deswegen so gut tut.
„Dein fremdes Herz“ ist ein leises, poetisches und gefühlvolles Buch, das die Brisanz, die emotionale Schmerzhaftigkeit und Tragik von Organspenden thematisiert und dabei aufrüttelt und gleichzeitig dankbar macht für das Leben, das jeder von uns nicht als ein sich selbst Fremder, sondern aus vollstem Herzen leben sollte. Leider gelingt es nicht, die schwierige Konstellation der Protagonisten zueinander so zu beschreiben und aufzulösen, dass die besondere Tiefe ihrer gemeinsamen Geschichte in der Vergangenheit ihren gegenwärtigen Fortgang findet und vollkommen rund wird. Nichtsdestotrotz kann man sich in Katharina Secks Schreibstil verlieren und Stunden „verlesen“. Und träumen. Und dankbar sein.
Ich durfte „Dein fremdes Herz“ innerhalb einer Leserunde lesen. :)